Windstärke 12 über Holland

Rezensiert von Lutz Bunk |
1953 versanken vier Provinzen der Niederlande in der bis dahin größten Sturmflut Europas. Die bekannteste Autorin der Niederlande. Margriet de Moor, hat vor dem Hintergrund dieser Katastrophe einen Bestseller geschrieben, der das Schicksal zweier Schwestern in den Fluten beschreibt. Der Roman ist jetzt als Hörbuch herausgekommen.
"Auf diesem Dachboden wartete man auf etwas, was mit einem fragwürdigen, aber nicht unrichtigen Wort als Erlösung bezeichnet wird. Ja, die Geburt sehr nahe nun erhielt Priorität vor dem Sturm. Der Muttermund hatte sich vollständig geöffnet, der Kopf des Kindes war ausgetreten und senkte sich durch den Beckenausgang nach unten. Von den Umstehenden am Bett war Lidy diejenige, die sich am meisten mit dem Geschehen befasste. Mit der Klarheit eines Menschen, der völlig übermüdet ist, stellt sie fest, dass die Schreie des Todes und des Gebärens einander ähneln, sich einander ähneln und verdeutlichen."

Die Flut steigt. Sie alle werden ertrinken, diese handvoll Menschen auf diesem Dachboden, - die anderen, das Neugeborene und auch Lidy. 1. Februar 1953, Hollands Deiche sind gebrochen, die Sturmflut tötet 1836 Menschen, einer davon ist Lidy. Noch zwei Tage vorher war sie zu Haus, in Sicherheit.

"Die eine, Lidy, stand am Fenster und schaute hinaus. Es war einer dieser Morgen mitten im Winter, wenn es gerade hell wird und der Sturm der vergangenen Nacht nicht mehr behaglich ist, sondern quengelig und nervend. Sie hielt ihre kleine Tochter auf dem Arm, den Mantel hatte sie bereits zugeköpft. Dass der ganze Plan nicht von ihr stammte, sondern von Armanda, spielte keine Rolle. In diesem Moment dachte sie nur, ich habe Lust mal wieder Auto zu fahren. Kümmere du dich, Armanda, heute und morgen um meine Tochter und gehe heute Abend zur Fete deiner Freundin, die zufällig seine Halbschwester ist. Wenn ihr jemand gesagt hätte, dass sie, Nadja fest im Arm, alles noch einmal ansehen solle, weil ihr Abschied ein Abschied für immer war, hätte sie im Innersten gewusst, dass so etwas immer möglich ist im Leben, aber sie hätte es nicht geglaubt. Sie war schließlich erst 23."

So beginnen der Roman wie das Hörbuch: "Sturmflut" von Margriet de Moor, zurzeit die erfolgreichste Autorin in den Niederlanden. "Sturmflut" ist die Geschichte zweier Schwestern, Lidy und Armanda. Armanda ist Lidys jüngere Schwester und interessiert sich für Lidys Ehemann. Also überredet Armanda Lidy, jenen Ausflug in das spätere Überflutungsgebiet zu machen, auf dem Lidy stirbt. Schnell erzählt.

Für den Leser des Buches wie für den Hörer des Hörbuchs aber beginnt eine traumatische Odyssee, ein Maelstrom. Konsequent spaltet Margriet de Moor die Handlung und das Zeitempfinden, gleichberechtigt schildert sie Armandas verpfuschtes Leben bis zu deren Tod, und gleichzeitig erleben wir auch Lidys letzte 48 Stunden. Einmal treffen die beiden sich noch, am Ende, in einem fiktiven Gespräch in einem Altersheim, Armanda räsoniert.

"Dass ich mich unbeweglich auf dem Diwan sitzend frage, was das eigentlich ist: Leben. Du bist wirklich miesepetrig nicht? Miesepetrig, miesepetrig, ich sitze, ich schaue, ich esse. Ich gebe zu, dass ich den Duft von Brot noch immer wunderbar finde, noch immer haust eine hinterlistige Erkenntnis in mir, die mir vorhält, die Wirklichkeit sei eine begehrenswerte Sache.

Ich treibe jetzt unter der Wasseroberfläche, was eigentlich viel bequemer ist als über dem Wasser, auf einem elenden Floß. Es ist verrückt, solange man sich an ein Stück Holz klammert, klammert man sich auch an die Fragen über das Leben. Der Sturm steckt in meinem System, seine Stöße sind meine Erinnerungen, durch Erfahrung klug geworden, weiß ich, zum Schluss bist du wirklich nicht mehr du selbst, sondern bestehst nur noch aus dem, was um dich herum ist."

Nach Lidys Tod heiratet Armanda deren Mann, wird Mutter von Lidys Tochter, lebt also eine Art Stellvertreterleben, bürgerlich, mäßig glücklich bis zur Scheidung, während Lidy um jeden Atemzug kämpft.

In prächtige wie schlichte Worte gefasst, rührt "Sturmflut" an Ur-Fragen, an Schuld, Glück und an Theodor Adornos "tat twam asi", "was wäre, wenn ich Du wäre?". Grandios in Szene gesetzt vor der größten Flutkatastrophe, die Europa je erlebt hat, ein Nerven zerreißender Thriller und ein literarisches Meisterwerk, kongenial gesprochen von Marlen Diekhoff. Ihre wandlungsfähige Stimme berührt, macht sie eine Pause, hört man den Orkan mit Windstärke 12 über Holland heulen.

"Der Sturm peitschte das Wasser unablässig von Norden her auf. Lidy lag halb auf der linken Seite, das Gesicht auf dem einen Arm, die Beine gespreizt, Füße seitlich abgewinkelt. Ihr kleines Boot, das weder Motor noch Ruder besaß, hatte der Strömung und dem Wind gehorchend, ohne zu zögern, Kurs auf die Osterschelde genommen, die direkt in die Nordsee führt. Sie zitterte unaufhörlich, hatte schon längst keine Bewusstheit mehr, sich zu fragen, wer sie war, sagte in ihrem Herzen aber noch leise: hier, ich bin hier."

Margriet de Moor: "Sturmflut"
Hörbuch-Fassung gesprochen von Marlen Diekhoff
Hörbuch Verlag Hamburg 2006
5 CD, 388 Minuten, 29.90 €.

Der gleichnamige Roman ist im Hanser Verlag erschienen.