Kritikpunkt 1: Europäische Vorgaben für den Trassenbau werden verschleiert.
Braucht die Energiewende die Stromtrassen wirklich?
30:28 Minuten
Der Streit um Höchstspannungsleitungen geht quer durch Deutschland: Ist die Energiewende nur mit diese Trassen zu schaffen - oder gibt es Alternativen? Selbst die ökologischen Akteure sind in dieser Frage gespalten.
An einem Dienstagmorgen im September 2019 stören zwei Dutzend Protestierende die Ruhe des fränkischen Kurorts Bad Kissingen. Sie stehen in gelben Warnwesten und mit Protestschildern in der Auffahrt zum sogenannten Regentenbau, um gegen den ihrer Meinung nach überdimensionierten bundesweiten Bau von Stromtrassen zu protestieren: "Wir fordern einen Energie-Entwicklungsplan, der von Wirtschaft und Bevölkerung akzeptiert werden kann."
Im Saal wird gleich eine Veranstaltung der Bundesnetzagentur beginnen, bei der Einwendungen gegen die geplante Stromtrasse Südlink besprochen werden können. Draußen ergreift Edo Günther das Megafon, Vorsitzender der Kreisgruppe Schweinfurt des Bund Naturschutz. Er nennt diesen Termin eine Pseudo-Bürgerbeteiligung und eine Farce.
Er sei schon mehrmals bei solchen Veranstaltungen dabei gewesen, das bringe aber nichts. "Ich bin hier her gekommen, um meinen Protest zu äußern, aber nicht, um da reinzugehen. Weil es sinnlos ist", sagt er.
Proteste entlang der Trasse
Gerade auch ökologisch orientierte Menschen protestieren seit 2014 gegen Stromtrassen, die offiziell vor allem dem Transport von Ökostrom dienen sollen. "Windstrom für den Süden" lautet das Schlagwort, mit dem mehrere Bundesregierungen die teuren Großprojekte rechtfertigt haben.
Zwei Leitungen sollen nach Bayern gebaut werden – angeblich wegen der süddeutschen Versorgungslücke nach dem Abschalten aller Atomkraftwerke. Der sogenannte Südostlink soll Strom aus Sachsen-Anhalt durchs östliche Bayern bis in die Nähe von Landshut bringen. Der sogenannte Südlink soll aus der Nähe von Hamburg ziemlich gerade die Republik runter bis ins nordwestliche Bayern führen, zum ehemaligen Atomkraftwerk Grafenrheinfeld.
Südlink betrifft den Landkreis Bad Kissingen. Deshalb findet hier eine der offiziellen Informationsveranstaltungen statt. Sie dauert zwei ganze Tage.
"Gegenstand dieses Verfahrens, und damit auch dieses Erörterungstermins, ist ausschließlich die Festlegung des räumlichen Verlaufs eines Trassenkorridors, aber nicht die Frage der Notwendigkeit an sich." Der Hauptmoderator weist zu Beginn darauf hin, dass es hier nicht um allgemeine Fragen der Energiewende gehe. Schließlich sei die Notwendigkeit dieser Trasse vom Bundestag per Gesetz bestätigt worden.
Einige der rund hundert Anwesenden lassen es sich aber nicht nehmen, den zwei Handvoll Abgesandten der Bundesnetzagentur und der beiden Netzfirmen Tennet und Transnet BW, die auf der großen Bühne sitzen, ihren generellen Unmut vorzutragen. Besondere Auftritte am Saalmikrofon legen im Lauf des ersten Tages immer wieder Mitglieder der Initiative "Bergrheinfeld sagt Nein" hin.
Grantige Franken äußern ihren Unmut
Sie kommen aus dem Dorf neben dem stillgelegten Atomkraftwerk Grafenrheinfeld und kritisieren außer der Bundesnetzagentur auch die Netzfirma Tennet, die den Südlink über weite Strecken baut. Initiativensprecher Norbert Kolb und der Landwirt Armin Wahler zeigen den angereisten Bediensteten der Stromnetzbranche, was ein grantiger Franke ist.
"Wir sind von Tennet angelogen worden. Und wenn ich angelogen sage, dann ist das so", sagt der eine.
Und der andere: "Sie haben zu uns gesagt: Sie brauchen dieses Umspannwerk für die Energiewende. Wir haben gesagt: Wir wollen der Energiewende nicht im Wege stehen, der stehen wir auch heute nicht – dann ist das unser Beitrag. Und vier Wochen später haben Sie uns den Südlink präsentiert. Wir sind enttäuscht von der Firma Tennet. Wir sprechen immer wieder von Scheibchentaktik, Salamitaktik."
Am folgenden Tag ergreift Bergrheinfelds Bürgermeister Ulrich Werner das Wort und bezeichnet das Vorgehen vor allem der Bundesnetzagentur als demokratiegefährdend. Er kritisiert, dass die Behörde nur nach und nach das volle Ausmaß der Betroffenheit der Gemeinde offenbart habe. Bergrheinfeld sei schon stark mit verschiedenen Stromleitungen und den dazugehörigen Masten belastet.
Für ein neues Umspannwerk und den für Südlink nötigen Konverter habe Tennet 37 Hektar Land vorgesehen, die vor allem der Landwirtschaft verloren gingen und so auch die Bodenpreise in die Höhe trieben, sagt Bürgermeister Werner auf Anfrage. Er ist sowohl Mitglied der CSU, als auch der Bürgerinitiative, die sich für eine dezentrale Energiewende einsetzt und den Südlink prinzipiell ablehnt.
Schäden durch den Trassenbau
Wegen der Proteste seit 2014 sollen die Stromleitungen unterirdisch verlegt werden. Für die Bauarbeiten wird ein mindestens 40 Meter breiter Streifen benötigt. Danach nehmen die Trassen weniger Raum ein, aber die Schneisen in die Wälder sind dann geschlagen, und wie sich Ackerboden von den Strapazen erholt, ist umstritten. Die Netzfirmen sagen, dass wissenschaftliche Versuche und bisherige Erdkabelverlegungen keine großen Probleme für die Landwirtschaft gezeigt hätten. Bayerische Fachleute, etwa vom Bauernverband, sind dennoch alarmiert und argumentieren mit regionalen Besonderheiten wie niedrigen Temperaturen und trockenen Böden, wegen denen sie um die Ernten fürchten.
Wer sich in Bayern umschaut, kann vielerorts auf Widerstand treffen. 40 Initiativen haben sich dem Bündnis gegen den Südostlink angeschlossen. Aber auch die öffentliche Hand ist oft engagiert.
"Diese Stromtrassen haben null Wertschöpfung für die Region", sagt beispielsweise Harald Hillebrand vom Landkreis Regensburg. "In dem Moment, wo einer Solarzellen baut, wo einer ein Windrad baut vor Ort, ist er gewerbesteuerpflichtig, das heißt, davon profitieren die Kindergärten, die Schulen, die Infrastrukturen, und das fällt halt mit Stromtrassen komplett weg."
Die Regionen profitieren nicht von der Trasse
Südlink und Südostlink werden nämlich mit einer relativ neuen Technik gebaut: Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung, HGÜ. Sie eignet sich für den Transport von besonders viel Strom über besonders lange Strecken, da im Vergleich zu einer Wechselstromleitung sehr wenig Strom verloren geht. Der Nachteil: Es gibt auf der gesamten Strecke keine Abzweigung.
Die Regionen, durch die so eine Trasse führt, haben also nichts davon. Im Landkreis Regensburg seien 11 von 41 Gemeinden von der Trasse betroffen, und keine von ihnen wolle sie haben, erklärt Hillebrand. Eine davon ist die Gemeinde Brennberg.
Deren Bürgermeisterin Irmgard Sauerer ist aus mehreren Gründen gegen die Trasse: "Wir sind ein Naherholungsort für den Landkreis Regensburg. Bei uns wird viel gewandert. Der Strukturwandel findet statt: Die Bauern, die früher noch ihre Viecher hatten, und ihre Milchkühe, die entwickeln sich hin zu Tourismus und Urlaub auf dem Bauernhof, stellen um auf Bio-Betrieb. Unsere Flächen, die man da durchschneidet, und die man wirklich entwertet, kann man sagen, das ist unsere Wirtschaftskraft, auf die wir setzen in der Zukunft."
Stromerzeugung vor Ort als Alternative
Die Erschließung von Brunnen für die Gemeinde würde durch die Trasse gefährdet, sagt Sauerer, die den "Freien Wählern" angehört. Sie weist zudem darauf hin, dass durch die Gemeinde bereits eine Hochspannungsleitung führt, die auch nach Errichtung des Südostlink bestehen bliebe. Brennberg brauche solche Stromleitungen aber gar nicht, denn in einem Wasserkraftwerk und mit Solaranlagen würde hier übers Jahr gerechnet 70 Prozent mehr Strom erzeugt, als die Gemeinde verbraucht.
Ähnlich äußert sich Boris Damzog in der Oberpfalz. Der Geschäftsführer des kommunalen Gemeinschaftsunternehmens Zukunftsenergie Nordoberpfalz setzt auf erneuerbare Energien und fordert andere Regionen auf, das auch zu tun.
"Ich bin der Meinung, wir brauchen diese Trassen nicht", sagt er, "weil wir mit einer guten Planung regional auf jeden Fall mit Biogas, Wasserkraft, PV, Wind, Powert-to-Gas die Masse unseres Energieverbrauches sicherstellen können."
Power-to-Gas bedeutet: Umwandlung überschüssigen Ökostroms, der nicht ins Netz eingespeist werden kann und heute massenhaft verloren geht, in Gas, das dann zum Beispiel zum Heizen benutzt werden kann. Damzog ist auch Vorstand einer Bürgerenergiegenossenschaft und SPD-Mitglied. Früher war er Bürgermeister der Gemeinde Störnstein, die vom Südostlink betroffen ist.
Nördlich der Oberpfalz, im Fichtelgebirge, ist Brigitte Artmann Stadt- und Kreisrätin für die Grünen. Sie hat es geschafft, dass der von der CSU dominierte Kreistag den Landrat beauftragt hat, beim Bundesverwaltungsgericht gegen den Südostlink vorzugehen – ein Sonderfall in der Trassenprotestszene.
Die dezentrale Energieversorgung der Zukunft sei ein großes Thema in der Region, sagt Artmann: "Der Landkreis Wunsiedel zum Beispiel ist intensiv beschäftigt, energieautark zu werden. Wir haben ja da die Stadtwerke Wunsiedel, die sich sehr stark damit beschäftigen, wir haben dann noch die Zukunftsenergie Fichtelgebirge, die Windräder gebaut haben. Das ist eine GmbH, Zusammenschluss der Kommunen. Wir haben ganz viele Personen, die auch gerne noch Windräder bauen wollen. Ich zum Beispiel bin gar nicht zum Zuge gekommen."
Wem nützen die Leitungen?
Dass die HGÜ-Leitungen der Energiewende dienen, wird also vielerorts in Bayern von einer kritischen Masse bezweifelt, unabhängig von der Parteizugehörigkeit. Es stellt sich tatsächlich die Frage, warum sich Bundesregierungen, die die Energiewende an vielen anderen Stellen bekämpft haben, so sehr für die milliardenteuren Trassen eingesetzt haben.
Seit Jahren lauten die vorgebrachten Begründungen: Erstens, der norddeutsche Windstrom muss in den Süden. Zweitens: Dafür sind diese neuartigen Trassen nötig. Doch diese Darstellung ist mehrfach angreifbar.
Windstrom für den Süden – für Andreas Ulbig ist diese Begründung für die deutschen HGÜ-Trassen unzureichend. "Das ist sicher ein schönes Bild für die Medien", sagt er, "aber Netzausbau findet aus ganz verschiedenen Gründen statt."
Ulbig ist Dozent für Stromnetze an der Technischen Hochschule Zürich. Der Elektrotechniker weist auf einen anderen politischen Grund hin: "Es gibt ja auch eine europäische Koordinierung dabei, und gerade die Projekte in Deutschland sind Teil dieser europäischen Koordinierung, dass man Stromhandel und Stromaustausch möglichst gut zwischen allen europäischen Regionen erreichen will.
Auch Ralph Lenkert glaubt nicht, dass Süd- und Südostlink vor allem wegen der Energiewende gebaut werden sollen: "Eine einzige Erklärung habe ich bisher gefunden, die den Leitungsausbau rechtfertigen. Das ist der Transitstrom."
Transitland für europäischen Stromhandel
Der umweltpolitische Sprecher der Linksfraktion im Bundestag kämpft seit Jahren gegen diese Trassen, da er sie im europäischen Stromhandel begründet sieht. Da ist Deutschland Transitland. Transit bedeutet, dass in einer bestimmten Stunde irgendwo Strom nach Deutschland fließt, und in derselben Stunde an anderer Stelle Strom Deutschland verlässt.
Laut dem Netzentwicklungsplan für 2030 werden Transite in, Zitat, "nahezu allen Stunden des Jahres" auftreten. Wie schon in Vorjahren soll da Strom aus Skandinavien und Osteuropa Richtung Südwesten geleitet werden.
"Sie müssen dazu wissen, dass eines der wichtigsten Ziele der europäischen Politik der europäische Strombinnenmarkt ist", sagt Fiete Wulff, Sprecher der Bundesnetzagentur. "Das ist ein wichtiges politisches Ziel der Europäischen Kommission, und das Ziel des EU-Binnenmarkts prägt auch das europäische Recht. Insofern ist es überhaupt nicht so, dass das Dinge sind, die wir hier in Deutschland allein entscheiden könnten."
Die große Trasse Südlink verläuft fernab jeglicher Staatsgrenze, ist aber ein offizielles Projekt im gemeinsamen Interesse der EU, weil sie das Transitpotenzial erhöht. Das Wirtschaftsministerium erklärt auf Anfrage, dass Deutschland die EU-Norm für Handelskapazitäten nicht erfüllt und deshalb eine Übergangsfrist bis 2025 beantragt hat, in der das deutsche Stromnetz entsprechend ausgebaut werden soll. Heute gibt es zu viele Handelshemmnisse durch Netzverstopfungen.
Wenn die EU-Norm nicht erfüllt wird, droht eine zwangsweise Aufspaltung des deutschen Netzes in zwei Preiszonen, wodurch dann der Strom im Süden teurer wäre. Das würde Netzverstopfungen reduzieren, doch die Bundesregierung will höhere Preise im Süden verhindern. Vor diesem Hintergrund erscheint das Beharren der Regierung auf den HGÜ-Trassen in einem anderen Licht.
Nach jahrelanger Verspätung soll Südlink 2026 funktionieren, und Südostlink noch Ende 2025. Das ist aber vor allem aufgrund von angekündigten Klagen gegen die Trassen unwahrscheinlich, selbst Netzagentursprecher Wulff nennt es ambitioniert.
Kritikpunkt 2: Es droht keine Versorgungslücke nach dem Abschalten der Atomkraftwerke.
Südlink und Südostlink werden nicht, wie ursprünglich geplant, Ersatz leisten, wenn 2022 das letzte deutsche Atomkraftwerk abgeschaltet wird, denn dann sind sie ja noch gar nicht verlegt. Ein Problem ist das nicht. Ein Versorgungsengpass droht vor allem bei einer sogenannten Dunkelflaute, also wenn weder Sonne noch Wind in nennenswertem Ausmaß für Strom sorgen.
"Das sind aber aus Netzsicht regelmäßig nicht die kritischen Situationen", sagt Netzagentursprecher Wulff. Sowohl das Wirtschaftsministerium als auch der europäische Verband der Netzbetreiberinnen trügen Sorge dafür, dass genügend Kraftwerksleistung zur Verfügung steht.
"Da stellen wir regelmäßig fest, dass wir genug Energieerzeugung in Deutschland haben", erklärt Fiete Wulff. "Aus Netzsicht ist die Dunkelflaute eher unkritisch. Kritisch für die Stromnetze ist dieses Starkwind-Starklast-Szenario, also hoher Verbrauch bei gleichzeitig hoher Winderzeugung, denn das führt zu Überlastungen im Stromnetz, weil der Strom, der in Süddeutschland gebraucht wird, aus dem Norden dorthin transportiert werden muss."
Das ist für Laien zunächst unverständlich. Genauer gesagt: Es erscheint geradezu widersinnig. Tage und Wochen mit kaum Wind- und Solarenergieeinspeisung sind für Deutschlands Stromversorgung eher kein Problem. Problematisch wird es in den Netzen, wenn viel Windstrom da ist! Und zwar wohlgemerkt nicht, wenn viel Windstrom auf wenig Strombedarf trifft, sondern wenn Angebot und Nachfrage beide hoch sind.
Die Erklärung dafür liefern weder Physik noch Netzstruktur, sondern das deutsche und europäische Strommarktmodell.
Kritikpunkt 3: Ein Markt auf einer Kupferplatte, die von der Allgemeinheit finanziert wird.
"So wie wir in Deutschland den Stromhandel betreiben, arbeiten wir mit der Prämisse, dass wir ein Marktmodell haben, das eine Kupferplatte annimmt, also Stromtransport ohne physikalische Engpässe", sagt Andreas Ulbig, der Stromnetzexperte aus Zürich.
Wenn an einem Punkt einer Kupferplatte Strom anliegt, hat sofort die ganze Platte Strom. Transport spielt keine Rolle, im Grunde gehen weder Zeit noch Strom verloren. Dieses theoretische Modell resultiert aus einer wirtschaftlichen Idee: Das deutsche Stromnetz soll eine einheitliche Preiszone sein.
Egal wo in Deutschland eine Stromhändlerin oder ein Großunternehmen Strom haben wollen, und egal wo dieser produziert wird, es sollen immer die gleichen Marktbedingungen sein. Der Preis soll nicht vom jeweils nötigen Transportweg abhängen.
Das Wirtschaftsministerium schreibt dazu auf Anfrage: "Die einheitliche Gebotszone hat den Vorteil, dass sich unabhängig vom Standort die kostengünstigsten Erzeugungstechnologien durchsetzen. Die Anlagen mit den geringsten Einsatzkosten werden überregional genutzt. Das senkt die Strombeschaffungskosten."
Den Stromtransport zahlen alle
Die Strombeschaffung ist aber vor allem deshalb billiger, weil die Transportkosten nicht einberechnet werden. Die Kosten für Stromtransport werden in Deutschland auf die Gesellschaft umgelegt. Jeder kann das an seiner Stromrechnung sehen, wo die Netzentgelte rund ein Viertel des Preises ausmachen.
Über die EEG-Umlage, mit der die Energiewende ein Stück weit finanziert werden soll, wird seit Jahren zum Teil erbittert gestritten. Sie war aber nie so hoch wie die Netzentgelte, die in letzter Zeit ergänzt werden durch einen Extra-Posten zur Finanzierung der Anschlüsse von Meereswindparks. Diese Kosten des Stromnetzausbaus für die Haushalte sind laut Bundesnetzagentur seit 2009 um ein Viertel gestiegen und die dritthöchsten Europas, ein Drittel über dem Durchschnitt. Sie werden wohl weiter steigen.
Dabei wird fast die Hälfte der Kosten des Ausbaus der überregionalen Netze, wie er 2017 geplant war, von Leitungen verursacht, die wie Südlink offizielle Projekte im gemeinsamen Interesse der EU sind. Das hat die Bundesregierung 2018 in der Antwort auf eine Anfrage der Linksfraktion eingeräumt.
Die Linke und die HGÜ-kritischen Basisinitiativen in Bayern kritisieren einen überbordenden Netzausbau. Sie sehen ihn auch im Niedrighalten der Großhandelspreise begründet. Davon profitieren Industriekundinnen, die sehr wenig Netzentgelte zahlen, in Extremfällen fast gar keine.
Die Kritik daran ist: Dieses Modell ist volkswirtschaftlich nicht optimal, weil nur die Stromerzeugungskosten minimiert werden, nicht die Gesamtkosten des Stromsystems. Das hat weitreichende Konsequenzen.
Marktsimulation soll Netzausbau begründen
So ist im aktuellen Netzentwicklungsplan an verschiedenen Stellen zu lesen: "Für die Stromnetzberechnung erfolgt innerhalb der deutschen Strompreiszone keine Handelsbeschränkung durch die innerdeutsche Netzkapazität. Es wird somit nicht explizit vorgegeben, welche Kapazitäten das Netz haben soll. Die Marktsimulation soll die Nachfrage nach Strom und deren Befriedigung durch den Markt abbilden und das dafür nötige Netz ermitteln."
Der Stromnetzausbau hängt also vom Marktgeschehen ab, und zwar dem europäischen. Marktsimulation bedeutet: Die Netzbetreiber berechnen mit großem Aufwand das gesamte Stromnetzgeschehen viele Jahre voraus. Ein wichtiger Faktor ist dabei, dass an der Strombörse auch auf kurzfristige Preissenkungen wegen eines gewachsenen Stromangebots reagiert werden kann.
Und genau das passiert im großen Maßstab. Seit Jahren weist der Wiesbadener Wirtschaftsprofessor Lorenz Jarass in Studien darauf hin, dass die deutschen HGÜ-Trassen vor allem vom Stromhandel erforderlich gemacht werden, nicht von einem Strommangel im Süden.
Der Mechanismus ist folgender: Meereswindparks produzieren sehr billig. Wenn dort nun besonders viel Wind weht, was sich eventuell schon am Vortag ankündigt, dann sinken die Preise an der Strombörse extrem, bisweilen sogar auf den Nullpunkt. Bei diesen billigen Preisen greifen Großkunden massiv zu, auch aus dem Ausland.
Dann ist also besonders viel Windstrom aus dem Norden im Netz, und er muss auch noch besonders weite Wege gehen, nämlich nicht nur bis Süddeutschland, sondern auch in südliche Nachbarländer und nach Italien. Das ist das erwähnte Starklast-Starkwind-Problem. Den offiziellen Berechnungen zufolge kommt dann bisweilen auch noch zusätzlicher Strom aus Skandinavien ins deutsche Netz, der ebenfalls gen Süden transportiert werden muss.
Sinn ergibt das nur unter dem herrschenden Marktdesign, das halb Europa nach billigem Windstrom von Nord- und Ostsee lechzen lässt. Nur so muss der Windstrom aus dem Norden in den Süden, anstatt in der nördlichen Hälfte Deutschlands verteilt, gespeichert oder in Gas umgewandelt zu werden, wo genug Bedarf dafür wäre.
Möglichkeiten der alternativen Netzplanung
Studien zu einer alternativen Netzplanung hat es in den letzten Jahren mehrere gegeben, sogar eine von der Netzbetreiberin Tennet selbst, die damit auf die massive Kritik reagierte. Auf solche Studien bezieht sich Werner Neumann gerne. Der Sprecher des Bundesarbeitskreises Energie beim Umweltschutzverband BUND meint, wie auch der Linke-Abgeordnete Lenkert, dass Berechnungen, die sich an den Szenarien der Bundesnetzagentur orientieren, nichts taugen, weil sie von den Vorgaben des Energiewirtschaftsgesetzes bestimmt sind.
Alternativen müssten gerade auch auf gesetzlicher Ebene angegangen werden, sagt er: "Man hätte auch ein Gesetz machen können: Vorrang für Bürgerenergie vor Ort. Der Strom, der in einer Region erzeugt und verbraucht wird, kriegt einen Vorrang und muss geringere Netzentgelte zahlen, weil er auch geringen Netzausbau hervorruft."
Die wirtschaftlichen Auswirkungen regionaler Strommärkte werden zwar in einigen Untersuchungen behandelt, aber die Materie ist schwierig. Konkrete Prognosen gibt es kaum. Trotzdem betreiben Neumann und sein BUND gemeinsam mit den bayerischen Basisinitiativen Fundamentalopposition gegen Südlink und Südostlink.
Weniger kritisch verhalten sich die meisten anderen Umweltverbände. Die Deutsche Umwelthilfe, Germanwatch, der Naturschutzbund NABU, der WWF und Greenpeace verlangen zum Beispiel mehr Transparenz bei der Netzplanung, sind aber nicht prinzipiell gegen die beiden umstritten Trassen nach Bayern. Auch die Partei Die Grünen und das Forschungsinstitut Agora Energiewende befürworten Südlink und Südostlink, weil sie sie für die volle Energiewende als nötig ansehen.
"Langfristig sind sie unabdingbar"
Reichlich Argumente für diesen Standpunkt liefert Felix Matthes. Er ist seit fast 30 Jahren Forschungskoordinator beim Öko-Institut. Das Öko-Institut habe auch schon besonders optimistische Szenarien des Zubaus der erneuerbaren Energien berechnet, sagt der studierte Starkstromingenieur und promovierte Politologe: "Die Studien, die wir hier machen, die sind am ambitionierten Rand dessen, was technisch möglich ist."
Seine Position im großen Stromtrassenstreit: "Ich würde mich nie darüber streiten, ob ein bestimmtes Leitungsprojekt drei Jahre früher oder später unabdingbar ist. Langfristig sind sie unabdingbar."
Den Trassenkritikern wirft Matthes vor, nicht weit genug in die Zukunft zu schauen. Die von ihnen kritisierten Berechnungen der Bundesnetzagentur beziehen sich auf 2030 und 2035. Danach aber, meint Matthes, würden sich die Kritikpunkte im Wesentlichen erledigen. Die Netze würden dann so viel Ökostrom transportieren müssen, dass nichts daran vorbeiführen werde, den rein kommerziell motivierten Stromhandel einzuschränken.
Der viele Ökostrom müsse nämlich dort produziert werden, wo die günstigsten Bedingungen herrschen – die Anlagen könnten nicht auf die ganze Republik verteilt stehen, denn Deutschland habe nicht genug Flächenpotenzial. Das habe er schon in verschiedenen Varianten durchgerechnet, auch mit Solaranlagen auf jedem Hausdach.
Auch die erwähnten Studien zu möglichen Alternativen kommen zu dem Schluss, dass eine Abkehr vom bestehenden Stromhandelssystem mit einem massiven Zubau von Wind- und Solarenergieanlagen in Süddeutschland und in Nordrhein-Westfalen einhergehen muss – also dort, wo besonders viel Strom verbraucht wird.
Niemand hält das für wahrscheinlich. Also muss es das riesige Potenzial des Meereswindes richten, meinen Felix Matthes, die meisten der großen Umweltschutzverbände und die Bundesnetzagentur. Und dafür sind Stromtrassen nötig.
Plädoyer für regionale Autarkie
Josef Hasler sieht das anders: "Die Ansätze des Öko-Instituts sind sicherlich sehr ernst zu nehmen. Der Punkt ist nur: Es geht um einen ganz anderen systemischen Ansatz, wie wir die Energiewende in unserem Land bewerkstelligen."
Hasler ist Vorstandsvorsitzender der Firma N-Ergie, die sich mit großem N, Bindestrich, schreibt. N-Ergie ist die Grundversorgerin in Nürnberg und betreibt auch in mehreren Gegenden im Umland die Energienetze. Die kommunale Firma hatte eine der erwähnten Alternativstudien zu regionaler Stromerzeugung und -vermarktung in Auftrag gegeben. Auf diese Erkenntnisse zu regionaler Autarkie stützt sich N-Ergie nun und verlangt unter anderem eine massiv erhöhte Ökostromerzeugung in Bayern statt des Baus der HGÜ-Trassen.
"Vor dem Hintergrund, dass diese Trassen ja zur Energiewende nichts beitragen, sondern ein ganz anderes Geschäftsmodell haben, nämlich den europäischen Energiehandel." Auch für die Versorgungssicherheit seien diese Leitungen nicht nötig, versichert Josef Hasler.
Er sieht alle Stadtwerke im Netzgebiet von N-Ergie in dieser Sache hinter sich. Als Chef einer kommunalen Firma argumentiert er auch mit dem öffentlichen Interesse und dem Problem der ständig steigenden Strompreise. Auch dazu hat N-Ergie etwas ausgerechnet.
"Wir stellen fest, dass durch den Ausbau der HGÜ-Netze Haushaltskunden im Jahr durchschnittlich 60 bis 80 Euro mehr an Übertragungsnetzkosten zu bezahlen haben – für ein Netz, das für den Haushaltskunden nicht relevant ist", sagt Josef Hasler.
Konflikt zwischen Metropolen und Peripherie
Gerade die besonders stromintensive Industrie, die davon am meisten profitiere, werde an den Kosten des Netzausbaus kaum beteiligt, hält Josef Hasler fest. Er schlägt vor, Ökostromüberschüsse im Norden in Gas umzuwandeln. Das Gasnetz ist der größte Energiespeicher, und erneuerbares Gas kann so ebenfalls über weite Strecken transportiert werden, um es zum Beispiel zum Heizen zu nutzen.
Felix Matthes vom Öko-Institut ist gegen diesen Ansatz. Zum einen hält er regionale Strommärkte für unrealistisch. Zum anderen meint er, dass Deutschland es sich langfristig nicht leisten könne, den dann knappen Ökostrom zum Teil in Gas umzuwandeln. Der Strom solle stattdessen auf die Republik verteilt werden.
Doch selbst wenn die umstrittenen Trassen wirklich für die Energiewende nötig sind – das macht die Sorgen und Nöte der Menschen in ländlichen Gegenden Bayerns nicht geringer. Sie sollen dafür büßen, dass die Großstädte und die Industrie ihren Stromverbrauch bei Weitem nicht decken können. Das ist umso ungerechter, als, wie gehört, gerade die ländlichen Regionen am ehesten ihre eigene Energiewende vollziehen können.
So ergibt sich ein prinzipieller Konflikt zwischen Metropolen und Peripherie wegen der Erzeugung und des Transports von Strom.
Norwegischer Strom für München, spanischer Strom für Norwegen
Die Stadtwerke München etwa haben einen ambitionierten Plan zum Ausbau der eigenen Ökostrom-Erzeugung. Die Anlagen dafür stehen aber an der Küste oder im Ausland. 2019 kam diese Strategie in die Medien, weil gegen schon genehmigte Windparks in Norwegen lokaler Widerstand aufbrandete.
Die Protestierenden wollten etwa ein Rückzugsgebiet für Rentiere und eine weitgehend unberührte Insel nicht dafür hergeben, dass München sein Bier mit Ökostrom kühlen kann, wie eine exemplarische Formulierung lautete. Und es geht noch extremer.
Ebenfalls 2019 schloss einer der größten Solarparks in Südspanien einen Liefervertrag mit einem norwegischen Stromanbieter ab. So wird nun also in Andalusien Solarstrom für Norwegen produziert, und in Norwegen Windstrom für München. Willkommen in der schönen neuen Welt des Ökostromtransports!
Auch in deutschen dünn besiedelten Gegenden protestieren Menschen, die eigentlich für die Energiewende sind, gegen die Belastung von Mensch und Natur mit weiterer Strom-Infrastruktur, die sie selbst nicht nötig haben. Wenn schon in diesem relativ frühen Stadium der Energiewende so ein Konflikt zwischen verschiedenen Arten des ökologischen Engagements auftritt, stehen fundamentale Fragen an.
Zweifel an angestrebter Senkung des Stromverbrauchs
Felix Matthes vom Öko-Institut meint, dass zu den geplanten HGÜ-Trassen in den Süden weitere hinzukommen müssen, um Deutschland ökologisch versorgen zu können. Das hängt mit dem vermuteten zunehmenden Stromverbrauch zusammen.
Im Netzentwicklungsplan von 2015 war noch zu lesen, dass die Bundesregierung den Stromverbrauch senken wollte. 2050 sollte er um ein Viertel niedriger sein als 2008. Das wären demzufolge rund 460 Terawattstunden im Jahr.
Felix Matthes' aktuelle Prognose ist hingegen: "Wir werden im Zuge von Elektromobilität, und so weiter, einen direkten Strombedarf haben in Deutschland in einem dekarbonisierten System in einer Größenordnung von 700, 750 Terawattstunden."
Das wären rund 60 Prozent mehr als das gar nicht so alte Ziel der Bundesregierung. Norbert Kolb von der Initiative "Bergrheinfeld sagt Nein" betonte bei der Veranstaltung der Bundesnetzagentur in Bad Kissingen einen Satz, der auf die Belastung seines Dorfes durch Strom-Infrastruktur bezogen war, der aber wohl verallgemeinert werden kann: "Bei uns ist eine Lage der puren Geilheit an Strom."
Die Recherche wurde unterstützt durch ein Stipendium der Otto-Brenner-Stiftung.
Autor: Ralf Hutter
Sprecherin: Ilka Teichmüller
Sprecher: Robert Frank
Ton: Peter Seyffert
Regie: Stefanie Lazai
Redaktion: Martin Hartwig