Das Ende der Totenruhe
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Ein verschollen geglaubter Tunnel in der Picardie wurde im Mai 1917 zur Todesfalle für rund 200 deutsche Soldaten. Seit ein Hobbyarchäologe ihn entdeckt hat, ist ein Streit um das richtige Gedenken entbrannt. Dazu kommt die Angst vor Plünderungen.
Pierre Malinowski stapft mit großen Schritten durch den Wald. Eigentlich passt ihm dieser Ausflug gerade gar nicht, weil er schon heute Abend wieder nach Moskau muss.
Aber der Winterbergtunnel, der ist seine Leidenschaft und deshalb zwackt er sich die Zeit ab, um mir den mutmaßlichen Eingang des Stollens zu zeigen. "Die Kerle wünschen, dass man sie findet. Es wäre abscheulich, sie verschüttet zu lassen. Die Jungs müssen inmitten ihrer Kameraden beerdigt werden. Dann können wir ihre Gräber mit Blumen schmücken." Der Tunnel liegt am Rand des Dorfes Craonne und etwa 30 Kilometer nordwestlich von der Stadt Reims. In ihm wurden am 4. Mai 1917 etwa 200 deutsche Soldaten verschüttet. Sie sind qualvoll erstickt, während Minen und Granaten den Waldboden derart umgepflügt haben, dass der Stollen später nicht mehr auffindbar zu sein schien.
Dünne Kapuzenjacke, Trekkinghose – Malinowski, 33 Jahre alt, ist nicht zimperlich. Nur die Gummistiefel schützen ihn vor der Nässe an diesem kalten Wintertag bei meinem ersten Besuch, im Dezember 2020. Die Bäume sind kahl, die Wege matschig. Auf einer Lichtung sind Metallkreuze zu sehen und vermooste Steine mit verwitterten Inschriften. Spärliche Reste des ehemaligen Dorffriedhofs von Craonne.
Das alte Dorf wurde im Krieg komplett zerstört, das neue Craonne 800 Meter entfernt neu errichtet. "Von hier aus bis zum Tunnel sind 70.000 Soldaten gefallen, Franzosen und Deutsche. Dieser Wald ist ein gigantischer Friedhof. Als der französische General Nivelle seine Gegenoffensive gestartet hat, verlief hier die Front."
"Sie liegen hier überall"
Seitlich des Wegs steigt der Wald steil an, zu einem 26 Kilometer langen Höhenzug, dem sogenannten Chemin des Dames. Historikern zufolge haben die mörderischen Kämpfe am "Damenweg" sogar mehr als 200.000 Tote gefordert. Die Deutschen hatten das strategisch wichtige Gebiet gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs eingenommen und sich dort dauerhaft eingenistet. Sie nutzten vorhandene Keller und natürliche Kalksteinhöhlen, außerdem gruben sie unzählige Tunnel bis zu den Stellungen an der Front.
Das unterirdische Labyrinth schützte die Soldaten vor feindlichem Artilleriefeuer. Es half ihnen auch, Frankreichs Großangriff im April und Mai 1917 zu überstehen. Im Unterholz erkennt man noch Spuren von ehemaligen Schützengräben und Bombentrichtern.
Pierre Malinowski hat das Gelände schon als Kind durchstreift, an der Hand seines Vaters. Dieser hat auch sein Interesse für die Gefallenen geweckt. "Den ersten toten Soldaten haben wir gefunden, als ich knapp sechs Jahre alt war. Das war auf der Höhe 108 bei Sapigneul, 20 Kilometer entfernt von hier. Ich werde ihn nie vergessen: ein Franzose in der roten Militärhose. Mein Vater hat mir den Ehering gezeigt. Da wurde mir klar: Sie liegen hier überall."
Briefwechsel mit Ernst Jünger
Die Familie stammt aus dem nahe gelegenen Orainville. Alain Malinowski, Pierres Vater, wohnt bis heute in dem 500-Seelen-Dorf. Der 63-Jährige sperrt das Rathaus zu. Seit einem Jahr ist er hier Bürgermeister.
Malinowski, anders als sein Sohn ein scheuer und sensibler Mann, zeigt auf die Kirche, die kleine Grundschule und die niedrigen Häuser im Einheitsstil. "Das Dorf war komplett zerstört, die französische Artillerie hat es dem Boden gleichgemacht. Den Wiederaufbau haben italienische Einwanderer geleistet. Später kamen Polen, um auf den Bauernhöfen zu arbeiten." Daher auch sein polnischer Familienname.
Orainville wurde im September 1914 von deutschen Truppen besetzt und vier Jahre lang als Ruheort genutzt, erzählt er später am Küchentisch. Deshalb wurde das Dorf von Franzosen beschossen. Die Erzählungen der alten Dorfbewohner haben ihn als Kind gefesselt. "Wir fanden damals noch viele Überreste, wenn wir durch Wälder und Felder liefen. Helme, Waffen, Munition. Wir haben damit gespielt."
Er zieht eine französische Ausgabe von Ernst Jüngers "In Stahlgewittern" aus dem Regal. Der berühmte, aber politisch umstrittene Autor war 1915 in Orainville stationiert. Seine Erinnerungen beginnen mit einer Beschreibung des Dorfs, und wie er dort seinen ersten Granateinschlag erlebte. "Dieses Buch hat bei mir die Begeisterung für die hiesige Geschichte ausgelöst. Ich wollte erfahren, wer die Kämpfer waren, wie sie vorgegangen sind und was diesen Krieg überhaupt ausgelöst hat."
Alain Malinowski schrieb an Jünger, und der antwortete sogar. Jüngers Briefe und Karten bewahrt er – zusammen mit all den anderen Unterlagen zum Winterbergtunnel – sorgfältig in einem Ordner auf. Zu jener Zeit fuhr er jeden Morgen vom nahe gelegenen Reims aus mit dem Zug nach Paris, wo er als Metrofahrer arbeitete.
Zwischen seiner Ankunft und dem Beginn der Schicht hatte er stets ein, zwei Stunden Zeit. Die verbrachte er im Militärarchiv von Vincennes. Tagtäglich vertiefte er sich dort in Dokumente, für die sich seit ihrer Freigabe niemand zuvor interessiert hatte. Alain Malinowski umso mehr.
Er schrieb ein Buch über den Krieg am Chemin des Dames. "Die Deutschen wollten ihre Stellungen auf keinen Fall aufgeben. Deshalb hatten sie komfortable Stollen und Gräben gegraben. Die Franzosen haben das Tunnelsystem dank der Auskünfte von deutschen Kriegsgefangenen kartografiert. Bei meinen Recherchen bin ich rein zufällig auf diesen Tunnel gestoßen."
Der Tunnel gerät in Vergessenheit
Malinowski öffnet den Ordner, zieht die Kopie einer französischen Landkarte vom 28. April 1917 hervor. Darin ist der 260 Meter lange Tunnel erstmals eingezeichnet. Beim folgenden Angriff am 4. Mai schossen die Franzosen gezielt auf Eingänge und Luftschächte, zerstörten sie.
Malinowskis Neugier ist geweckt. Er findet heraus, dass etwa 200 deutsche Soldaten dem Aufruf eines jungen Offiziers gefolgt und sich in den sogenannten Haupttunnel geflüchtet haben.
Ein fataler Fehler: Nur drei von ihnen konnten aus der tödlichen Falle gerettet werden. Ein Soldat namens Karl Fißer erinnerte sich später an unerträgliche Hitze, Durst und Atemnot: "Langsam und furchtbar war der Kampf auf Leben und Tod. Mir klebte die Zunge am Gaumen, als drückte einem der Wahnsinn die Kehle zu. Alles rief nach Wasser. Neben mir lag ein Kamerad auf dem Boden. Er rief mit brechender Stimme, wir möchten ihm die Pistole laden." Als die Deutschen das Terrain später zurückerobert hatten, schickten sie einen Suchtrupp aus. Dieser schreckte vor dem Leichengestank zurück. Also ließ man die Toten unter der Erde – so wie viele Tausend andere Gefallenen auf und um den Winterberg auch. Mit der Zeit geriet der Tunnel in Vergessenheit.
Alain Malinowski stößt 1995 auf die alte Karte. Er vergleicht sie mit aktuellen Karten, durchstreift den Wald von Craonne und sucht dort nach Wegmarken, die in den Plänen eingezeichnet sind: Granattrichter, ein alter Bunker, eine Weggabelung. Er vermisst die Anhaltspunkte und kalkuliert die mutmaßliche Lage des Tunnels. Gelegentlich hilft ihm dabei sein Sohn. Damals aber will Alain seine Entdeckung noch nicht öffentlich bekannt machen. "Ich hatte Angst, Sammler und Plünderer anzuziehen. Der Ort sollte geheim und geschützt bleiben."
Post an die Kanzlerin
14 Jahre später ist sich Malinowski seiner Sache dann so sicher, dass er offizielle Stellen in Frankreich und Deutschland benachrichtigt. Im Sommer 2010 schreibt er sogar an die Bundeskanzlerin. "Frau Merkel hat mir nie geantwortet, sie hat Wichtigeres zu tun. Aber ihre Mitarbeiter hätten reagieren können. Immerhin geht es um mehr als 200 vermisste deutsche Soldaten. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge hat dann einen Vertreter hergeschickt. Er ist zusammen mit dem französischen Verantwortlichen in den Wald gekommen. Ich habe sofort gespürt: Das wird nichts. Viel zu teuer, hieß es von französischer Seite. Der Deutsche schien mir sehr interessiert zu sein. Aber danach habe ich nie mehr was gehört."
Zu dieser Zeit dient Pierre Malinowski als Soldat in der französischen Fremdenlegion. Er erinnert sich, wie enttäuscht sein Vater damals war. "Ich habe gesagt: Los, lass uns graben. Aber er sagte: Nie im Leben, das ist gefährlich, viel zu tief und illegal. Ich wollte aber trotzdem eine Aktion organisieren und den Beweis erbringen. Da drohte mir mein Vater, dass er mich bei der Gendarmerie anzeigen würde. Er wollte mich beschützen. Also habe ich es gelassen."
Doch das Entdeckungsfieber ist längst auf Pierre übergesprungen. Der junge Mann ist ein Draufgänger. Er wirkt gewinnend und kumpelhaft, aber sein Ego geht oft mit ihm durch. 2014 – die Armee hat er inzwischen verlassen – wird er für kurze Zeit Assistent des rechtsextremen Europaabgeordneten Jean-Marie Le Pen in Brüssel. Von dort knüpft er erste Kontakte nach Moskau. Als er 2016 bei eigenmächtigen Grabungen am Damenweg plötzlich einen russischen Gefallenen findet, vertieft das seine Beziehungen zu Russland noch.
Er gründet eine französisch-russische Geschichtsstiftung und gräbt heute quasi hauptberuflich in Russland, ein Oligarch finanziert ihn dabei. Auf Facebook zeigt sich Pierre Malinowski Hände schüttelnd mit Staatspräsident Putin. 2019 landet er dann einen Volltreffer: Unter einer Diskothek in Smolensk entdeckt er die Überreste eines Generals namens Gudin, der 1812 bei Napoleons Russlandfeldzug getötet wurde.
Um die DNA-Analyse des Skeletts zu veranlassen, setzt er sich – wieder einmal – über alle Regeln hinweg: "Ich habe den Kopf, die Zähne und die Beine in meinen Rucksack gesteckt und damit um vier Uhr früh die Flughafenkontrolle passiert, um nach Frankreich zu fliegen. Mir ist alles egal, solange es den Toten dient. Und der Erfolg zeigt mir, dass mein Handeln gut ist."
Hobbyarchäologe rückt mit Bagger an
Diese spektakuläre Ausgrabung verschafft ihm nun auch in Frankreich Kontakte in hohe Politikerkreise, bis hin zum Gedenktagsberater von Staatspräsident Macron. Die Zeitung "Le Monde" hat Pierre Malinowski einen langen Artikel gewidmet, mit Fotos, auf denen er im Hof des Élysée-Palastes posiert. "Da habe ich mir gesagt: Bei so viel Medienrummel und Respekt für meine Arbeit nehme ich mir jetzt den Winterbergtunnel vor. Über Weihnachten 2019 war ich kurz in Frankreich und habe meine Kumpel gefragt: Macht ihr mit? Wir öffnen den Stollen, erbringen den Beweis, machen nichts kaputt und schließen ihn wieder."
Pierre Malinowski läuft tiefer in den Wald von Craonne. Er guckt die Bäume zu seiner Linken genauer an, so als ob er ein Indiz suche, biegt vom Weg ab und steigt querfeldein einen Abhang hoch.
Die Erde ist mit rötlich-braunen Herbstblättern bedeckt, aber mitten im Hang ist eine Furche zu sehen. Heller Sandboden lenkt den Blick dort auf ein frisch gegrabenes Loch. "Das sieht ja ganz anders aus als vorher. Hier gab es keine Furche, sondern nur Büsche und Bäume. Die sind wohl dabei, alles vorzubereiten."
Mit die meint er den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Tatsächlich war der Verein inzwischen mehrmals mit Fachleuten vor Ort und hat dort geophysikalische und seismische Untersuchungen vorgenommen. Journalisten durften noch nie dabei sein. Auch deshalb begleite ich Malinowski.
Als Pierre Malinowski und seine Helfer vor gut einem Jahr mit Hacke und Schaufel anrücken, ist der Waldboden noch völlig unberührt. Nach mehreren Versuchen stoßen sie auf verkohltes Holz. Aber das genügt Pierre nicht. In der Nacht zum 2. Januar 2020 rückt er sogar mit einem Bagger an und buddelt noch tiefer. Für den Volksbund grenzt das an Grabschändung. Für die Archäologen der französischen Kulturbehörde ist es eine Straftat, die geahndet werden muss. Malinowski weiß, dass die Staatsanwaltschaft ermittelt und ihm eine Anzeige droht.
Der junge Mann, vorher so gesprächig, ziert sich plötzlich. Auf die Frage, ob Medienberichte stimmen, wonach er auf zwei Leichen, zwei Maschinengewehre, Munition und eine Alarmglocke gestoßen ist, grinst er nur. "Was wir gefunden haben? Das verrate ich nicht. Sonst machen sie uns noch mehr Geschichten. Vielleicht einen Helm, gewiss viele Gasmasken. Jetzt sind die zuständigen Behörden an der Reihe. Sie werden schon sehen. Alles ist an Ort und Stelle. Wir haben ihnen gezeigt, wo sie anfangen müssen, besser geht es wohl nicht." Damals filmt und fotografiert Malinowski seinen Fund, nimmt zum Beweis die Glocke mit, und schüttet das Loch wieder zu.
Dann alarmiert er die zuständigen Behörden und führt die französischen Medien vor Ort. "Alle wissen nun, dass wir die Entdecker sind, meine Familie. Das macht mich sehr stolz und alles andere ist mir egal. Der Bericht in der Hauptnachrichtensendung ist elf Millionen Mal gesehen worden."
Der Volksbund ist nicht begeistert
Auch der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge erfährt von der Aktion. Diane Tempel-Bornett, Sprecherin des Vereins, reist daraufhin unverzüglich nach Craonne, um den mutmaßlichen Tunneleingang zusammen mit französischen Fachleuten zu begutachten und über das weitere Vorgehen zu beraten.
Am Telefon erklärt sie mir, warum der Spendenverein nicht schon viel früher auf das Drängen der Familie Malinowski reagiert und sich für den Tunnel mit den verschütteten deutschen Soldaten interessiert hat. "Es war immer präsent, aber es war jetzt einfach nicht akut, sagen wir es mal so. Sie wissen ja, der Volksbund sucht vorrangig die Toten des Zweiten Weltkriegs im Osten. Da ist ein Arbeitsfokus drauf, da sind noch ungefähr 1,3 Millionen vermisst. Man war da auch im Gespräch mit den französischen Behörden. Aber es war jetzt nicht so akut. Aber es war auch nie abgehakt."
Bei den Toten des Ersten Weltkriegs erhält der Verein schon lange keine Anfragen von Hinterbliebenen mehr. Erschwerend ist auch, dass eine Aushebung der Gefallenen sehr teuer und sehr riskant wäre. Denn im Wald von Craonne werden noch so viele alte Waffen und Munition vermutet, dass die Gegend bis heute als Gefahrenzone eingestuft ist.
Und wie hat der Volksbund auf die illegale Grabung reagiert? "Mit wenig Begeisterung, muss man sagen. Wir finden das unglücklich. Man kann es ja nicht verifizieren. Sind diese Fundstücke wirklich explizit von dort vor Ort? Und was passiert jetzt weiter damit? Das Problem ist halt wirklich: Wenn man einen Tunnel öffnet, muss man den entweder bewachen oder man muss die Toten bergen, weil Grabplündern absolut en vogue ist."
Wenige Kilometer vom Winterberg entfernt und ebenfalls auf dem Höhenzug Chemin des Dames liegt ein Museum mit dem Namen Caverne du Dragon. "Die deutschen Soldaten haben diesen Ort Drachenhöhle genannt", sagt der Historiker Franck Viltart. "Sie haben den ehemaligen Steinbruch im Januar 1915 eingenommen, befestigt und so eingerichtet, dass sie hier leben konnten. Den rätselhaften Namen hat er bis heute behalten."
Der Wissenschaftler öffnet das Tor zur Festung. Sie liegt 14 Meter unter der Erde. Der Gang schlängelt sich durch das Kalkgestein, vorbei an großen und kleinen Räumen, wo früher Schlafstätten, Esszimmer, Munitionskammern und sogar eine Kapelle mit Friedhof untergebracht waren.
Viltart beleuchtet gemauerte Trennwände: Sie sollten vor Giftgas schützen. "Wir haben hier ein schönes Beispiel für einen Steinbruch an der Front. Die Franzosen sind mit Giftgas eingedrungen und die Deutschen mussten durch den nördlichen Tunnel flüchten. Ähnlich wie hier dürfte es auch im Winterbergtunnel aussehen. Allerdings mit dem Unterschied, dass der Winterbergtunnel in sandigem Boden liegt und nicht so tief. Also ist es dort vermutlich viel gefährlicher."
Infoschilder am Waldparkplatz
Viltart arbeitet für das örtliche Departement Aisne und ist für den Chemin des Dames zuständig. Vom Winterbergtunnel und seiner tragischen Geschichte hat er erstmals durch Alain Malinowski erfahren und später dann im Landesarchiv von Baden-Württemberg gezielt danach geforscht. "Dort habe ich ganz viel Neues über den Krieg am Damenweg erfahren und unzählige Karten entdeckt, auf denen zu sehen ist, wie ungeheuer dicht und verwoben das Stollensystem rund um Craonne war. Das Departement wollte diesen Aspekt der Geschichte im Jahr 2017, also zum 100. Jahrestag der Offensive, zur Geltung bringen."
Seither stehen große Schilder am Waldparkplatz von Craonne, mit Abbildungen von historischen Karten, Erklärungen und auch Fotos, auf denen deutsche Soldaten am Eingang des Winterbergtunnels zu sehen sind. "Wir wollten den Gefallenen die Ehre erweisen und alle uns bekannten Informationen über diese Tragödie liefern. Auf dem Schild ist die Lage des Tunnels erkenntlich, aber nur sein südlicher Eingang, wo heute der Parkplatz ist. Wir haben natürlich aufgepasst, dass der nördliche Eingang nicht drauf ist. Wir wollen ja keine Sucher und Plünderer anziehen."
Der Umgang mit den Toten des Ersten Weltkriegs ist ein sensibles Thema, das plötzlich überraschende Aufmerksamkeit bekommt. Namhafte französische Historiker und Archäologen haben die Nacht- und Nebelaktion des Pierre Malinowski jedenfalls kürzlich in der Zeitung "Le Monde" scharf verurteilt.
Zugleich verlangen sie nun eine wissenschaftliche Grabung. Die Körper der Gefallenen seien "archäologische Objekte" und müssten als solche behandelt werden. Sie einfach nur umzubetten würde der historischen und wissenschaftlichen Bedeutung nicht gerecht.
Franck Viltart stimmt dem zu: "Wenn die Berichte in der Regimentsgeschichte exakt sind, haben wir hier die Momentaufnahme eines Tunnels vom Mai 1917, als die Schlacht am schlimmsten wütete, mit Männern, Material und Einrichtungen. Das wäre wirklich sehr interessant. Aber selbst wenn er nicht geöffnet wird: So viele Fragen sind noch offen. Warum starten wir nicht ein deutsch-französisches Forschungsprojekt rund um den Winterbergtunnel?"
Ein Friedensgarten für Craonne
Bei meinem zweiten Besuch im März liegt das heutige Craonne still in der Sonne. Ein paar Krähen flattern um den spitzen Kirchturm. Das überdimensionierte Rathaus dominiert den Ort mit seinen 85 Einwohnern, eine Schule oder einen Laden gibt es nicht. An diesem Vormittag ist kein Mensch zu sehen. Etwas lebendiger geht es auf dem Parkplatz am Waldrand zu, wo früher das alte Craonne lag. Eine Frau und ihre Kinder packen dort ein Picknick aus. Die Familie stammt aus der Umgebung. "Wir können uns nicht sattsehen an dieser Landschaft. Außerdem ist hier die Geschichte präsent. Das wollen wir auskosten. Auf dem Hügel gibt es einen schönen Aussichtsturm, leider ist er heute zu."
Vom Winterbergtunnel hat die Frau noch nie gehört, genauso wenig wie das Paar, das gerade zum Spaziergang aufbricht. Offenbar haben sie die Infoschilder neben den Autos gar nicht beachtet.
Ein paar Schritte entfernt steht Noel Genteur inmitten von Efeu berankten Bäumen. Der stattliche Mann mit dunkelblondem Bürstenhaar und buschigem Schnauzbart stammt aus einer Familie, die seit eh und je in Craonne angesiedelt ist. Der 69-jährige Landwirt ist daher so etwas wie das Gedächtnis des Orts. Er zeigt auf blühende Schneeglöckchen und lila Krokusse, das Blumenbeet wird von einem schmalen Kreis aus Edelstahl umrandet.
"Wir sind im oberen Teil des ehemaligen Dorfs. Genau hier stand das Haus meines Großvaters. Und ausgerechnet an dieser Stelle, im ehemaligen Hof, hat ein deutscher Landschaftsarchitekt diesen Friedensgarten angelegt. Aus all dem Elend ist etwas Schönes und Poetisches hervorgegangen, auf den Horror folgte wieder Leben."
Genteur nimmt einen Treppenweg hinauf zur Hochebene mit dem Aussichtsturm. Der Blick schweift über die weite Landschaft mit ihren hellgrünen Feldern und den noch winterlich braunen Wäldern. Hier oben wird mir klar, dass der Angriff auf diese befestigte Anhöhe mörderisch gewesen sein muss.
Jedes Jahr am 16. April gedenkt Noel Genteur der Schlacht und dem Leid der Soldaten mit einem öffentlichen Marsch. Er startet um sechs Uhr früh dort unten bei den ehemaligen französischen Stellungen und erklimmt den Höhenzug. Zu den Kriegserinnerungen, die ihm seine Vorfahren und viele Veteranen hinterlassen haben, gehört auch die Geschichte des Winterbergtunnels. "Ich weiß noch, dass in den 1970er-Jahren deutsche Offiziere in Uniform ins Dorf gekommen sind und alte Leute sprechen wollten, einer davon war mein Großvater Jules. Als er anschließend nach Hause kam, sagte er: Die Offiziere wollten, dass wir sie zum Eingang des Tunnels führen, da oben im Wald. Aber wir haben gar nicht dran gedacht! Sie haben sich dumm gestellt."
Grabräuber suchen Ringe und Uhren
Unterdessen ist auch Pierre Malinowski mal wieder kurz aus Russland eingeflogen und hat einen Abstecher nach Craonne gemacht. Das dokumentieren seine Fotos in den sozialen Netzwerken. Darauf ist zu sehen, wie er vor verschiedenen Kamerateams am Tunneleingang steht, einmal mit der britischen BBC. Noel Genteur ist entsetzt, dass der fast vergessene Todestunnel immer mehr zu einer Attraktion wird.
"Einzig und allein für die Nabelschau einzelner Leute, die nach Aufmerksamkeit heischen. Das ist kleinlich, hat aber dramatische Folgen. Der Schaden ist nicht mehr aufzuhalten, genau wie bei einer ägyptischen Mumie. Wenn der Sarkophag einmal geöffnet ist, muss der Inhalt sofort bearbeitet werden, sonst ist es für die Archäologen zu spät."
Er hofft, dass die Behörden nun schnell eingreifen werden, um Nachahmer abzuhalten, und das nicht nur am Winterbergtunnel. "Ganz in der Nähe sind noch 80 Franzosen in einem Stollen verschüttet. Auf dem Chemin des Dames liegen doch überall Tote. Die Grabräuber suchen Eheringe, Uhren, Feuerzeuge. Denen geht es nicht ums Andenken, sondern nur ums Geld."
Die unerwünschte Entdeckung des Winterbergtunnels hat auch den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge unter großen Zugzwang gesetzt. Diane Tempel-Bornett bestätigt mir am Telefon, dass der Verein die Untersuchungen seit dem Sommer 2020 aktiv vorantreibt. "Wir suchen konkret nach dem kompletten Tunnel. Nach der Sicht des Volksbunds und dem Völkerrecht und der allgemeinen Sicht ist es ja so, dass Menschen ihre Menschenwürde nicht verlieren, auch nicht mit dem Tod. Deswegen suchen wir ja auch die Toten und bestatten sie. Das ist für uns natürlich prioritär."
Umbettung nach Metz?
Derzeit wird eine dritte Sondierung vorbereitet. Dazu soll der Stollen teilweise geöffnet und dann mithilfe einer Kamera erforscht werden. Erst danach wollen deutsche und französische Stellen über die Zukunft des Winterbergtunnels entscheiden. Schon jetzt suchen die Mitarbeiter des Volksbunds nach Angehörigen. Falls die Toten geborgen, aber keine Familien mehr gefunden werden, ist die Bestattung auf dem nächsten großen deutschen Soldatenfriedhof üblich, sagt Diane Tempel-Bornett vom Volksbund. Das wäre dann die Kriegsgräberstätte im 200 Kilometer entfernten Metz.
Allein diese Vorstellung treibt Alain Malinowski Tränen in die Augen. Der Hobby-Historiker, der den Tunnel überhaupt erst aus dem Vergessen befreit hat, hat sicherlich die engste Bindung zu den gefallenen deutschen Soldaten entwickelt. 183 Namen stehen auf einer Vermisstenliste, die er in einem deutschen Archiv gefunden hat. Viele waren erst 20 Jahre alt. "Man sollte den Tunnel öffnen und die deutschen Soldaten herausholen.
Und dann, falls kein Museum errichtet werden kann, wenigstens ein Buch oder einen Film über ihr Schicksal verwirklichen. Aber eins liegt mir besonders am Herzen: Diese Soldaten sollten nicht in eine große, unpersönliche Nekropole überführt, sondern an Ort und Stelle bestattet werden. Wenn das nicht geht, wäre es besser, den Stollen erst gar nicht zu öffnen, sie dort unten in der Tiefe zu lassen und ihnen eine Stele zu errichten. Dann weiß man wenigstens, wo sie sind." Auf dem Gräberfeld von Metz würde man sie ein zweites Mal vergessen, findet Malinowski.
Mit der Totenruhe am Winterberg ist es jedenfalls vorbei. Denn das, was alle Akteure in dieser Geschichte fürchten, ist schon eingetreten. Kurz nach meinem Treffen mit Franck Viltart und Noel Genteur schickt mir ein Freund von Pierre Malinowski diese Mail: Die letzten Neuigkeiten des Tunnels: Unbekannte haben den Ort aufgesucht, um ihn zu plündern. Sie haben zehn Kubikmeter Sand weggetragen, vielleicht sogar mehr. Tiefe: ungefähr fünf Meter. Das war offenbar eine sehr organisierte Mannschaft. Sie haben Stützbalken vor Ort gelassen – daher ist anzunehmen, dass sie wiederkommen wollen.