"Wir brauchen finanzielle Unterstützung"
Der Rechtsmediziner Burkhard Madea aus Bonn hat mehr Geld für Institute seiner Fakultät in Deutschland gefordert: "Es muss endlich in den Bundesländern ein politischer Konsens her, dass die Rechtsmedizin ausreichend finanziert wird."
Frank Meyer: Im Fernsehen sind Sie die Stars, die Rechtsmediziner, die den entscheidenden Tipp für die Aufklärung eines Mordes liefern, zum Beispiel der smarte Professor Boerne im "Tatort" aus Münster oder seine amerikanischen Kollegen vom "CSI"-Team. Ganz anders sieht das in der bundesdeutschen Realität aus, dort gerät die Gerichtsmedizin immer mehr ins Abseits. Zum Beispiel in Bonn, dort soll das Institut für Rechtsmedizin in diesem Jahr mit weniger als der Hälfte des früheren Etats auskommen. Der Etat wurde von 1,6 Millionen Euro auf 700.000 Euro gekürzt. Der Direktor des Instituts, Professor Burkhard Madea, ist jetzt für uns im Studio. Seien Sie herzlich willkommen, Herr Madea!
Burkhard Madea: Guten Tag!
Meyer: Was bedeuten denn diese Kürzungen bei Ihnen, mehr als die Hälfte, ganz praktisch? Können Sie jetzt nur noch halb so viele Leichen obduzieren?
Madea: Wir sind ja nicht nur mit Obduktionen beschäftigt, sondern führen auch chemisch-toxikologische Untersuchungen durch bei Straßenverkehrsteilnehmern, die unter Drogen oder Alkohol stehen, das sind mehrere 1000 Untersuchungen pro Jahr. Wir haben in einem rechtsmedizinischen Institut Mitarbeiter ganz unterschiedlicher Vorbildung. Das sind einerseits Ärzte, die Obduktionen durchführen, dann aber auch Opfer von Gewalthandlungen untersuchen, lebende Opfer, insbesondere bei Kindesmisshandlung und sexuellem Missbrauch, dann die Toxikologen, die die toxikologischen Untersuchungen durchführen, an Blut, aber auch an anderen Matrizes wie etwa Haare, und dann schließlich die Molekularbiologie. Wenn es zu einem drastischen Personaleinschnitt kommt, können eben die Versorgungsleistungen für die Ermittlungsbehörden nicht mehr aufrechterhalten werden.
Meyer: Wenn wir beim Thema Obduktionen bleiben, da wird seit Jahren beklagt, dass in Deutschland zu wenig obduziert wird. Die Journalistin Sabine Rückert hat in ihrem Buch "Tote haben keine Lobby" geschrieben, dass etwa die Hälfte aller Morde in Deutschland unentdeckt bleiben, jeder zweite Mord, weil eben zu wenig obduziert wird. Können Sie diese ja erschreckende Zahl bestätigen?
Madea: Also es gibt eine Studie aus Münster, nach der davon auszugehen ist, dass über 1200 Tötungsdelikte pro Jahr in Deutschland nicht erkannt werden. Wenn ich einfach mal meine eigene Erfahrung Revue passieren lasse: In den letzten 25 Jahren habe ich circa 15 bis 20 Fälle obduziert, die primär nicht als Tötungsdelikt erkannt worden sind, beziehungsweise mehr als die Hälfte von denen ist zunächst als natürlicher Tod bestattet worden, bevor dann sekundär Verdachtsmomente aufgetaucht sind. Also diese Zahl ist durchaus realistisch.
Meyer: Und gibt es da bestimmte Tötungsarten, bestimmte Morde, die am häufigsten unentdeckt bleiben, bei älteren Menschen zum Beispiel?
Madea: Bei älteren Menschen können das sein natürlich Vergiftungen und dann Tötung durch weiche Bedeckung, was natürlich auch schwer zu entdecken ist.
Meyer: Also das typische Kissen überm Kopf und dann … Wenn wir das mal international vergleichen: In Skandinavien werden 20 bis 30 Prozent aller Verstorbenen obduziert, in Deutschland weniger als fünf Prozent – warum dieser Unterschied, warum so wenig in Deutschland?
Madea: Der Grund ist, dass in den skandinavischen Ländern oder auch in Großbritannien jeder Todesfall, wo die Todesursache durch die Leichenschau nicht feststellbar ist, einer weiteren behördlichen Überprüfung unterzogen wird, und das effizienteste Verfahren zur Aufklärung der Todesursache ist natürlich die Obduktion. Wir haben in Deutschland zum Beispiel 820.000 Todesfälle pro Jahr, und es findet lediglich in circa 17.000 Todesfällen eine gerichtliche Obduktion statt. In England und Wales haben wir bei 500.000 Todesfällen pro Jahr circa 100.000, über 100.000 Obduktionen. Das zeigt einfach das Dilemma in Deutschland auf, dass wir hier Schlusslicht in Europa sind. Die skandinavischen Länder, Österreich, die ehemaligen Ostblockstaaten, die ehemalige DDR hatten da eine wesentlich bessere Gesetzgebung.
Meyer: Das Entdecken von Tötungsdelikten ist das eine, und das ja ernst genug als Thema, aber auf der anderen Seite sind ja Obduktionen ja auch eine Art Qualitätskontrolle für die Medizin. Wenn etwa jemand im Krankenhaus behandelt wurde, kann man dann sehen, wurde er richtig behandelt oder eben nicht. Muss man deswegen sagen, weniger Obduktionen, wie bei uns, das heißt auch weniger Qualität in der Medizin?
Madea: Das wird man wohl so sehen müssen. Die Obduktion ist nach wie vor der Goldstandard zur Qualitätskontrolle von klinischen Diagnosen und Behandlungen. Man muss davon ausgehen, dass heute auch noch zehn Prozent Diagnosen mit therapeutischen Konsequenzen für den Patienten falsch gestellt werden. Das ist nur durch Obduktion aufzudecken. Und unabhängig von Fehlervorwürfen müssen natürlich diese Erfahrungen zurückfließen zu den klinisch behandelnden Kollegen, damit wirklich gelernt werden kann.
Meyer: Muss man da jetzt böse schlussfolgern, dass deswegen die Ärzte auch gar kein Interesse haben an vielen Obduktionen, weil dadurch ihre Kunstfehler mit auffliegen können?
Madea: Das würde ich so generell nicht sagen. Wir hatten vor einigen Jahren eine größere Studie durchgeführt zu Behandlungsfehlervorwürfen, die tödlich geendet haben. Und in weit mehr als der Hälfte der Fälle waren die behandelnden Ärzte selbst Auslöser des Ermittlungsverfahrens, das sich gegen sie gerichtet hat.
Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sind im Gespräch mit Burkhard Madea, dem Direktor des Gerichtsmedizinischen Instituts der Universität Bonn. Wir reden über das Zurückdrängen der Rechtsmedizin an den deutschen Universitäten. Seit dem Jahr 1993 ist ein Drittel aller Lehrstühle für Rechtsmedizin an deutschen Unis verloren gegangen oder die Lehrstühle sind zurzeit nicht besetzt. Herr Madea, warum wird denn gerade in der Rechtsmedizin so rigoros gespart?
Madea: Man sollte eigentlich annehmen, dass ein Fach, das so wichtig ist für das effiziente Arbeiten eines Rechtsstaates, ausreichend finanziert wird. Aber die Basisfinanzierung der rechtsmedizinischen Institute funktioniert eben nicht. Hier müssten natürlich einerseits herangezogen werden die Wissenschaftsministerien, da wir in Lehre und Forschung tätig sind, daneben aber auch die Justizministerien und das öffentliche Gesundheitswesen, da wir ja auch hier zahlreiche Funktionen wahrnehmen. Tatsächlich ist es aber so, dass wir überwiegend über die Wissenschaftsetats finanziert werden, und bei immer knapper werdenden öffentlichen Mitteln ist hier natürlich ein Konkurrenzkampf entbrannt, und die Erträge, die wir für unsere Dienstleistung für die Justiz erzielen, sind einfach nicht kostendeckend. Für eine gerichtliche Obduktion etwa können maximal 450 oder 500 Euro in Rechnung gestellt werden, das ist nicht kostendeckend, da grundsätzlich die Obduktion von zwei Ärzten durchgeführt werden muss und einem Präparator. In der Schweiz sind einmal nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten Kostenersätze berechnet worden, und da fallen dann für eine Obduktion 1500 bis 2000 Schweizer Franken an. Das ist sicherlich ein großes Manko für uns, das die Kostenersätze nach einem Gesetz berechnet werden, die nicht zu kostendeckenden Erlösen führen.
Meyer: Sie haben die Wissenschaftsministerien angesprochen – der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin, Stefan Pollak, meint, dass gerade der derzeitige Ansatz in der deutschen Forschungspolitik mitverantwortlich ist für dieses Zurückschneiden der Rechtsmedizin. Mit folgender Begründung: Heute werden die Institute bevorzugt, die am meisten Mittel aus der Industrie einwerben können oder die berühmten Drittmittel woanders her einbringen. Wie sehen Sie das, ist es tatsächlich die Forschungspolitik, die aktuelle Ausrichtung, Schuld an Ihrer Misere?
Madea: Ohne jeden Zweifel. Es ist ja in den meisten medizinischen Fakultäten eine sogenannte leistungsorientierte Mittelvergabe eingeführt worden, die mit Leistung vergleichsweise wenig zu tun hat, weil hier nicht Fächer an ihren spezifischen Standards gemessen werden, sondern ein völlig undifferenzierter Vergleich zwischen verschiedenen medizinischen und naturwissenschaftlichen Disziplinen stattfindet, der auf einen Vergleich mit Äpfel und Birnen hinausläuft. Das führt natürlich zu einer systematischen Benachteiligung der Rechtsmedizin, da wir von dem, was wir wissenschaftlich machen, nicht in gleichem Maß Zugang zu drittmittelträchtigen Forschungsfeldern haben wie andere Disziplinen. Und da wir natürlich auch in unseren Publikationsorganen andere Journale bevorzugen als irgendwelche biomedizinischen Grundlagenjournale. Wir müssen ja auch unsere Klientel, unsere Leserschaft erreichen, und das sind eben häufig rechtsmedizinische Fachkollegen, international, weltweit, das sind Kriminalisten, das sind Juristen.
Meyer: Und das wird in der Beurteilung Ihrer Forschungsleistungen dann weniger stark gewichtet als die Leistung Ihrer Kollegen?
Madea: So ist es, ganz eindeutig. In meinem Fach hat zum Beispiel das Journal mit dem höchsten Impact-Faktor einen von 2,5, das weitverbreitetste Journal meines Faches weltweit …
Meyer: Was ist ein Impact-Faktor?
Madea: Impact-Faktor gibt die mittlere Zitationshäufigkeit einer Zeitschrift an. Die weitverbreitetste Zeitschrift in meinem Fach 1,7, und da können wir natürlich mit irgendwelchen Grundlagenjournalen, die Impact-Faktoren von 25 oder Ähnliches aufweisen, überhaupt nicht konkurrieren.
Meyer: Nun heißt ja, weniger Rechtsmedizin eben auch weniger Rechtssicherheit. Ich will noch mal die Zahlen nennen eben: Die Hälfte aller Morde wird nicht entdeckt. Was sagen nun eigentlich die politisch Verantwortlichen dazu, die eben für Rechtssicherheit verantwortlich sind, eben die Justizminister?
Madea: Die Justizminister geben grundsätzliche Lippenbekenntnisse ab, aber mit Lippenbekenntnissen ist uns alleine natürlich nicht geholfen, sondern wir brauchen finanzielle Unterstützung, und es muss endlich in den Bundesländern ein politischer Konsens her, dass die Rechtsmedizin ausreichend finanziert wird. Bislang wird man dann immer an seinen Budgetminister geschickt, das ist der Wissenschaftsminister, dann heißt es eben, wir zahlen nur für Lehre und Forschung und für die Dienstleistung, für die Justiz sind wir nicht zuständig. Das ist ein Denken, das etwas zu kurz gesprungen ist, weil damit ja sekundär höhere Kosten auf den Steuerzahler zukommen.
Meyer: Aber es bleibt ja ein grundsätzliches Dilemma, je besser man zum Beispiel Ihr Institut ausstattet, desto umfangreicher wird möglicherweise die Mordstatistik – ist auch kein schöner Gedanke zum Beispiel für den Justizminister.
Madea: Ich denke, das sollte ein schöner Gedanke für ihn sein, denn je zeitnaher ein Tötungsdelikt bearbeitet werden kann, den Ermittlungsbehörden medizinisch-naturwissenschaftliche Grundlagen für die weitere Ermittlungstätigkeit an die Hand gegeben werden könnten, desto höher die Aufklärungsquote. Das dient der Rechtssicherheit.
Meyer: Jeder zweite Mord in Deutschland wird nicht entdeckt, auch weil zu wenig obduziert wird, und dennoch wird munter weitergespart an der Gerichtsmedizin, zum Beispiel an der Uniklinik in Bonn. Burkhard Madea, der Direktor des Instituts für Rechtsmedizin in Bonn, war für uns im Studio. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Madea: Ja, bitte!
Burkhard Madea: Guten Tag!
Meyer: Was bedeuten denn diese Kürzungen bei Ihnen, mehr als die Hälfte, ganz praktisch? Können Sie jetzt nur noch halb so viele Leichen obduzieren?
Madea: Wir sind ja nicht nur mit Obduktionen beschäftigt, sondern führen auch chemisch-toxikologische Untersuchungen durch bei Straßenverkehrsteilnehmern, die unter Drogen oder Alkohol stehen, das sind mehrere 1000 Untersuchungen pro Jahr. Wir haben in einem rechtsmedizinischen Institut Mitarbeiter ganz unterschiedlicher Vorbildung. Das sind einerseits Ärzte, die Obduktionen durchführen, dann aber auch Opfer von Gewalthandlungen untersuchen, lebende Opfer, insbesondere bei Kindesmisshandlung und sexuellem Missbrauch, dann die Toxikologen, die die toxikologischen Untersuchungen durchführen, an Blut, aber auch an anderen Matrizes wie etwa Haare, und dann schließlich die Molekularbiologie. Wenn es zu einem drastischen Personaleinschnitt kommt, können eben die Versorgungsleistungen für die Ermittlungsbehörden nicht mehr aufrechterhalten werden.
Meyer: Wenn wir beim Thema Obduktionen bleiben, da wird seit Jahren beklagt, dass in Deutschland zu wenig obduziert wird. Die Journalistin Sabine Rückert hat in ihrem Buch "Tote haben keine Lobby" geschrieben, dass etwa die Hälfte aller Morde in Deutschland unentdeckt bleiben, jeder zweite Mord, weil eben zu wenig obduziert wird. Können Sie diese ja erschreckende Zahl bestätigen?
Madea: Also es gibt eine Studie aus Münster, nach der davon auszugehen ist, dass über 1200 Tötungsdelikte pro Jahr in Deutschland nicht erkannt werden. Wenn ich einfach mal meine eigene Erfahrung Revue passieren lasse: In den letzten 25 Jahren habe ich circa 15 bis 20 Fälle obduziert, die primär nicht als Tötungsdelikt erkannt worden sind, beziehungsweise mehr als die Hälfte von denen ist zunächst als natürlicher Tod bestattet worden, bevor dann sekundär Verdachtsmomente aufgetaucht sind. Also diese Zahl ist durchaus realistisch.
Meyer: Und gibt es da bestimmte Tötungsarten, bestimmte Morde, die am häufigsten unentdeckt bleiben, bei älteren Menschen zum Beispiel?
Madea: Bei älteren Menschen können das sein natürlich Vergiftungen und dann Tötung durch weiche Bedeckung, was natürlich auch schwer zu entdecken ist.
Meyer: Also das typische Kissen überm Kopf und dann … Wenn wir das mal international vergleichen: In Skandinavien werden 20 bis 30 Prozent aller Verstorbenen obduziert, in Deutschland weniger als fünf Prozent – warum dieser Unterschied, warum so wenig in Deutschland?
Madea: Der Grund ist, dass in den skandinavischen Ländern oder auch in Großbritannien jeder Todesfall, wo die Todesursache durch die Leichenschau nicht feststellbar ist, einer weiteren behördlichen Überprüfung unterzogen wird, und das effizienteste Verfahren zur Aufklärung der Todesursache ist natürlich die Obduktion. Wir haben in Deutschland zum Beispiel 820.000 Todesfälle pro Jahr, und es findet lediglich in circa 17.000 Todesfällen eine gerichtliche Obduktion statt. In England und Wales haben wir bei 500.000 Todesfällen pro Jahr circa 100.000, über 100.000 Obduktionen. Das zeigt einfach das Dilemma in Deutschland auf, dass wir hier Schlusslicht in Europa sind. Die skandinavischen Länder, Österreich, die ehemaligen Ostblockstaaten, die ehemalige DDR hatten da eine wesentlich bessere Gesetzgebung.
Meyer: Das Entdecken von Tötungsdelikten ist das eine, und das ja ernst genug als Thema, aber auf der anderen Seite sind ja Obduktionen ja auch eine Art Qualitätskontrolle für die Medizin. Wenn etwa jemand im Krankenhaus behandelt wurde, kann man dann sehen, wurde er richtig behandelt oder eben nicht. Muss man deswegen sagen, weniger Obduktionen, wie bei uns, das heißt auch weniger Qualität in der Medizin?
Madea: Das wird man wohl so sehen müssen. Die Obduktion ist nach wie vor der Goldstandard zur Qualitätskontrolle von klinischen Diagnosen und Behandlungen. Man muss davon ausgehen, dass heute auch noch zehn Prozent Diagnosen mit therapeutischen Konsequenzen für den Patienten falsch gestellt werden. Das ist nur durch Obduktion aufzudecken. Und unabhängig von Fehlervorwürfen müssen natürlich diese Erfahrungen zurückfließen zu den klinisch behandelnden Kollegen, damit wirklich gelernt werden kann.
Meyer: Muss man da jetzt böse schlussfolgern, dass deswegen die Ärzte auch gar kein Interesse haben an vielen Obduktionen, weil dadurch ihre Kunstfehler mit auffliegen können?
Madea: Das würde ich so generell nicht sagen. Wir hatten vor einigen Jahren eine größere Studie durchgeführt zu Behandlungsfehlervorwürfen, die tödlich geendet haben. Und in weit mehr als der Hälfte der Fälle waren die behandelnden Ärzte selbst Auslöser des Ermittlungsverfahrens, das sich gegen sie gerichtet hat.
Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sind im Gespräch mit Burkhard Madea, dem Direktor des Gerichtsmedizinischen Instituts der Universität Bonn. Wir reden über das Zurückdrängen der Rechtsmedizin an den deutschen Universitäten. Seit dem Jahr 1993 ist ein Drittel aller Lehrstühle für Rechtsmedizin an deutschen Unis verloren gegangen oder die Lehrstühle sind zurzeit nicht besetzt. Herr Madea, warum wird denn gerade in der Rechtsmedizin so rigoros gespart?
Madea: Man sollte eigentlich annehmen, dass ein Fach, das so wichtig ist für das effiziente Arbeiten eines Rechtsstaates, ausreichend finanziert wird. Aber die Basisfinanzierung der rechtsmedizinischen Institute funktioniert eben nicht. Hier müssten natürlich einerseits herangezogen werden die Wissenschaftsministerien, da wir in Lehre und Forschung tätig sind, daneben aber auch die Justizministerien und das öffentliche Gesundheitswesen, da wir ja auch hier zahlreiche Funktionen wahrnehmen. Tatsächlich ist es aber so, dass wir überwiegend über die Wissenschaftsetats finanziert werden, und bei immer knapper werdenden öffentlichen Mitteln ist hier natürlich ein Konkurrenzkampf entbrannt, und die Erträge, die wir für unsere Dienstleistung für die Justiz erzielen, sind einfach nicht kostendeckend. Für eine gerichtliche Obduktion etwa können maximal 450 oder 500 Euro in Rechnung gestellt werden, das ist nicht kostendeckend, da grundsätzlich die Obduktion von zwei Ärzten durchgeführt werden muss und einem Präparator. In der Schweiz sind einmal nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten Kostenersätze berechnet worden, und da fallen dann für eine Obduktion 1500 bis 2000 Schweizer Franken an. Das ist sicherlich ein großes Manko für uns, das die Kostenersätze nach einem Gesetz berechnet werden, die nicht zu kostendeckenden Erlösen führen.
Meyer: Sie haben die Wissenschaftsministerien angesprochen – der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin, Stefan Pollak, meint, dass gerade der derzeitige Ansatz in der deutschen Forschungspolitik mitverantwortlich ist für dieses Zurückschneiden der Rechtsmedizin. Mit folgender Begründung: Heute werden die Institute bevorzugt, die am meisten Mittel aus der Industrie einwerben können oder die berühmten Drittmittel woanders her einbringen. Wie sehen Sie das, ist es tatsächlich die Forschungspolitik, die aktuelle Ausrichtung, Schuld an Ihrer Misere?
Madea: Ohne jeden Zweifel. Es ist ja in den meisten medizinischen Fakultäten eine sogenannte leistungsorientierte Mittelvergabe eingeführt worden, die mit Leistung vergleichsweise wenig zu tun hat, weil hier nicht Fächer an ihren spezifischen Standards gemessen werden, sondern ein völlig undifferenzierter Vergleich zwischen verschiedenen medizinischen und naturwissenschaftlichen Disziplinen stattfindet, der auf einen Vergleich mit Äpfel und Birnen hinausläuft. Das führt natürlich zu einer systematischen Benachteiligung der Rechtsmedizin, da wir von dem, was wir wissenschaftlich machen, nicht in gleichem Maß Zugang zu drittmittelträchtigen Forschungsfeldern haben wie andere Disziplinen. Und da wir natürlich auch in unseren Publikationsorganen andere Journale bevorzugen als irgendwelche biomedizinischen Grundlagenjournale. Wir müssen ja auch unsere Klientel, unsere Leserschaft erreichen, und das sind eben häufig rechtsmedizinische Fachkollegen, international, weltweit, das sind Kriminalisten, das sind Juristen.
Meyer: Und das wird in der Beurteilung Ihrer Forschungsleistungen dann weniger stark gewichtet als die Leistung Ihrer Kollegen?
Madea: So ist es, ganz eindeutig. In meinem Fach hat zum Beispiel das Journal mit dem höchsten Impact-Faktor einen von 2,5, das weitverbreitetste Journal meines Faches weltweit …
Meyer: Was ist ein Impact-Faktor?
Madea: Impact-Faktor gibt die mittlere Zitationshäufigkeit einer Zeitschrift an. Die weitverbreitetste Zeitschrift in meinem Fach 1,7, und da können wir natürlich mit irgendwelchen Grundlagenjournalen, die Impact-Faktoren von 25 oder Ähnliches aufweisen, überhaupt nicht konkurrieren.
Meyer: Nun heißt ja, weniger Rechtsmedizin eben auch weniger Rechtssicherheit. Ich will noch mal die Zahlen nennen eben: Die Hälfte aller Morde wird nicht entdeckt. Was sagen nun eigentlich die politisch Verantwortlichen dazu, die eben für Rechtssicherheit verantwortlich sind, eben die Justizminister?
Madea: Die Justizminister geben grundsätzliche Lippenbekenntnisse ab, aber mit Lippenbekenntnissen ist uns alleine natürlich nicht geholfen, sondern wir brauchen finanzielle Unterstützung, und es muss endlich in den Bundesländern ein politischer Konsens her, dass die Rechtsmedizin ausreichend finanziert wird. Bislang wird man dann immer an seinen Budgetminister geschickt, das ist der Wissenschaftsminister, dann heißt es eben, wir zahlen nur für Lehre und Forschung und für die Dienstleistung, für die Justiz sind wir nicht zuständig. Das ist ein Denken, das etwas zu kurz gesprungen ist, weil damit ja sekundär höhere Kosten auf den Steuerzahler zukommen.
Meyer: Aber es bleibt ja ein grundsätzliches Dilemma, je besser man zum Beispiel Ihr Institut ausstattet, desto umfangreicher wird möglicherweise die Mordstatistik – ist auch kein schöner Gedanke zum Beispiel für den Justizminister.
Madea: Ich denke, das sollte ein schöner Gedanke für ihn sein, denn je zeitnaher ein Tötungsdelikt bearbeitet werden kann, den Ermittlungsbehörden medizinisch-naturwissenschaftliche Grundlagen für die weitere Ermittlungstätigkeit an die Hand gegeben werden könnten, desto höher die Aufklärungsquote. Das dient der Rechtssicherheit.
Meyer: Jeder zweite Mord in Deutschland wird nicht entdeckt, auch weil zu wenig obduziert wird, und dennoch wird munter weitergespart an der Gerichtsmedizin, zum Beispiel an der Uniklinik in Bonn. Burkhard Madea, der Direktor des Instituts für Rechtsmedizin in Bonn, war für uns im Studio. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Madea: Ja, bitte!