"Wir dürfen nicht eine Gruppe stigmatisieren"
Der scheidende Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin, Wolfgang Benz, spricht sich dafür aus, religiöse Minderheiten in Deutschland zu integrieren. Heute würden die Muslime wegen angeblicher Passagen im Koran stigmatisiert und als Verbrecher hingestellt, sagt Benz.
Klaus Pokatzky: Als Wolfgang Benz vor 4 Jahren 65 wurde, da haben ihm mehr als 100 Freunde und Weggefährten ein Buch mit fast 300 Seiten geschrieben. "Von Schöpfung und Schurken" hieß das und hatte bezeichnende Kapitelüberschriften: "Meister und Mephisto" etwa, oder "Lukull und Ladykiller".
Wer ein solches Buch zum 65. geschenkt bekommt, der muss viel geleistet haben, da reicht es nicht, dass er einer der renommiertesten Zeithistoriker ist, dass er nun 20 Jahre lang, seit 1990, das Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin geleitet hat. Da hat sich ja auch einer viele, treue Freunde gemacht. Willkommen im Studio, Wolfgang Benz!
Wolfgang Benz: Guten Tag!
Pokatzky: 1990 haben Sie als der zweite Leiter das Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin übernommen. Wie war das damals, 1990? Welche Position hatte das Zentrum damals in der Gesellschaft, in der Wissenschaft, und welche Position hat es heute?
Benz: Ich denke, das Zentrum war schon ziemlich renommiert, das lag an der Gestalt des Gründungsdirektors Herbert A. Strauss, und es hatte sich auch in der Öffentlichkeit einen Namen gemacht. Mich hat man dann zu Beginn meiner Amtszeit darauf aufmerksam gemacht, es gäbe hier vielleicht noch etwas zu tun, um das Zentrum in der Lehre und auf dem Publikationswesen zu profilieren. Da habe ich dann vielleicht auch am stärksten neue Wege beschritten durch die Gründung des Jahrbuchs für Antisemitismusforschung, nach dessen 20. Jahrgang im nächsten Frühjahr ich die Herausgeberschaft abgeben werde, durch Gründung etlicher Buchreihen. Also ich glaube, ich habe dem Zentrum das äußere Profil gegeben, das es in der akademischen Welt in den Gründerjahren noch nicht hatte.
Pokatzky: Es ist jetzt etabliert. Sind Sie stolz auf dieses Werk?
Benz: Ich bin so einigermaßen zufrieden, zu Stolz besteht kein Anlass, denn es hört ja nicht auf, es gibt ja da auch künftig sehr viel zu tun.
Pokatzky: Was genau?
Benz: Deshalb werde ich ja nun von einer Meute von ziemlich erregten und hasserfüllten Menschen insbesondere aus der Bloggerszene angegriffen. Wenn man andere Minderheiten in den Blick nimmt, was übrigens schon mein Vorgänger Strauss empfohlen hat, das zu tun, also wenn man die Antisemitismusforschung erweitert zu Vorurteilsforschung und andere Minderheiten in den Blick nimmt, dann kann man durchaus Ärger bekommen. Ich habe den Ärger bekommen oder man hat versucht, mich zu ärgern, weil ich vor zwei Jahren in einer Konferenz das Problem des Hasses gegen Muslime als einer Gruppe dargestellt habe.
Pokatzky: Und Sie haben es verglichen mit Antisemitismus im 19. Jahrhundert.
Benz: Ja. Vergleichen ist nicht gleichsetzen, vergleichen ist eine wissenschaftliche Methode, eine Wissenschaft, ohne Sachen miteinander zu vergleichen, gibt es gar nicht.
Pokatzky: Aber was meinen Sie denn jetzt konkret damit? Antisemitismus des 19. Jahrhunderts, also vor dem Nationalsozialismus – und welche Tendenzen meinen Sie bei Antimuslimen heute, wo Sie vergleichen (…)?
Benz: Ich kann das Ganze leicht erklären. Wenn man eine Gruppe stigmatisiert und sagt, weil es eine Gruppe ist, ihre kulturelle oder religiöse Eigenart, dann lässt sich das wiederholen. Im 19. Jahrhundert, beginnend im 18. Jahrhundert, hat man die Juden stigmatisiert wegen ihrer Religion. Da sagte man dann, weil im Talmud dieses und jenes steht, sind die böse und schlecht.
Wenn ich jetzt, im Jahre 2007, 2009 lese, dass die Muslime, weil in ihren heiligen Büchern, im Koran dieses oder jenes angeblich steht, potenzielle und wirkliche Verbrecher sind, dann ist doch die Parallele vollkommen klar und deutlich, dass Ausgrenzung stattfindet über Gruppendefinition. Auf dieses aufmerksam zu machen, glaube ich, ist ein Gebot der Wissenschaft, denn sonst haben wir auch aus dem Holocaust und der Erfahrung und aller Aufklärungsbemühungen nach dem Holocaust nichts gelernt.
Pokatzky: Was haben wir vielleicht daraus gelernt, wenn wir an eine jahrzehntelange, ja, in den 60er-Jahren langsam einsetzende, in den 70er-Jahren dann heftiger, in den 80er-Jahren sehr heftig ausgetragene Aufarbeitung unserer nationalsozialistischen Vergangenheit sehen? Was haben wir wirklich gelernt?
Benz: Dann haben wir nichts gelernt, wenn wir daraus nicht die Lehre ziehen: Wir dürfen nicht eine Gruppe stigmatisieren und ausgrenzen, seien das die Sinti und Roma, seien es Muslime, seien es Homosexuelle oder sonst wer, denn hier haben wir die Blaupause, was mit Ausgrenzung, Stigmatisierung am Ende passieren kann.
Pokatzky: Haben wir gelernt?
Benz: Ich hoffe, dass wir gelernt haben, das erweist sich im Augenblick in der derzeit laufenden Debatte über Integration, die in Wirklichkeit eine Identitätsdebatte ist.
Pokatzky: Was meinen Sie damit genau?
Benz: Damit meine ich: Es geht um die Ängste der Deutschen, es geht um das Selbstverständnis, da werden jetzt ausländische und aus dem Ausland zu uns gekommene Mitbürger als Folie benützt zur Selbstvergewisserung, um Überfremdungsängste, um Existenzängste zu bearbeiten. Deshalb ist das eine Identitätsdebatte, wie wir sie auch im 19. Jahrhundert nach der Reichsgründung hatten, in einer ähnlichen Situation wie heute.
Pokatzky: Mit einer identitätsstiftenden Wirkung?
Benz: Das ist offen.
Pokatzky: Aber wie gefährlich ist das?
Benz: Das ist aus den Augen des Vorurteilsforschers sehr gefährlich, wenn Identität gestiftet wird über die Ausgrenzung von anderen, wenn dabei Werte, demokratische Werte wie Toleranz und Liberalität auf der Strecke bleiben. Und es gibt zu viele, die im Augenblick dazu aufrufen, diese Werte über Bord zu werfen. Da gibt es einen, der sagt, man muss sie mit der Axt ins Bad verfolgen. Dann kann eine Identitätsdebatte ein schauriges Ende finden.
Pokatzky: Ich spreche mit Wolfgang Benz, seit 20 Jahren Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung in der Technischen Universität Berlin. Herr Benz, in diesen 20 Jahren, 1990, als Sie Leiter des Zentrums wurden, das Wiedervereinigungsjahr, jetzt 20 Jahre später – hat sich Antisemitismus in diesen 20 Jahren in Deutschland verändert, hat er zugenommen, hat er abgenommen?
Benz: Es wird immer wieder behauptet, der Antisemitismus habe ungeheuer zugenommen, und die Lage sei nie so ernst. Tatsächlich ist der Antisemitismus eine ziemlich konstante Größe im Denken. Im Bewusstsein von ungefähr 20 Prozent der Deutschen spielt die Furcht, spielen Phobien, spielen Abneigungen, spielen negative Einstellungen gegenüber Juden eine Rolle. Das heißt, hier ist ständig und auch auf Dauer Arbeit zu investieren, Aufklärungsarbeit gegenüber und mit den Medien, Aufklärungsarbeiten gegenüber und mit den Schulen, mit den Bürgern.
Pokatzky: Aber hat sich was verändert? Ist etwas besser oder schlechter geworden oder ist es alles gleich geblieben?
Benz: Es hat sich nicht dramatisch geändert, dass also jetzt die Antisemiten wutschnaubend durchs Dorf laufen würden, aber was ich immer wieder betone: In der Einstellung ist Antisemitismus nicht verschwunden, alle paar Jahre testet das dann wieder irgendjemand, Möllemann, Hohmann, und dann zeigt sich, dass ...
Pokatzky: Also Politiker.
Benz: ... dass Schwerarbeit notwendig ist, um die Dämme zum Halten zu bringen.
Pokatzky: Was heißt Antisemitismusforschung überhaupt? Kann ich das bei Ihnen studieren?
Benz: Das können Sie bislang noch nicht studieren.
Pokatzky: Das hätten Sie aber gerne?
Benz: Das hätte ich natürlich sehr gerne. Durch die Universitätsstrukturreform ist unser früheres Klintel, nämlich Lehrer, Historiker, Politikwissenschaftler, das ist jetzt verschwunden. Deshalb gehörte es noch zu meinen Anstrengungen, am Ende meiner Amtszeit einen Masterstudiengang einzurichten, dass man also künftig ... da herrscht auch große Nachfrage danach und die Fakultät steht dem sehr wohlwollend gegenüber. Ich halte das auch für dringend erforderlich für die Fortexistenz des Zentrums für Antisemitismusforschung als Universitätsinstitut, dass es künftig einen Masterstudiengang gibt, in dem man Vorurteilsforschung mit einer ganz starken Betonung auf dem Vorurteil gegenüber den Juden studieren kann.
Pokatzky: Sie sind damit nicht durchgekommen. Heißt das, dass das Zentrum für Antisemitismusforschung doch immer noch so etwas wie ein Fremdkörper an der Technischen Universität Berlin ist?
Benz: Nein. Das Zentrum für Antisemitismusforschung war nie ein Fremdkörper an der Technischen Universität, das Zentrum ist immer sehr gut behandelt worden. Das ist mir ganz wichtig, das zu betonen, und ich bin auch sicher, dass dieser Masterstudiengang eingerichtet wird, denn der ist einfach notwendig, und die Fakultät will ihn auch.
Pokatzky: Wenn Sie jetzt mal so die letzten 50 Jahre Revue passieren lassen, wo wir wirklich angefangen haben, wir Deutschen, zumindest erst einmal wir Westdeutschen, uns mit unserer nationalsozialistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen – Auschwitzprozess in Frankfurt in den 60er-Jahren als Stichwort –, können wir unter dem Strich, wenn wir Bilanz ziehen, Stolz auf uns sein?
Benz: Nein, das können wir nicht. Wir können einigermaßen zufrieden sein. Wenn aber jetzt durch ein Buch eine Debatte losgetreten wird, ...
Pokatzky: Sie meinen das Sarrazin-Buch.
Benz: ... in der sich 60 Prozent nach neuesten Umfragen der Deutschen als Ausländerfeinde zeigen, dann haben wir keinen Grund, stolz zu sein, dann müssen wir noch einiges nacharbeiten und lernen.
Pokatzky: Danke, Wolfgang Benz, seit 20 Jahren Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin, und heute gibt es ab 17 Uhr die große Abschiedsfeier im Lichthof der Technischen Universität, allerdings Anmeldefristen sind verstrichen, und ich glaube, es sind viel mehr Leute da, als in den Lichthof reinpassen, richtig?
Benz: Richtig.
Wer ein solches Buch zum 65. geschenkt bekommt, der muss viel geleistet haben, da reicht es nicht, dass er einer der renommiertesten Zeithistoriker ist, dass er nun 20 Jahre lang, seit 1990, das Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin geleitet hat. Da hat sich ja auch einer viele, treue Freunde gemacht. Willkommen im Studio, Wolfgang Benz!
Wolfgang Benz: Guten Tag!
Pokatzky: 1990 haben Sie als der zweite Leiter das Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin übernommen. Wie war das damals, 1990? Welche Position hatte das Zentrum damals in der Gesellschaft, in der Wissenschaft, und welche Position hat es heute?
Benz: Ich denke, das Zentrum war schon ziemlich renommiert, das lag an der Gestalt des Gründungsdirektors Herbert A. Strauss, und es hatte sich auch in der Öffentlichkeit einen Namen gemacht. Mich hat man dann zu Beginn meiner Amtszeit darauf aufmerksam gemacht, es gäbe hier vielleicht noch etwas zu tun, um das Zentrum in der Lehre und auf dem Publikationswesen zu profilieren. Da habe ich dann vielleicht auch am stärksten neue Wege beschritten durch die Gründung des Jahrbuchs für Antisemitismusforschung, nach dessen 20. Jahrgang im nächsten Frühjahr ich die Herausgeberschaft abgeben werde, durch Gründung etlicher Buchreihen. Also ich glaube, ich habe dem Zentrum das äußere Profil gegeben, das es in der akademischen Welt in den Gründerjahren noch nicht hatte.
Pokatzky: Es ist jetzt etabliert. Sind Sie stolz auf dieses Werk?
Benz: Ich bin so einigermaßen zufrieden, zu Stolz besteht kein Anlass, denn es hört ja nicht auf, es gibt ja da auch künftig sehr viel zu tun.
Pokatzky: Was genau?
Benz: Deshalb werde ich ja nun von einer Meute von ziemlich erregten und hasserfüllten Menschen insbesondere aus der Bloggerszene angegriffen. Wenn man andere Minderheiten in den Blick nimmt, was übrigens schon mein Vorgänger Strauss empfohlen hat, das zu tun, also wenn man die Antisemitismusforschung erweitert zu Vorurteilsforschung und andere Minderheiten in den Blick nimmt, dann kann man durchaus Ärger bekommen. Ich habe den Ärger bekommen oder man hat versucht, mich zu ärgern, weil ich vor zwei Jahren in einer Konferenz das Problem des Hasses gegen Muslime als einer Gruppe dargestellt habe.
Pokatzky: Und Sie haben es verglichen mit Antisemitismus im 19. Jahrhundert.
Benz: Ja. Vergleichen ist nicht gleichsetzen, vergleichen ist eine wissenschaftliche Methode, eine Wissenschaft, ohne Sachen miteinander zu vergleichen, gibt es gar nicht.
Pokatzky: Aber was meinen Sie denn jetzt konkret damit? Antisemitismus des 19. Jahrhunderts, also vor dem Nationalsozialismus – und welche Tendenzen meinen Sie bei Antimuslimen heute, wo Sie vergleichen (…)?
Benz: Ich kann das Ganze leicht erklären. Wenn man eine Gruppe stigmatisiert und sagt, weil es eine Gruppe ist, ihre kulturelle oder religiöse Eigenart, dann lässt sich das wiederholen. Im 19. Jahrhundert, beginnend im 18. Jahrhundert, hat man die Juden stigmatisiert wegen ihrer Religion. Da sagte man dann, weil im Talmud dieses und jenes steht, sind die böse und schlecht.
Wenn ich jetzt, im Jahre 2007, 2009 lese, dass die Muslime, weil in ihren heiligen Büchern, im Koran dieses oder jenes angeblich steht, potenzielle und wirkliche Verbrecher sind, dann ist doch die Parallele vollkommen klar und deutlich, dass Ausgrenzung stattfindet über Gruppendefinition. Auf dieses aufmerksam zu machen, glaube ich, ist ein Gebot der Wissenschaft, denn sonst haben wir auch aus dem Holocaust und der Erfahrung und aller Aufklärungsbemühungen nach dem Holocaust nichts gelernt.
Pokatzky: Was haben wir vielleicht daraus gelernt, wenn wir an eine jahrzehntelange, ja, in den 60er-Jahren langsam einsetzende, in den 70er-Jahren dann heftiger, in den 80er-Jahren sehr heftig ausgetragene Aufarbeitung unserer nationalsozialistischen Vergangenheit sehen? Was haben wir wirklich gelernt?
Benz: Dann haben wir nichts gelernt, wenn wir daraus nicht die Lehre ziehen: Wir dürfen nicht eine Gruppe stigmatisieren und ausgrenzen, seien das die Sinti und Roma, seien es Muslime, seien es Homosexuelle oder sonst wer, denn hier haben wir die Blaupause, was mit Ausgrenzung, Stigmatisierung am Ende passieren kann.
Pokatzky: Haben wir gelernt?
Benz: Ich hoffe, dass wir gelernt haben, das erweist sich im Augenblick in der derzeit laufenden Debatte über Integration, die in Wirklichkeit eine Identitätsdebatte ist.
Pokatzky: Was meinen Sie damit genau?
Benz: Damit meine ich: Es geht um die Ängste der Deutschen, es geht um das Selbstverständnis, da werden jetzt ausländische und aus dem Ausland zu uns gekommene Mitbürger als Folie benützt zur Selbstvergewisserung, um Überfremdungsängste, um Existenzängste zu bearbeiten. Deshalb ist das eine Identitätsdebatte, wie wir sie auch im 19. Jahrhundert nach der Reichsgründung hatten, in einer ähnlichen Situation wie heute.
Pokatzky: Mit einer identitätsstiftenden Wirkung?
Benz: Das ist offen.
Pokatzky: Aber wie gefährlich ist das?
Benz: Das ist aus den Augen des Vorurteilsforschers sehr gefährlich, wenn Identität gestiftet wird über die Ausgrenzung von anderen, wenn dabei Werte, demokratische Werte wie Toleranz und Liberalität auf der Strecke bleiben. Und es gibt zu viele, die im Augenblick dazu aufrufen, diese Werte über Bord zu werfen. Da gibt es einen, der sagt, man muss sie mit der Axt ins Bad verfolgen. Dann kann eine Identitätsdebatte ein schauriges Ende finden.
Pokatzky: Ich spreche mit Wolfgang Benz, seit 20 Jahren Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung in der Technischen Universität Berlin. Herr Benz, in diesen 20 Jahren, 1990, als Sie Leiter des Zentrums wurden, das Wiedervereinigungsjahr, jetzt 20 Jahre später – hat sich Antisemitismus in diesen 20 Jahren in Deutschland verändert, hat er zugenommen, hat er abgenommen?
Benz: Es wird immer wieder behauptet, der Antisemitismus habe ungeheuer zugenommen, und die Lage sei nie so ernst. Tatsächlich ist der Antisemitismus eine ziemlich konstante Größe im Denken. Im Bewusstsein von ungefähr 20 Prozent der Deutschen spielt die Furcht, spielen Phobien, spielen Abneigungen, spielen negative Einstellungen gegenüber Juden eine Rolle. Das heißt, hier ist ständig und auch auf Dauer Arbeit zu investieren, Aufklärungsarbeit gegenüber und mit den Medien, Aufklärungsarbeiten gegenüber und mit den Schulen, mit den Bürgern.
Pokatzky: Aber hat sich was verändert? Ist etwas besser oder schlechter geworden oder ist es alles gleich geblieben?
Benz: Es hat sich nicht dramatisch geändert, dass also jetzt die Antisemiten wutschnaubend durchs Dorf laufen würden, aber was ich immer wieder betone: In der Einstellung ist Antisemitismus nicht verschwunden, alle paar Jahre testet das dann wieder irgendjemand, Möllemann, Hohmann, und dann zeigt sich, dass ...
Pokatzky: Also Politiker.
Benz: ... dass Schwerarbeit notwendig ist, um die Dämme zum Halten zu bringen.
Pokatzky: Was heißt Antisemitismusforschung überhaupt? Kann ich das bei Ihnen studieren?
Benz: Das können Sie bislang noch nicht studieren.
Pokatzky: Das hätten Sie aber gerne?
Benz: Das hätte ich natürlich sehr gerne. Durch die Universitätsstrukturreform ist unser früheres Klintel, nämlich Lehrer, Historiker, Politikwissenschaftler, das ist jetzt verschwunden. Deshalb gehörte es noch zu meinen Anstrengungen, am Ende meiner Amtszeit einen Masterstudiengang einzurichten, dass man also künftig ... da herrscht auch große Nachfrage danach und die Fakultät steht dem sehr wohlwollend gegenüber. Ich halte das auch für dringend erforderlich für die Fortexistenz des Zentrums für Antisemitismusforschung als Universitätsinstitut, dass es künftig einen Masterstudiengang gibt, in dem man Vorurteilsforschung mit einer ganz starken Betonung auf dem Vorurteil gegenüber den Juden studieren kann.
Pokatzky: Sie sind damit nicht durchgekommen. Heißt das, dass das Zentrum für Antisemitismusforschung doch immer noch so etwas wie ein Fremdkörper an der Technischen Universität Berlin ist?
Benz: Nein. Das Zentrum für Antisemitismusforschung war nie ein Fremdkörper an der Technischen Universität, das Zentrum ist immer sehr gut behandelt worden. Das ist mir ganz wichtig, das zu betonen, und ich bin auch sicher, dass dieser Masterstudiengang eingerichtet wird, denn der ist einfach notwendig, und die Fakultät will ihn auch.
Pokatzky: Wenn Sie jetzt mal so die letzten 50 Jahre Revue passieren lassen, wo wir wirklich angefangen haben, wir Deutschen, zumindest erst einmal wir Westdeutschen, uns mit unserer nationalsozialistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen – Auschwitzprozess in Frankfurt in den 60er-Jahren als Stichwort –, können wir unter dem Strich, wenn wir Bilanz ziehen, Stolz auf uns sein?
Benz: Nein, das können wir nicht. Wir können einigermaßen zufrieden sein. Wenn aber jetzt durch ein Buch eine Debatte losgetreten wird, ...
Pokatzky: Sie meinen das Sarrazin-Buch.
Benz: ... in der sich 60 Prozent nach neuesten Umfragen der Deutschen als Ausländerfeinde zeigen, dann haben wir keinen Grund, stolz zu sein, dann müssen wir noch einiges nacharbeiten und lernen.
Pokatzky: Danke, Wolfgang Benz, seit 20 Jahren Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin, und heute gibt es ab 17 Uhr die große Abschiedsfeier im Lichthof der Technischen Universität, allerdings Anmeldefristen sind verstrichen, und ich glaube, es sind viel mehr Leute da, als in den Lichthof reinpassen, richtig?
Benz: Richtig.