"Wir freuen uns über jede Zuschrift"

Von Rainer Link |
Jeden Tag verfassen heute viele Tausend Mitbürger Leserbriefe an ihre Zeitung, häufig ist dies ein Ventil für Verärgerung. Deshalb sind auch nicht alle Briefe immer sachlich und ausgewogen, manche sogar vorurteilsbehaftet: eben Volkes Meinung. Pressehistoriker wissen, dass es diese Art der Wortmeldungen seit über 200 Jahren gibt.
"Liebe Leser, wir freuen uns über jede Zuschrift. Eine Garantie für die Veröffentlichung können wir jedoch nicht übernehmen. Je kürzer der Leserbrief, desto größer die Chance seines Abdrucks. Die Redaktion behält sich das Recht auf Kürzungen vor. Der Inhalt der Leserbriefe gibt nicht notwendigerweise die Meinung der Redaktion wieder."

So oder ähnlich lauten die restriktiven Spielregeln, denen sich die Autoren von Leserbriefen zu unterwerfen haben. Trotzdem greifen jeden Tag viele Tausend Leser zum Schreibgerät und hoffen auf Veröffentlichung. Der Leserbrief ist mittlerweile über zwei Jahrhunderte alt und aus dem deutschen Zeitungswesen gar nicht mehr wegzudenken, sagt Andrea Mlitz, Kommunikationswissenschaftlerin aus München:

"Der erste Leserbrief, der in einer Zeitung erschienen ist, das kann man heute sehr präzise sagen, nach Pressehistorikermeinung, das war 1786 und da ging´s darum, wie man gut mit wenig Holz durch den Winter kommt und es trotzdem warm hat. Also das Beispiel zeigt schon, es waren sehr praktische Themen aus dem Leben gegriffen. Da ging es um Lebensberatung und Vermittlung von Alltagswissen."

Veröffentlicht in den "Moralischen Wochenschriften", herausgegeben vom schreibkundigen Landpfarrer Bräß. Zu einer Zeit, als etwa nur zehn Prozent der Deutschen lesen und schreiben konnten.
Solche Briefe dienten in erster Linie der Vermittlung aufklärerischer und erzieherischer Ziele und ähneln dem, was wir heute unter dem Begriff Ratgeberjournalismus fassen. Das Wort Leserbrief passt auf diese Sorte historischer Texte jedenfalls nur schwerlich, denn man täuschte nur vor, dass der Brief von einem Autor aus dem Kreis der Leserschaft stammte.

"Es waren natürlich in allererster Linie in den Anfängen die Herausgeber selbst, die diese Leserbriefe geschrieben haben."

Die Funktion dieser – heute würde man sagen "gefaketen" - Briefe bestand darin, "sittlich lehrhafte" Themen unters Volk zu bringen. Also etwa die Frage: Dürfen Weibsbilder Zeitung lesen? Der Herausgeber der Rothen Zeitung schildert unter dem Pseudonym Jeremia Friedlieb ein Zerwürfnis in einer wohl frei erfundenen Nachbarschaftsfamilie.

"Mein Nachbar lieset alle fremden Zeitungen, die zu haben sind, und seine Frau lieset nur die Rothe-Zeitung. Diese weiß was sie gelesen und wie es in der Welt hergeht, und der Mann ist nach einem Wuste von Zeitungen und Nachrichten aus Reußen und Preußen eben so klug als Vorher. .. Der Mann ist von allem Lesen ganz confus, bringt viel Zeit damit hin, und weiß zuletzt von allem nichts. Darüber gerathen sie aneinander, das setzte denn zwischen beiden kein gut Geblüte."

Für das ausgehende 18. Jahrhundert gilt: Zeitungen sind in Deutschland Teil der herrschenden Verhältnisse. Eine "Meinungspresse mit räsonierendem Publikum" ist verboten. Unterhaltung und Belehrung fordert zum Beispiel die Redaktion des Westfälischen Anzeigers von ihren schreibwilligen Lesern:

"Schreibt Heiteres, Harmloses, den Glauben an die Menschheit Stärkendes, und müßt Ihr Schlimmes berichten, tut es schonend und mit der Trauer des Menschenfreundes. In keinem Leserbrief, auch nicht in einzelnen Ausdrücken dürfen die heiligen Gesetze der Humanität, dieser edlen Tochter der feineren Bildung und der geläuterten Empfindungen verletzt werden. Wohlwollen und Güthe athme überall."

Mlitz: "Das Politische kam generell in die Zeitungen und Zeitschriften erst sehr viel später. Das hängt damit zusammen, dass eine sehr rigide Zensurpolitik an der Tagesordnung war und alles Politische der Zensur unterlag und somit auch nicht in den Medien stattfand."

Der Anspruch auf Meinungs- und Pressefreiheit wurde in Deutschland lange Zeit nur von Minderheiten erhoben. Zwar forcierte die Französische Revolution das Streben nach der Freiheit des Wortes auch bei uns, sodass in Phasen nachlassender Zensur in wenigen, mutig geführten Blättern geurteilt, argumentiert und attackiert wurde; der publizistische Durchbruch erfolgte dann aber erst mit der Märzrevolution 1848.

Die Zeitungen übernehmen jetzt einen meinungsbildenden Part und mit dieser aufkommenden Gesinnungspresse sind Namen wie Ludwig Börne, Heinrich Heine und Karl Marx verbunden. Auf den Leserbriefseiten werden nun munter politische Schlachten geschlagen: Zum Beispiel von Julius Ostendorf, 1848 Abgeordneter des Paulskirchen Parlaments. Er ist der eifrigste Leserbriefautor des "Soester Kreisblatt."

"Sie sprechen von den Empfindungen eines tiefen Schmerzes über das Opfer, welches Preußen bringen solle, um an Deutschlands Spitze zu treten. Meine Herren! Auch ich erkenne das, .... als ein Opfer, ein großes Opfer an. Es ist schmerzlich - ich fühle das mit Ihnen - den Namen Preußen, bei dessen Klang aller Preußen Herzen vor Freude und Stolz erbebten, aufzugeben, ihn nicht mehr hören, ihn aus den Blättern der Geschichte verschwinden sehen zu sollen... Preußen gibt, wenn es in Deutschland aufgeht ganz Anderes hin, als Baden, Hessen, Oldenburg, Anhalt und die übrigen Länder Deutschlands."

1874 wird das erste Reichspressegesetz beschlossen und das Entstehen politischer Parteien und Strömungen sorgt für publizistische Vielfalt. Die Zeitungen werden für damalige Verhältnisse zu einem lebendigen Meinungsforum. Der Leser darf seine politische Sicht an das Blatt seiner Wahl expedieren, zum Beispiel an den "Westfälischen Anzeiger", allerdings doch noch unter recht rigiden Einschränkungen der Herausgeber:

"Gegenstände, welche Staaten, ihre Verfassungen, die Obrigkeiten betreffen, sind, welcher Biedere stimmt nicht damit ein, mit gebührender Achtung und mit Würde zu behandeln. Auch glauben wir bitten zu dürfen, dass man sich aller Leidenschaft und Ausfälle, und vornehmlich der hämischen Behandlung irgend eines Gegenstandes enthalte."

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat es der Leserbrief als beständige Rubrik in alle Zeitungen und Zeitschriften gebracht. Er ist zu einer festen Größe in der Publizistik geworden. In der Weimarer Republik beginnt man, sich analytisch mit dem Phänomen dieser Leserpost zu beschäftigen. Die Zunft der Zeitungswissenschaftler kann allerdings den unverlangt eingesandten Briefen mehrheitlich nichts Positives abgewinnen. Man qualifiziert Leserzuschriften sogar als Ergüsse von "Gewohnheitschwätzern und Besserwissern." So schreibt der Zeitungswissenschaftler Emil Dovidat 1930:

"Jede Redaktion kennt die Nimmermüden und Immerandersdenkenen, die in lärmenden und überheblichem Vorwurf das Ihrige anbringen müssen. Man freut sich der Nähe des Papierkorbs angesichts solcher Briefe."

Und Max Wiesner, auch er kein Freund des sogenannten "Autorenproletariats", glaubte 1931 in seinem Werk "Der unzufriedene Leser" feststellen zu müssen:

"Die Stimme des Lesers ist in der Regel die Stimme der Unsachlichkeit, der Ungerechtigkeit und in sehr vielen Fällen die Stimme der völligen Verständnislosigkeit."

Karl Kraus, der österreichische Publizist, gründete 1899 in Wien die Zeitschrift "Die Fackel". Anfang April dieses Jahres erschien die erste Nummer dieser politisch-satirischen Zeitschrift. Kraus sparte in seinen Artikeln nicht an Polemik und er pflegte auch ein durchaus zwiespältiges Verhältnis zu seinen Lesern und insbesondere deren Briefen an die Redaktion.

""... habe ich denn nicht oft genug bewiesen, dass mir der Wunsch des Lesers eher Verbot als Befehl ist? Nicht offen bekannt, dass ich die Abhängigkeit vom Publikum als die schlimmste aller publizistischen Unfreiheiten empfinde."

Bereits zum Ende des ersten Quartals der neuen Zeitschrift, Ende Juni 1899, bilanzierte Kraus neben dem Eingang von wenigen lobenden Leserbriefen immerhin 236 anonyme Schmähbriefe und 83 anonyme Drohbriefe.

"Die Absender anonymer Schmähbriefe werden ersucht, sich nochkürzer zu fassen", "

konterte er im Blatt, wohl eher amüsiert als erbost - ohne natürlich auf Resonanz in seiner Leserschaft hoffen zu dürfen.
In den Anfangsjahren der Fackel druckte Karl Kraus Leserbriefe noch in großer Zahl ab – lobende wie quälende. Er ersetzte diese dann aber durch seine Rubrik "Antworten des Herausgebers", in der er sich eloquent und polemisch der Leserpost annahm, ohne dieser aber noch nennenswerten Raum einzuräumen. Überhaupt: Kraus' Bemühungen, Leserbriefe, Einsendungen oder Meinungsäußerungen unterschiedlichster Art seitens der Leser zu unterbinden, bilden in der Geschichte der "Fackel" ein eigenes und amüsantes Kapitel. Immer wieder wandte er sich an seine Briefzusender und verlangte Verzicht und Umkehr.

""Ich ... schreibe keinen Brief und will keinen lesen und verweise auf die völlige Aussichtslosigkeit jedes Versuchs, mich zu irgendeiner der hier angedeuteten oder wie immer beschaffenen, schon in ihrer Vorstellung meine Arbeit störenden, mein Missbehagen an der Außenwelt mehrenden Verbindungen mit eben dieser bestimmen zu wollen, und habe nur noch die Bitte, die auf alle derlei Unternehmungen vergeudeten Porto- und sonstigen Kosten von jetzt der Gesellschaft der Freunde Wiens ... zuzuwenden."

Auch diese drastischen Worte vermochten nicht, den Schwall unerbetener Leserbriefe zu stoppen. Heimlich wird Karl Kraus sich über das überragende Leserecho wohl gefreut haben, nach außen schreckte er aber vor keiner Beleidigung von Leserbriefautoren zurück und drohte einzelnen Lesern sogar, ihnen ihr Abonnement zu kündigen.

Mehr als 35 Jahre bekämpfte der Herausgeber so munter und lustvoll den Schreibtrieb seines Publikums. Im Jahr 1936, in der Zeit des sich auch in Österreich ausbreitenden Faschismus, starb Karl Kraus. Noch auf einige der letzten Fackel - Ausgaben ließ er den Banner drucken:

"Zusendungen welcher Art immer, sind unerwünscht."
Der Faschismus in Deutschland und Österreich sorgte für die Gleichschaltung sämtlicher Zeitungen. Die NSDAP hatte den Wert der Medien für die Propaganda schon früh erkannt. Bereits 1922 formulierte Adolf Hitler:

"Was durch Papierkugeln zu gewinnen ist, braucht dereinst nicht durch stählerne gewonnen zu werden."

Uneins war man sich unter den neuen Machthabern, wie man mit dem Detailproblem des Leserbriefs umgehen sollte. Im Reichsverband der Deutschen Presse votierten nicht wenige dafür, den Leserbrief als "alten Zopf der liberalistischen Epoche" abzuschaffen. Aber es setzten sich dann Mitte der dreißiger Jahre die NS-Medienpolitiker durch, die forderten:

"Man soll den alten Zopf nicht ganz abschneiden, sondern eine schöne Frisur daraus machen, an der jeder seine Freude habe."

Viele Zeitungen animierten ihre Leser nun ausdrücklich, ihre Sichtweisen zu Papier zu bringen. Im Januar 1936 appelliert beispielsweise die Chefredaktion der "Osnabrücker Zeitung" an ihre Leser:

"Hast Du Deiner Zeitung gegenüber nicht die Aufgabe, nicht nur zu nehmen, sondern auch zu geben? Und zwar nicht nur die wenigen Groschen, die du in jedem Monat zu entrichten hast? ... Schreibe alles, was dich bewegt, nieder, und sei es noch so einfach. Und wenn du glaubst, es sei nicht geeignet, vertraue uns. Es sind Männer vorhanden, die deine Gedanken in die richtige Form gießen werden."

Das übelste Hetzblatt im NS-System war zweifellos "Der Stürmer". Das von Julius Streicher herausgegebene Kampfblatt, das in Spitzenzeiten eine Auflage von mehr als 400.000 Exemplaren erreichte, veröffentlichte Listen mit den Namen von Juden, denen man unterstellte, gegen die Rassengesetze verstoßen zu haben. Täglich erhielt das Blatt bis zu 700 Leserbriefe, die nahezu alle der Denunziation jüdischer Menschen dienten. Teilweise wurden ganz konkrete Vorwürfe gegen Juden erhoben und die Denunzierten wurden mit vollem Namen und Adressen in der Hetzzeitschrift genannt. Historisch verbürgt ist, dass die Gestapo allen Hinweisen aus den Leserzuschriften des Stürmers nachging. So wurde aus manchem Leserbrief ein Fahndungsaufruf:
Eine Erna Listing aus Gelsenkirchen, schreibt im Januar 1935 an das Hetzblatt:

"Lieber Stürmer! Gauleiter Streicher hat uns so viel von den Juden erzählt, daß wir sie ganz gehörig hassen. ... Die Juden sind unser Unglück. Leider sagen heute noch viele: 'Die Juden sind auch Geschöpfe Gottes. Darum müßt Ihr sie auch achten.' Wir aber sagen: 'Ungeziefer sind auch Tiere, und trotzdem vernichten wir es.' Der Jude ist ein Mischling. Er hat Erbanlagen von Ariern, Asiaten, Negern und Mongolen. Bei einem Mischling herrscht das Böse vor. ... Auch sehen die Juden in uns das Tier und behandeln uns danach. Geld und Gut nehmen sie uns mit aller List weg. In Gelsenkirchen hat der Jude Grüneberg Aas an uns verkauft. Das darf er nach seinem Gesetzbuch. ... Aber wir lassen uns nicht beirren und folgen dem Führer. Wir kaufen nichts beim Juden. Jeder Pfennig, den wir Ihnen geben, tötet einen unserer Angehörigen. ( Heil Hitler! )"

Nach der Kapitulation Deutschlands wurden von den Siegermächten sämtliche Verlage und Druckereien beschlagnahmt. Eine grundlegende Umstrukturierung unter alliierter Aufsicht begann. Die Presse sollte der Demokratisierung der Bevölkerung dienen. In einer demokratisch verfassten Presselandschaft müssen Redaktionen kritisierbar sein und Leser deshalb einen verbindlichen Zugang ins Blatt finden – so dachten zumindest die amerikanischen und britischen Presseoffiziere. Sie warben – und wenn das nicht half – verordneten einen verbindlichen Dialog zwischen Lesern und Blattmachern.

Mlitz: "Der Leserbrief wurde so zu einem Instrument der Sozialisation ... Stichwort Reeducation. Das Leserbriefschreiben galt bei den Presseoffizieren insbesondere im britischen und US-amerikanischen Sektor als Lehrmittel der freiheitlichen Willensbildung ...
Es war sehr lange so, dass Leserbriefe in deutschen Redaktionen ... ein Mauerblümchendasein führten .... Leserbriefschreiber hatten kein gutes Image ... und der Leserbrief wurde, ja, gelinde gesagt, benutzt, um unten rechts die Seite voll zu machen, wenn mal nachrichtenflaue Zeit war."
Leserbriefe haben heute – im vereinten Deutschland - in fast allen Zeitungen und Zeitschriften einen selbstverständlichen Platz neben den Meldungen aus Politik, Wirtschaft und Kultur erobert. Lang gehegte Ressentiments gegen die vielfach als "Eselsecke" diffamierte Leserbriefseite scheinen überwunden. Aus dem Kleingedruckten auf der vorletzten Seite sind wichtige Bausteine der Tagespresse geworden. Insbesondere in den letzten Jahren hat sich die Tendenz verstärkt, dass Redaktionen den Dialog mit dem Leser ausweiten. Es werden mehr Briefe abgedruckt und einige Chefredakteure sind sich auch nicht mehr zu schade, dem Leser im Blatt direkt zu antworten.
Als ein Neuerer der Leserbrief-Behandlung gilt Claus Strunz. Bis vor kurzem war er Chefredakteur der "Bild am Sonntag" und baute dort die Leserbriefseite deutlich aus.

Strunz: "Weil ich finde, dass die Leserbriefseite einer Zeitung immer so was war wie speakers corner, also eine klassische, ganz urdemokratische Einrichtung zur Meinungsbildung, also ein Forum im klassischen Sinne."

Als weitere Neuerung sorgte Strunz dafür, dass die Zuschriften, die es nicht in die Printausgabe des Blattes mit den großen Buchstaben schafften, im Online-Teil nachlesbar sind. Dort stehen sie nun zu Tausenden im digitalen Spalier. Darunter auch solch pointiert-aggressive Tiraden:

"Schmidt-Schnauze sollte den Mund halten und mit Loki auf den Balkon rauchen gehen. Die Gesellschaft kann nichts lernen von so einem Rentenpolitiker."

Auch christliche Mahnworte zu Bescheidenheit und Demut finden den Weg in Axel Springers Bild-Zeitung für den heiligen Sonntag:

"Ich habe seit mindestens 30 Jahren kein Theater, Kino, Konzert, Zoo oder ähnliches besuchen können. Urlaub ist seit 20 Jahren für mich ein Fremdwort. Deshalb bin ich jedoch weder einsam, traurig oder aggressiv geworden. Mein guter Rat an Familien: Besuchen Sie den Sonntagsgottesdienst, machen Sie einen wunderschönen Spaziergang in der herrlichen Natur. Davon profitieren Leib und Seele."

Gibt es Regeln für das Verfassen von Leserbriefen? Vielleicht diese: Wähle ein aktuelles Thema. Fasse Dich kurz. Formuliere pointiert aber maßvoll. Wichtiger noch die Regel: Beleidige, wen Du willst, aber niemals die Redaktion. Wer seine Zuschrift mit Redakteursschelte spickt, schmälert seine Abdruckchancen um ziemlich genau Einhundert Prozent. So geht´s nicht:

"Und ich habe geglaubt, bei der Dresdner Morgenpost hätten sie heute alle Abitur. Aber angesichts Ihres Geschreibsels habe ich mich wohl getäuscht."

"Ihr Artikel liest sich exakt so, als wäre Ihr Reporter bei der Veranstaltung gar nicht anwesend oder falls doch dann volltrunken gewesen."

Vor einigen Monaten ist Claus Strunz auf den Chefredakteursthron des Hamburger Abendblatts gestiegen. Seitdem kommt mehr Leserpost ins Blatt. Per Mail geschickte Briefe werden als tagesaktuelle Leserkommentare an die redaktionellen Texte montiert. Noch nie sind die Amateurschreiber von ihrer Zeitung so ernst genommen worden.

Strunz: "Ich glaube, wer mit seinen Lesern in einen intensiven Dialog eintritt, macht am Ende auch eine bessere Zeitung."

Wie viele Leser suchen diesen Dialog?
"Das lässt sich heut gar nicht mehr so genau sagen, weil wir ja auch ganz viele Kommentarfunktionen online haben, wo sich Leser melden, die unsere Themen kommentieren. Im Prinzip auch ein Leserbrief alter Prägung, aber im neuen digitalen Gewand. Ich würde mal über den Daumen sage, wir haben am Tag so 200 bis 300 Leserbriefe auf allen Kanälen."

Andrea Mlitz hat erforscht, wer schreibt.

"Es ist so, dass der Leserbriefschreiber überwiegend männlich ist, ... er gehört tendenziell der Altersgruppe 50 plus an. Und wenn man sich anschaut, was der Leserbriefschreiber neben dem Leserbriefschreiben macht, dann handelt es sich meistens um ... Lehrer oder Rentner."

Man wolle den Lesern das Blatt zur Verfügung stellen, schrieb die Redaktion in die erste taz-Ausgabe im Sommer 1979. Die Leser ließen sich nicht zweimal bitten. Da gab es manchmal mehr als eine Seite Schelte für die Abweichungen der Redaktion und es tobten Schlachten um die korrekte Linie, erinnert sich Gabriel von Thun, die von Anfang an dieser Nahtstelle des Leser-Blatt-Dialogs stand:

"Es ist eher ablehnende Kritik natürlich. Ich denke, wenn zehn Prozent Zustimmung ist, dann ist das wahrscheinlich viel. Es ist wahrscheinlich normal, dass man sich eher äußert, wenn einem was nicht gefällt, als das, wenn es einem gefällt. Das ist im täglichen Leben auch nicht anders."

Zehn Prozent Zustimmung, 80%anteile äztender Kritik und zehn Prozent undruckbare Hetze oder Nörgelei - das ist kein ungewöhnliches Mischungsverhältnis in der deutschen Presselandschaft. Das Gros kritischer oder vermeintlich destruktiver Leserbriefe wird minimiert, indem man dem lobenden Zuschriftenversender mit deutlich größeren Abdruckkontingenten belohnt.
Aber natürlich gibt es ihn, den Nörgler, den Meckerer, den Hetzer, den Querulanten, der glaubt, mit der Lizenz zum Schreiben ausgestattet zu sein. Wie geht man mit ihm um?

Von Thun: "Da ist es so, dass telefonisch mit Leserbriefschreibern nicht gesprochen wird. Wenn alle anrufen, dann kann ich meine Arbeit hier einpacken, dann muss ich mich mit allen auseinandersetzen und deswegen, werden Telefongespräche gar nicht zu mir durchgestellt."

Andrea Mlitz hat viele Leserbrief-Autoren angeschrieben und nach ihren Beweggründen befragt:

"Allgemein ist der Grundtenor von Leserbriefen eher kritisch. Vielen geht es auch um eine Richtigstellung oder um eine Kommentierung eines Sachverhalts. Nicht wenige nennen auch Ärger oder gar Wut als Motivation, um einen Leserbrief zu schreiben. Ich erinnere mich besonders gut an einen Leserbriefschreiber, der seine Motivation in die Worte faste: Ja, ich will endlich mal klar und deutlich aussprechen, was Otto Normalverbraucher so denkt."

Manch Autor eines Leserbriefs ist ein Wüterich. Wird sein unter Volldampf formuliertes Pamphlet nicht abgedruckt oder genau an der Stelle gekürzt, die er für die essenziell wichtigste hielt, verwandelt sich der Wütende in den Rasenden. Von Leserbrief zu Leserbrief wird der Ton des Abgewiesenen gereizter, was objektiv seine Abdruckchancen weiter schmälert. Die folgenden Schreiben schickt er gar nicht mehr an die Leserbriefredaktion, er adressiert sie gleich an den Chefredakteur und klagt die Inkompetenz, Arroganz und das Desinteresse der subalternen Redakteure an. Solche Notoriker kennt jede Redaktion. Claus Strunz:

"Auch die Nörgler sind eine Minderheit. Bevor die zu meinem Brieffreund werden, weil ich antworte und die antworten wieder und umgekehrt, rufe ich einmal in der Woche ... drei bis fünf Leser, darunter auch die Nörgler direkt an. Die sind dann immer total überrascht, dass der Benörgelte sich selbst meldet und sind dann meist sehr, sehr versöhnlich."

Aus Sicht vieler Leserbrief-Autoren sitzen die schlimmsten Zensoren nicht in Peking oder Nord-Korea, sondern in der Redaktion ihrer Heimatzeitung. Sie sortieren unbotmäßige Meinungen aus, sie schmeißen weg, sie verstehen keine Ironie, sie verachten originelle Denkansätze, sie bilden ein ehernes Bollwerk gegen kraftvolle Gossensprache. Kurzum: Sie demotivieren den Hobby-Autor. Das Internet dagegen ist der Ort, an dem jeder, aber auch wirklich jeder, seine Meinung per E-Mail zensurfrei positionieren kann: der Dissident ebenso wie der Demagoge oder der Depp. In den Online-Ausgaben deutscher Zeitschriften und Zeitungen boomt deswegen der elektronische Leserbrief.

Strunz: "Der Anteil der E-Mails ist signifikant, es schreiben eben nicht die älteren Menschen Briefe und die jüngeren Menschen Mails, sondern es geht durcheinander. ... Also, es wäre ein Irrglaube, das als Mail jetzt schnell hingeschriebener, nicht mehr durchdachter erster Gedanke formuliert wird, während der getippte, mit Schreibmaschine getippte Brief elaborierter war. Das ist nicht der Fall. Es ist aber erkennbar, dass vor allem jüngere Menschen sich nicht mehr die ganz große Mühe geben, es noch mal Korrektur zu lesen. Sondern gesendet ist gesendet."

Richtig große Mühe muss sich geben, wer seinen Leserbrief in der FAZ, der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" abgedruckt sehen will. Hier heißt der Leserbrief nicht einfach Leserbrief, hier gibt es die Rubrik "Briefe an die Herausgeber". Und in diesen Briefen an die geschätzten Herren hat ein Stilmittel überhaupt keinen Platz: die polemische Attacke auf ein Mitglied oder einen Artikel der Redaktion. FAZ- Leser bedanken sich höflich für die Informationen und den Geist der gedruckten Werke. Allenfalls erlauben sie sich die eine oder andere Zusatzinformation anzudienen. FAZ-Leserbriefschreiber glänzen sehr häufig durch akademische, militärische oder Adelstitel. Überproportional viele Oberstudienräte, Professoren, Rittmeister a.D. und Bundeswehr-Generalstäbler im Ruhestand schmücken die Seite mit den Briefen an die Herausgeber. Der konservative Konsens der Redaktion wird nicht selten in geschichtsrevisionistischer Art überboten. Etwa, wenn FAZ-Leser Konrad P., seinerzeit Pilot in Goehrings Luftwaffe, selbige in Schutz nimmt:

"Im Vergleich zu den Verwüstungen der Royal Air Force in unsrem Land ist es falsch zu behaupten, daß die deutsche Luftwaffe verheerende Luftangriffe auf englische Städte geflogen hat. Tatsache ist, daß die Luftwaffe nicht gegen das englische Volk Krieg führte, sondern gegen dessen Kriegspotential. Die deutsche Vorschrift für die Luftkriegsführung, die L.Dv 16" erlaubte keine Terrorangriffe. Sie ließ lediglich Vergeltungsangriffe zu, wie es später durch die V1 und V" erfolgte."

Leser des gehobenen Feuilletons greifen besonders gern zum Stift oder in die Tastatur. Zuschriften an die Kultur-Ressorts bemühen sich immer um ein hohes Niveau und meist wird dies Ziel nicht verfehlt. Man will sich messen mit den Autoren und Redakteuren, die für Gehalt oder Zeilenhonorar die Feuilletonseiten mit intellektuellem Zierrat füllen. Viele Leser schreiben, weil sie etwas Unkorrektes entdeckt zu haben glauben. Andere entdecken tatsächlich Unkorrektes und beweisen dadurch, dass eingeschränkte Faktenkenntnis auch unter Edelfedern vorkommen kann. Eine Klarstellung an die Süddeutsche Zeitung:

""... der Man heißt nicht Freiherr vom Stein, sondern Freiherr vom und zum Stein und er initiierte nicht die Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde, sondern die Gesellschaft für Deutschlands ältere Geschichtskunde, die von dieser Gesellschaft herausgegebene Sammlung waren nicht die Documenta Germaniae Historica sondern die Monumenta Germaniae Historica."

Eloquent formuliert, in der Sache absolut schlüssig.
Aber nicht jeder Amateur-Autor besitzt die Wortgewandtheit des jungen Goethe, hat nicht Ernest Hemingway im Blut und Karl Kraus in der Feder. Und damit sind wir beim Boulevard. Ein Bild-Leserbrief zum Thema Guantanamo:

"Selbstverständlich sollte Deutschland diese Leute aufnehmen. Dann könnten diese Leute hier herrlich von unseren Steuergeldern leben, neue Attentate vorbereiten und die westliche Lebensweise verteufeln. Vor unserer Justiz brauchen diese Leute sich nicht fürchten."

Der erste nachgewiesene Leserbrief in den "Moralischen Wochenschriften" von anno 1786 kreist um die Frage, wie man den heimischen Ofen mit wenig Holz trotzdem gut heizen kann. Der letzte Leserbrief in dieser Sendung, nimmt dieses Thema erneut auf. Leser Georg W. aus Aumühle schreibt anno 2009:
"Hin und wieder spricht man bei den Verlusten auch vom Geld verbrennen – aber so einfach ist das mit den Verlusten der Hypo Real Estate nicht: Bei 100 Millionen Euro am Tag, in 50-Euro-Scheine gestückelt, müssten täglich zwei Millionen Scheine mit einem Gesamtgewicht von ca. 2000 Kilogramm verbrannt werden. Das schafft man mit einem Ofen nicht."

Danke für diese naturwissenschaftlich plausible Klarstellung.