"Wir fühlen uns völlig allein gelassen"
Heike Groos, Oberstabsärztin der Bundeswehr, war zwei Jahre lang in Afghanistan stationiert. In einem Buch über ihre Erlebnisse kritisiert sie die Haltung der Politik: "Man schickt uns auf einen humanitären Einsatz, wir fliegen dort hin - und sind mitten im Krieg."
Deutschlandradio Kultur: Am Mikrofon begrüßt Sie Maike Albath, heute von der Frankfurter Buchmesse.
3.500 deutsche Soldaten sind in Afghanistan stationiert, möglicherweise soll die Truppe im Frühjahr aufgestockt werden. Die Brisanz der Lage bleibt in der Bundesrepublik dennoch abstrakt. Bis vor wenigen Wochen war beschwichtigend meistens von "Friedenssicherung" die Rede, von "militärischen Auseinandersetzungen", von "Aufbauhilfe" und nicht von Krieg. In der Lesart wollen wir heute über zwei Bücher diskutieren, die sich mit Afghanistan beschäftigen.
Ins Studio gekommen ist dazu die Oberstabsärztin der Bundeswehr, Heike Groos, die zwei Jahre lang in Afghanistan stationiert war. Guten Tag, Frau Groos.
Heike Groos: Schönen guten Tag.
Deutschlandradio Kultur: Ebenfalls zu Gast ist Herfried Münkler, Professor für Politikwissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin. Guten Tag, Herr Münkler.
Herfried Münkler: Guten Tag.
Deutschlandradio Kultur: Von Heiße Groos ist in diesem Herbst ein Erfahrungsbericht erschienen - "Ein schöner Tag zum Sterben. Als Bundeswehrärztin in Afghanistan" heißt er. Frau Groos, diese Sprachregelung, wann haben Sie denn zum ersten Mal den Begriff "Krieg" gehört während Ihres Einsatzes oder in der Vorbereitung?
Heike Groos: Bis heute leider nicht, niemals.
Deutschlandradio Kultur: Das wird einfach so gar nicht benannt in der Bundeswehr?
Heike Groos: Nein. Es heißt "Auslandseinsatz" oder "Mission". Und es hieß in der gesamten Zeit, in der ich dort tätig war, "friedensbewahrende Mission". Das war bis 2007. Erst vor kurzem wurde ja dieser Begriff geprägt: "Frieden schaffende Mission."
Deutschlandradio Kultur: Und wie haben Sie untereinander das genannt, mit den anderen Soldaten im Gespräch?
Heike Grooß: Für uns war ganz klar, dass ist nicht nur ein Krisengebiet. Hier sind wir mitten in einem Kriegsgebiet.
Deutschlandradio Kultur: Herfried Münkler, haben Sie eine Erklärung für diese Beschönigung, für diese Art und Weise, damit doch etwas euphemistisch umzugehen?
Herfried Münkler: Es gibt zwei Gründe. Der erste Grund ist versicherungstechnischer Art. Wenn man seine Lebensversicherungs-Police etwas genauer durchschaut, dann sieht man, dass - wenn man in einem Krieg zu Schaden oder zu Tode kommt - das dann Ausschließungsgründe hat. Das ist natürlich ein organisatorisches Problem für die Bundesrepublik. Das erstens. Und das Zweite ist natürlich: Im Unterschied zu einigen unserer westlichen Nachbarn, die eine Reihe dieser kleinen Interventionskriege geführt haben aus ihrer Kolonialgeschichte heraus, hat Krieg in der deutschen Bevölkerung eine völlig andere Assoziation als eben diese Interventionen mit begrenzten Kräften und auch mit begrenzten Verlusten. Das ist sozusagen dann die politisch-psychologische Seite, aus der heraus es vermieden wird. Inzwischen allerdings hat es ja fast was Lächerliches. Denn die Journalisten fragen gewissermaßen den Minister und seine Entourage bei jeder Gelegenheit: "Herr Jung, warum sagen Sie nicht 'Krieg'?" Und er windet sich und windet sich. Und es ist gewissermaßen eine Lust, das zu beobachten.
Deutschlandradio Kultur: Wie ist das denn aus der Perspektive der Soldaten? Wäre es richtig, das anders zu benennen, Heike Groos? Hätte es Ihnen geholfen, auch in der Einstellung, in der Vorbereitung darauf, was Sie dort erwartet?
Heike Groos: Ich finde, das wäre die allerwesentlichste Voraussetzung. Wir fragen uns ja, wenn wir dort in diesem Einsatz sind, tagtäglich nach dem Sinn. Warum sind wir da? Das wird uns so wichtig, dass wir gar nicht mit dem Gedanken leben können, gar nicht weiter drüber nachdenken können. Wir schwimmen. Wir sind im Unsicheren. Wir fühlen uns völlig allein gelassen. Und ein ganz wichtiger, wenn nicht der Hauptgrund dafür, ist, dass wir das Gefühl haben, man ist hier einfach nicht offen und ehrlich. Man lässt uns hier ins Messer rennen. Man schickt uns auf einen humanitären Einsatz und dann fliegen wir dort hin, steigen aus dem Flugzeug, machen die Augen auf und sind mitten im Krieg und fragen uns: warum? Und was sollen wir hier tun? Und warum wir? - und, und, und, Fragen ohne Ende. Wir sehnen uns danach, dass man ehrlich ist.
Deutschlandradio Kultur: Herr Münkler, Sie haben ja in Ihren vielen Büchern und Artikeln den Begriff des "postheroischen Zeitalters" geprägt. Hängt das vielleicht damit zusammen, dass wir gar keine Möglichkeiten mehr haben auch der Einschätzung dessen, was dort passiert, dass wir darüber in der Gesellschaft viel zu wenig diskutieren?
Herfried Münkler: Also, wir haben diese Möglichkeit nicht. Das hat viele Gründe; materielle Gründe in dem Sinne, dass wir eine Gesellschaft sind, die im Prinzip zu wenig Söhne hat, die es sich also nicht mehr leisten kann, relativ hohe Verlustzahlen zu haben in solchen Auseinandersetzungen. Das unterscheidet uns vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Und ja, wir sind eine religiös erkaltete Gesellschaft. Und da Religion ja gewissermaßen der Generator von Opferbereitschaft ist, fehlt da auch was. So müsste man das also in anderer Weise in unsere Gesellschaft kommunizieren. Aber wenn man das kommuniziert, so fürchtet jedenfalls die politische Elite, dann wächst der Widerstand in der Gesellschaft. Man muss gewissermaßen das, was auch Opfer abverlangt, so weit runterhängen, sozusagen so "normalisieren", als sei es gewissermaßen ein Ausflug des Technischen Hilfswerks in bewaffneter Form, damit man die politische Zustimmung hat. Dieser innere Zwiespalt müssen natürlich dann die Soldaten sozusagen in ihrem Kopf und in ihrem Herzen austragen. Das ist eine zweite Zumutung, die ich eigentlich für eine Überforderung halte.
Deutschlandradio Kultur: In Ihrem Buch "Ein schöner Tag zum Sterben", Heike Groos, schildern Sie ja sehr anschaulich, wie die Lage der Soldaten dann ist, als sich die Dinge verschärfen. Wie trat man Ihnen denn von afghanischer Seite gegenüber? "Wave and smile" ist so eine Formulierung, die Sie benutzen. Das wurde Ihnen anempfohlen von offizieller Seite. Wie gingen die Afghanen mit Ihrer Präsenz dort um?
Heike Groos: Dieses Schema hat auch sehr gut funktioniert, wenn wir in die Stadt gefahren sind auf Patrouille und haben gewunken und gelächelt. Zunächst haben wir das getan natürlich wie einstudiert. Und dann haben wir gemerkt, hier kommt ja natürlich auch Reaktion. Wir bekommen genau das Gleiche zurück. Und dann kamen wir ins Gespräch mit den Menschen. Und das, wie gesagt, hat sehr gut funktioniert und wir fühlten uns auf diese Weise gleich. Das ist, finde ich, ganz wesentlich zur Friedens-Schaffung und -Sicherung.
Deutschlandradio Kultur: Herfried Münkler, haben Sie den Eindruck, dass Bücher wie der Erfahrungsbericht von Heike Groos den Druck erhöhen, also, dass sie die Diskussionslage vielleicht auch ein bisschen verändern könnten und das Bewusstsein verstärken dafür, was in Afghanistan wirklich los ist?
Herfried Münkler: Also wenn sie von hinreichend vielen Leuten gelesen werden, dann könnte man sich das vorstellen. Ich möchte in dem Zusammenhang noch sagen, das ist ja eine darstellungstechnisch heikle Angelegenheit, die Frau Groos sich hier vorgenommen hat. Und ich würde meinen, das hat sie mit großer Sensibilität und auch darstellerischem Geschick gelöst - auf der einen Seite zu berichten, was Sache ist und wie das von ihr wahrgenommen wird, und auf der anderen Seite sozusagen die persönliche Betroffenheit, die Folgen für das Leben, die Folgen für die Gesundheit, die psychische Integrität und derlei mehr so mit einzubringen, dass das Ganze ein Ganzes ergibt. Das hat mir sehr gut gefallen. Und insofern ist es auch ein Buch, von dem man nicht nur aus politischen Gründen wollen sollte, dass es möglichst Viele lesen, sondern von dem man auch im Hinblick auf interessierte Leser sagen könnte: Das ist ein Buch, das solltet ihr lesen.
Deutschlandradio Kultur: Ein Psychiater für 4.500 Soldaten ist vorhanden, habe ich gelesen. Also, die Bundeswehr kann offensichtlich nicht mehr medizinisches Personal auch für die Betreuung derjenigen, die aus Afghanistan zurückkehren, bieten. Was müsste sich da ändern, Heike Groos?
Heike Groos: Ich glaube, das ist gar nicht der Punkt. "Ein Psychiater für 4.500 Soldaten" hört sich natürlich schrecklich an und ist ganz bestimmt auch zu wenig, aber ich glaube nicht, dass mehr Psychiater die Lösung wären. Ich wünsche mir, dass in der Bevölkerung ein Umdenken stattfindet. Und wenn das geschieht, dann brauchen wir diese Psychiater gar nicht mehr. Und ich rede von einem Umdenken oder meine damit eine andere Wahrnehmung von uns.
Ich würde mir wünschen, dass wir Soldaten in Deutschland akzeptiert werden als Menschen in unserer Ganzheit, dass auch diese andere Seite von uns, die wir so unterdrücken sollen, diese weiche und mitfühlende und sensible, dieser Anteil von uns auch genauso existieren darf und nicht als Schwäche deklariert wird. Ich denke, wenn wir dann in dieser Ganzheit auftreten dürfen, dann können wir auch viel besser funktionieren unter der anderen Prämisse, die wir eingangs schon besprachen, dass wir auch unser Vertrauen und unsere Loyalität, die wir ganz sicher haben in unsere Regierung und unsere Führung, dass wir die auch bestätigt bekommen und bestärkt, indem man ehrlich und fair mit uns umgeht. Und ganz praktisch würde ich mir wünschen, wenn man uns in den Einsatz schickt, dass man uns von vornherein sagt, warum, dass man uns während des Einsatzes darin begleitet, uns unterstützt mit allen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten - und hier reihen sich die Psychiater ein - und, wenn man zurück nach Hause kehrt, dass man uns dann begleitet auch bis zum Schluss.
Und hier reichen die Psychiater nicht aus. Hier wünschen wir uns unsere Familien, unsere Freunde, unsere Nachbarn, unsere deutsche Bevölkerung, die uns empfängt und sagt: "Wir freuen uns, dass ihr gesund wieder da seid. Und wir verstehen oder versuchen oder anerkennen zumindest, was ihr durchgemacht habt. Und wir halten das für normal. Und wir bieten euch jetzt unsere Schultern an, damit ihr euch wieder erholen könnt." - So etwas ganz Menschliches und ganz Normales, einfach nur Interesse, Zuwendung und Wärme. Und dann brauchen wir keinen Psychiater. Dann brauchen wir ganz normale Menschen, unsere Mitmenschen. Das ist viel, viel wichtiger.
Deutschlandradio Kultur: Herfried Münkler, die Lage in Afghanistan, auch dieses Veteranenproblem, das Heike Groos jetzt ja so indirekt angesprochen hat, damit ist man offensichtlich noch überfordert. Vielleicht können Sie ein Wort dazu sagen, was der Leser, der normalerweise aus der Zeitung erfährt, was in Afghanistan los ist, in Heike Groos’ Buch Neues erfährt über Afghanistan und anderes. Wo ist der Schwerpunkt?
Herfried Münkler: Die Differenz gegenüber dem, was man üblicherweise mitbekommt, wenn man ein Leser von Qualitätszeitungen ist, ist die Binnenperspektive. Sozusagen die ein- und rausfliegenden Journalisten sehen natürlich das von außen und sie sollen das auch so von außen sehen, denn sie müssen ja versuchen, ein möglichst objektives Bild der Lage darzustellen. Damit will ich jetzt nicht sagen, Frau Groos habe ein subjektives Bild, aber sozusagen das Bild, das sie zeichnet, ist natürlich durch ihre persönliche Betroffenheit, durch ihre je eigene Wahrnehmung und auch durch die emotionale Verarbeitung von Problemen, wie etwa dem Anschlag auf der Straße zum Flughafen von Kabul, gekennzeichnet.
Also, es ist eine Darstellung, die von einer großen Empathie gekennzeichnet ist und bei der man dann auch sagen muss: Je länger man liest - am Anfang ist man vielleicht etwas skeptisch, ob vielleicht ein harter Mann das anderes darstellen würde - aber je weiter man liest, desto stärker bekommt man doch den Eindruck, dass es eine ausgesprochen ausgewogene und präzise Darstellung ist. Das ist also eine zusätzliche Komponente, die man auch in Sachbüchern sonst über den Krieg nicht findet und auch nicht finden kann. Das ist sozusagen das Alleinstellungsmerkmal, wenn ich das mal so sagen darf.
Deutschlandradio Kultur: 42 Nationen sind insgesamt beteiligt an diesem Einsatz in Afghanistan. Hatten Sie denn Kontakt zu den anderen Truppen? Und wie war da der Zusammenhalt?
Heike Groos: In Kabul haben wir ja in einem multinationalen Lager gelebt mit vielen, vielen anderen Nationen. Und die Kameradschaft, von der ich immer wieder gerne erzähle, erstreckte sich über alle Nationen. Und manchmal habe ich da auch ein bisschen neidisch übern Gartenzaun geguckt und festgestellt, dass ganz offenbar andere Nationen in dem, was mir so am Herzen liegt, viel, viel weiter sind. Da geht man viel offener und unbefangener mit den Soldaten um und erlaubt, dass sie Menschen sein dürfen. Und nach dem, was ich beobachtet habe, führt das dazu, dass diese Soldaten, wie ich eben sagte, auch sich "ganz" fühlen und dadurch viel, viel stärker sind und im Endeffekt einfach viel besser funktionieren in Ihrem Job.
Deutschlandradio Kultur: Wir sprachen über das Buch von Heike Groos "Ein schöner Tag zum Sterben. Als Bundeswehrärztin in Afghanistan". Erschienen ist es im Krüger Verlag.
Stefan Kornelius’ neuer Band "Der unerklärte Krieg. Deutschlands Selbstbetrug in Afghanistan" soll jetzt noch im Mittelpunkt unseres Gesprächs stehen. Herfried Münkler, warum spricht Stefan Kornelius von "Selbstbetrug"? Was ist da genau schief gelaufen? Ein bisschen klang es schon an in unseren ersten Ausführungen.
Herfried Münkler: Ich glaube, die erste und grundsätzliche Beobachtung ist, dass man sich, als dieser Krieg begann, nicht hinreichend darüber im Klaren gewesen ist, was das heißt. Man hat auch sich nicht die Mühe gemacht, aus dem Scheitern der Revolutionsregierungen in Kabul in den späten 70er-Jahren, aus dem Scheitern der sowjetischen Intervention in den 80er-Jahren zu lernen. Das hätte man ja eigentlich durchaus gekonnt. Sondern man hat sich dann auch noch auf ein moralisch ziemlich hohes Ross gesetzt und gesagt, was wir im Norden alles so gut machen, wohingegen die Amerikaner und andere, die Briten, es im Süden nicht besonders gut machen. Man hat also gewissermaßen geografische und ethnische Differenzen, die zunächst einmal den Einsatz im Norden einfacher, verlustfreier gemacht haben, als einen eigenen Erfolg dargestellt. Und damit ist man natürlich dann in eine Falle gelaufen. Man hat sozusagen diesen anfänglichen Selbstbetrug immer weiter aufgebaut und ist jetzt in der schwierigen Situation, die sich verschlechternde Lage im Norden - nicht nur Sicherheitslage, sondern überhaupt die Möglichkeiten - ja, jetzt muss man sie der Bevölkerung kommunizieren, wo eigentlich doch schon alle Signale auf "demnächst raus" stehen.
Das macht Kornelius sehr schön deutlich. Und er macht auch deutlich, dass die Konsequenz nicht heißen kann, nachdem wir also erst einmal dort hingegangen sind, möglicherweise unter den Bedingungen von Selbsttäuschung, schlechter Analyse, falschen Einschätzungen und derlei mehr, dass wir jetzt sozusagen sagen können, na ja gut, also, wir haben uns getäuscht, jetzt gehen wir wieder heim. Sondern man muss halt versuchen zu lernen und vermutlich unter Rückführung von Zielsetzungen, die man am Anfang damit verbunden hat, ja, so etwas wie eine tendenziell stabile Situation hinterlassen. Das ist die Grundbotschaft und die Aufforderung, na sagen wir mal, in der deutschen Politik sich ehrlich zu machen.
Deutschlandradio Kultur: Die Lage hat sich im Norden auch deshalb verschärft, weil die Truppenstärke sehr groß ist - inzwischen der Amerikaner im Süden. Es waren bald 68.000 US-Soldaten dort stationiert sein. Und das hat natürlich auch alles verändert. Und es gibt ja diese berühmte Mandats-Trennung. Das arbeitet Kornelius sehr differenziert auf, dass man eben im Norden - Heike Groos, Sie haben das auch so erlebt - eine defensive Strategie vertreten hat und nicht angreifen durfte.
Wie stellt sich das denn dar für die Soldaten? Ist das überhaupt so einfach zu leisten und zu unterscheiden, in welcher Situation man sich dann gerade befindet?
Heike Groos: Wir wurden genauso eingeführt, wie Sie sagten. Wir waren Angehörige der ISAF-Truppen und wir sollten uns absolut defensiv verhalten und jede Form von Eskalation, warum auch immer, absolut vermeiden, zu welchem Preis auch immer, ja? OEF-Truppen waren 30 Kilometer von uns entfernt stationiert, sodass es da permanent Berührungspunkte gab. Die kamen nicht nur zum Einkaufen zu uns. Die brachten natürlich auch teilweise ihre Verletzten zu uns. Und wir trafen uns mit den Ärzten, die dort tätig waren, einmal in der Woche und haben da Einblick bekommen in die Arbeit, die die dort geleistet haben.
Aber bereits ganz am Anfang sind die Dinge miteinander verschwommen, verschmolzen. Und in den darauf folgenden Jahren änderte sich ja auch die Situation und die Stimmung im Land. Und immer mehr verschmolzen auch die Aufträge, die auch unsere Einsatzkompanien auszuführen hatten. Und es wurde einfach immer schwerer, vielleicht nicht unmöglich, aber doch sehr, sehr, sehr, sehr schwer, das voneinander zu trennen.
Für jemanden wie mich, der da nicht mitten drin steckt, sondern in der Sanität und da am Rande steht und eigentlich nur immer das sieht, was überschwappt, muss ich sagen, ich konnte das dann wirklich nicht mehr auseinander halten und sortieren und für mich taten die alle das Gleiche und fühlten sich auch so, als haben sie das gleiche Ziel.
Deutschlandradio Kultur: Der Journalist Stefan Kornelius, der ja der Leiter des außenpolitischen Ressorts in der Süddeutschen Zeitung ist und Angela Merkel nach Afghanistan begleitet hat, geht ja auf diese Mandats-Trennung ein. Was hält er davon und teilen Sie seine Einschätzung, Herfried Münkler?
Herfried Münkler: Also, er hält wenig davon, erkennbar, plädiert für ein einheitliches Mandat. Und ich würde ihm da nicht widersprechen wollen. Es ist ja schon bereits beschrieben worden, wie sich das auf der Mikroebene, also hinsichtlich der jeweiligen Einheiten darstellt. Es ist auch politisch keine überzeugende Lösung, zumal wenn man bedenkt, dass natürlich erstens die Möglichkeit besteht, dass - wenn im Süden die relativ erfolgreich sind bei der Bekämpfung von Taliban - die dann in den Norden ausweichen und zweitens mit der Eröffnung neuer Nachschub- und Versorgungslinien, die also nicht mehr über Pakistan gehen, sondern durch den Norden durch, der Norden ein attraktives Ziel auch für die Taliban geworden ist. Oder sagen wir mal: Er hat strategische Relevanz gewonnen, sodass also sich diese Trennung auch von den Handlungen der Gegenseite her nicht aufrecht erhalten lassen wird.
Ich denke, dass man das eigentlich in der Bundeswehrführung weiß, dass man das Problem kennt, dass aber die Schwierigkeit ist: Wie sag ich's meinem Kinde, sprich, also der deutschen Öffentlichkeit, nachdem man die ganze Zeit erzählt hat, wie gut man und wie schön man doch alles gemacht hat?
Deutschlandradio Kultur: Da wären natürlich auch die Politiker gefragt. Die müssten das ja auch entsprechend vermitteln und der deutschen Öffentlichkeit darlegen.
Herfried Münkler: Ja, die Politiker. Ich meine, die Politiker haben sicherlich ein Problem. Sie müssen auf der einen Seite eine bündnispolitische Verpflichtung in eine Öffentlichkeit hinein kommunizieren, die von Afghanistan im Prinzip nichts hören will, jedenfalls die ein geringes Interesse daran hat, sich mit den spezifischen Problemen auseinanderzusetzen. Und auf der anderen Seite sind sie gelegentlich, sagen wir mal, in Nato-Gremien oder in EU-Gremien gefordert und müssen also ihre Bündnissolidarität entsprechend unter Beweis stellen. Auch diese Politiker, würde ich sagen, zerreißt es in der augenblicklichen Situation.
Nun muss man mit Politiker aber nicht so viel Mitleid haben, denn sie sind ja diejenigen, die dann letzten Endes auch stolz den Begriff der Verantwortung sich anheften. Und dann müssen sie ihre Verantwortung tragen und auch das in die Öffentlichkeit in Deutschland hinein kommunizieren, was unbequem ist und was möglicherweise auch heftigen Widerstand hervorruft.
Deutschlandradio Kultur: Wäre dann die Truppe, Heike Groos, auch bereit gewesen offensiver aufzutreten? Hätten sie die Mittel dazu gehabt, wäre man auch in den Süden gegangen?
Heike Groos: Ich bin davon überzeugt. Und ich kann mich nur wiederholen: Was man sich gewünscht hätte, wäre, dass man ehrlich ist. Und dann kann man es selber auch besser einschätzen, auf was man sich einlässt. Die Truppe möchte Erfolge sehen. Wir nehmen persönliche Einschränkungen in Kauf, zum Teil gravierend. Und wir möchten dafür etwas sehen. Wir sind bereit, alles zu tun. Soldaten an sich interessieren sich wenig für Politik - die interessieren sich für Sport - und haben diesen Beruf aus bestimmten Gründen ergriffen. Einer der Gründe ist, dass man eine ganz bestimmte Persönlichkeitsstruktur braucht, um Soldat zu sein. Und eine Säule einer solchen Struktur ist immer Loyalität. Ein Soldat hat immer große Loyalität gegenüber seiner Führung und auch gegenüber unseren Politikern, gegenüber unserem Land. Wir sprechen von Vaterland und tun das ohne diese große Pathetik. Wir meinen das genau so. Das ist unser Land und dafür sind wir bereit, eine ganze, ganze Menge zu tun, wenn man uns dafür unterstützt. Und in dieser Loyalität sind wir bereit sehr viel zu tun, aber man kann die auch irgendwann natürlich dann zerstören.
Deutschlandradio Kultur: In dem Band "Der unerklärte Krieg" von Stefan Kornelius ist auch die Rede von einem "mangelnden Gestaltungswillen außenpolitischer Natur". Das wirft er der Regierung, der Großen Koalition, ein wenig vor. Was meint er damit genau? Und wie sehen Sie das, Herfried Münkler?
Herfried Münkler: Also, er wirft es ja nicht nur ein wenig vor, sondern es ist eigentlich ein zentraler Vorwurf. Und ich denke, dass der auch berechtigt ist. Im Prinzip hat hinsichtlich der außenpolitischen Gestaltung die deutsche Politik nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation große Probleme gehabt. Man kann das auch darin sehen, dass in den entsprechenden Ausschüssen - außenpolitischer, verteidigungspolitischer Ausschuss - nicht die erfahrenen Politiker sind, sondern es werden dort die Abgeordneten hingeschickt, na ja, die sozusagen in der zweiten Reihe stehen, die auch keine große Chance haben, wiedergewählt zu werden. Denn in diesen Ausschüssen kann man nicht viel tun für seinen Wahlkreis. Allenfalls kann man eine Bundeswehrbaracke mit einem Oberfeldwebel drin erhalten oder so.
Das bringt zum Ausdruck, dass also das Interesse an diesen Fragen in der Politik nicht besonders groß ist und dass diejenigen, die zur ersten Garnitur der politischen Klasse gehören, in diesem Bereich selten zu finden sind. Die Folgen dessen beobachtet Kornelius, wie mir scheint, sehr richtig. Wir haben uns keine Gedanken gemacht darüber, wo wir Lead-Nation waren. Die Frage des Aufbaus der Polizei, das wird von ihm sehr schön beschrieben, so als sei das in Deutschland nicht Spurensicherung und Fingerabdrücke und derlei mehr und keine Vorstellung, dass man eine sehr viel robustere Polizei braucht, die eher an die französische Gendarmerie oder die italienischen Carabinieri angelehnt ist als an den Typ Polizei, den man in Deutschland hat. Das alles hätte man eigentlich wissen können, wenn man eine etwas gründlichere Analyse gemacht hätte. Aber, na ja. Fehlender Gestaltungswille heißt dann auch, dann muss man sich sozusagen nach den föderalen Kompetenzen der Länder richten. Die Bayern haben ohnehin niemanden geschickt. Und all das kommt zusammen. Und man kann sagen, das ist also dann ein ziemliches mit heißer Nadel zusammengespicktes Patchwork.
Deutschlandradio Kultur: Würden Sie sich denn für diesen Einsatz noch einmal melden, Heike Groos?
Heike Groos: Jetzt auf gar keinen Fall! Unter geänderten Bedingungen auf jeden Fall!
Deutschlandradio Kultur: So lautet Ihr Fazit. Herfried Münkler, welche Möglichkeiten sieht Kornelius? Dieses Buch ist ja nun schon geschrieben worden, bevor die Wahl stattfand in Afghanistan und auch bevor jetzt die Veränderungen in der US-Außenpolitik stattgefunden haben, wo ja noch einmal beschlossen wurde, die Truppen etwas aufzustocken, und wo noch nicht ganz klar ist, in welche Richtung das jetzt gehen wird. Aber dennoch deutet Kornelius ja einige Lösungsmöglichkeiten an. Welche sind das?
Herfried Münkler: Ja, in der ersten und in der grundlegenden Frage ist er ein bisschen unentschieden, nämlich der Frage, wie man mit der afghanischen Ökonomie umgeht, also sozusagen, ob man sehr offensiv gegen Rauschgiftanbau, also Mohnanbau und Heroinproduktion, vorgehen soll oder ob man da etwas zurückhaltender ist. Ab und zu liest es sich so, als habe er eine Vorstellung, ja, hier muss man zupacken, und dann wird aber da nichts Entsprechendes gesagt. Das ist wohl das Grundproblem.
Wenn man sich darauf einlässt allerdings, muss man bereit sein, die nächsten zehn, 15 Jahre in Afghanistan zu bleiben. Wenn man dazu nicht bereit ist und das ausschließt, dann muss man die geringere oder die schwächere Variante wählen. Also, vieles von unseren normativen Vorstellungen, Demokratie nach westlichem Muster, Menschenrechte, Gleichberechtigung von Frau und Mann und derlei mehr, das muss man dann hintan stellen und zusehen, dass man eine einigermaßen stabile Situation hinterlässt. Da ist mir am Schluss Kornelius nicht energisch genug und entschieden genug, sondern da versucht er auch, auf zu vielen Schultern zu tragen. Allerdings erklärt er die Probleme sehr deutlich und benennt sie auch. Und es heißt auch immer, sozusagen die Forderung ist: "sich ehrlich machen".
Deutschlandradio Kultur: Heike Groos, wir haben noch Zeit für einen Buchtipp. Was möchten Sie empfehlen?
Heike Groos: Das beste Buch, das ich seit langem gelesen habe, und ich lese gerne entspannende Bücher: "Gut gegen Nordwind" von Daniel Glattauer, erschienen hier im Goldmann Verlag. Und er beschreibt darin zwei Menschen, einen Mann und eine Frau, die sich kennen lernen über das Internet und sich dann sehr romantische, sogar bis erotische E-Mails hin und her schreiben. Und ich fand, das ist doch so aktuell. So lernt man sich doch heute kennen. Wie es ausgeht, verrate ich natürlich nicht.
Deutschlandradio Kultur: Also, ein entspannendes Buch empfiehlt Heike Groos. Herfried Münkler, was möchten Sie noch empfehlen?
Herfried Münkler: Vielleicht ein spannendes Buch, aber spannend nicht in dem Sinne, dass es spannende Unterhaltung bietet, sondern eine Auseinandersetzung mit einer der zentralen Phasen der deutschen Geschichte von Mark Mazower, einem englischsprachigen Historiker. Es heißt "Hitlers Imperium". Und er analysiert die inneren Widersprüche der deutschen Eroberungs- und Expansionspolitik, auch die Fähigkeiten, junge, tüchtige Leute in dieses Projekt zu involvieren und deren Energie und Intelligenz für verbrecherische Ziele einzusetzen. Es ist ein wirklich spannendes Buch, weil es das Nebeneinander von Dummheit und Intelligenz, Verbrechen und größenwahnsinnigen Planungen sehr genau darstellt. Es ist bei C.H. Beck erschienen.
Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank für diese beiden Empfehlungen. Wir haben diskutiert über die Bücher von Heike Groos und Stefan Kornelius. Heike Groos: "Ein schöner Tag zum Sterben. Als Bundeswehrärztin in Afghanistan.", erschienen im Krüger Verlag. Stefan Kornelius: "Der unerklärte Krieg: Deutschlands Selbstbetrug in Afghanistan", erschienen in der Körber Stiftung.
Ich bedanke mich herzlich bei meinen Gästen Heike Groos und Herfried Münkler und verabschiede mich von der Frankfurter Buchmesse - am Mikrofon Maike Albath.
3.500 deutsche Soldaten sind in Afghanistan stationiert, möglicherweise soll die Truppe im Frühjahr aufgestockt werden. Die Brisanz der Lage bleibt in der Bundesrepublik dennoch abstrakt. Bis vor wenigen Wochen war beschwichtigend meistens von "Friedenssicherung" die Rede, von "militärischen Auseinandersetzungen", von "Aufbauhilfe" und nicht von Krieg. In der Lesart wollen wir heute über zwei Bücher diskutieren, die sich mit Afghanistan beschäftigen.
Ins Studio gekommen ist dazu die Oberstabsärztin der Bundeswehr, Heike Groos, die zwei Jahre lang in Afghanistan stationiert war. Guten Tag, Frau Groos.
Heike Groos: Schönen guten Tag.
Deutschlandradio Kultur: Ebenfalls zu Gast ist Herfried Münkler, Professor für Politikwissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin. Guten Tag, Herr Münkler.
Herfried Münkler: Guten Tag.
Deutschlandradio Kultur: Von Heiße Groos ist in diesem Herbst ein Erfahrungsbericht erschienen - "Ein schöner Tag zum Sterben. Als Bundeswehrärztin in Afghanistan" heißt er. Frau Groos, diese Sprachregelung, wann haben Sie denn zum ersten Mal den Begriff "Krieg" gehört während Ihres Einsatzes oder in der Vorbereitung?
Heike Groos: Bis heute leider nicht, niemals.
Deutschlandradio Kultur: Das wird einfach so gar nicht benannt in der Bundeswehr?
Heike Groos: Nein. Es heißt "Auslandseinsatz" oder "Mission". Und es hieß in der gesamten Zeit, in der ich dort tätig war, "friedensbewahrende Mission". Das war bis 2007. Erst vor kurzem wurde ja dieser Begriff geprägt: "Frieden schaffende Mission."
Deutschlandradio Kultur: Und wie haben Sie untereinander das genannt, mit den anderen Soldaten im Gespräch?
Heike Grooß: Für uns war ganz klar, dass ist nicht nur ein Krisengebiet. Hier sind wir mitten in einem Kriegsgebiet.
Deutschlandradio Kultur: Herfried Münkler, haben Sie eine Erklärung für diese Beschönigung, für diese Art und Weise, damit doch etwas euphemistisch umzugehen?
Herfried Münkler: Es gibt zwei Gründe. Der erste Grund ist versicherungstechnischer Art. Wenn man seine Lebensversicherungs-Police etwas genauer durchschaut, dann sieht man, dass - wenn man in einem Krieg zu Schaden oder zu Tode kommt - das dann Ausschließungsgründe hat. Das ist natürlich ein organisatorisches Problem für die Bundesrepublik. Das erstens. Und das Zweite ist natürlich: Im Unterschied zu einigen unserer westlichen Nachbarn, die eine Reihe dieser kleinen Interventionskriege geführt haben aus ihrer Kolonialgeschichte heraus, hat Krieg in der deutschen Bevölkerung eine völlig andere Assoziation als eben diese Interventionen mit begrenzten Kräften und auch mit begrenzten Verlusten. Das ist sozusagen dann die politisch-psychologische Seite, aus der heraus es vermieden wird. Inzwischen allerdings hat es ja fast was Lächerliches. Denn die Journalisten fragen gewissermaßen den Minister und seine Entourage bei jeder Gelegenheit: "Herr Jung, warum sagen Sie nicht 'Krieg'?" Und er windet sich und windet sich. Und es ist gewissermaßen eine Lust, das zu beobachten.
Deutschlandradio Kultur: Wie ist das denn aus der Perspektive der Soldaten? Wäre es richtig, das anders zu benennen, Heike Groos? Hätte es Ihnen geholfen, auch in der Einstellung, in der Vorbereitung darauf, was Sie dort erwartet?
Heike Groos: Ich finde, das wäre die allerwesentlichste Voraussetzung. Wir fragen uns ja, wenn wir dort in diesem Einsatz sind, tagtäglich nach dem Sinn. Warum sind wir da? Das wird uns so wichtig, dass wir gar nicht mit dem Gedanken leben können, gar nicht weiter drüber nachdenken können. Wir schwimmen. Wir sind im Unsicheren. Wir fühlen uns völlig allein gelassen. Und ein ganz wichtiger, wenn nicht der Hauptgrund dafür, ist, dass wir das Gefühl haben, man ist hier einfach nicht offen und ehrlich. Man lässt uns hier ins Messer rennen. Man schickt uns auf einen humanitären Einsatz und dann fliegen wir dort hin, steigen aus dem Flugzeug, machen die Augen auf und sind mitten im Krieg und fragen uns: warum? Und was sollen wir hier tun? Und warum wir? - und, und, und, Fragen ohne Ende. Wir sehnen uns danach, dass man ehrlich ist.
Deutschlandradio Kultur: Herr Münkler, Sie haben ja in Ihren vielen Büchern und Artikeln den Begriff des "postheroischen Zeitalters" geprägt. Hängt das vielleicht damit zusammen, dass wir gar keine Möglichkeiten mehr haben auch der Einschätzung dessen, was dort passiert, dass wir darüber in der Gesellschaft viel zu wenig diskutieren?
Herfried Münkler: Also, wir haben diese Möglichkeit nicht. Das hat viele Gründe; materielle Gründe in dem Sinne, dass wir eine Gesellschaft sind, die im Prinzip zu wenig Söhne hat, die es sich also nicht mehr leisten kann, relativ hohe Verlustzahlen zu haben in solchen Auseinandersetzungen. Das unterscheidet uns vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Und ja, wir sind eine religiös erkaltete Gesellschaft. Und da Religion ja gewissermaßen der Generator von Opferbereitschaft ist, fehlt da auch was. So müsste man das also in anderer Weise in unsere Gesellschaft kommunizieren. Aber wenn man das kommuniziert, so fürchtet jedenfalls die politische Elite, dann wächst der Widerstand in der Gesellschaft. Man muss gewissermaßen das, was auch Opfer abverlangt, so weit runterhängen, sozusagen so "normalisieren", als sei es gewissermaßen ein Ausflug des Technischen Hilfswerks in bewaffneter Form, damit man die politische Zustimmung hat. Dieser innere Zwiespalt müssen natürlich dann die Soldaten sozusagen in ihrem Kopf und in ihrem Herzen austragen. Das ist eine zweite Zumutung, die ich eigentlich für eine Überforderung halte.
Deutschlandradio Kultur: In Ihrem Buch "Ein schöner Tag zum Sterben", Heike Groos, schildern Sie ja sehr anschaulich, wie die Lage der Soldaten dann ist, als sich die Dinge verschärfen. Wie trat man Ihnen denn von afghanischer Seite gegenüber? "Wave and smile" ist so eine Formulierung, die Sie benutzen. Das wurde Ihnen anempfohlen von offizieller Seite. Wie gingen die Afghanen mit Ihrer Präsenz dort um?
Heike Groos: Dieses Schema hat auch sehr gut funktioniert, wenn wir in die Stadt gefahren sind auf Patrouille und haben gewunken und gelächelt. Zunächst haben wir das getan natürlich wie einstudiert. Und dann haben wir gemerkt, hier kommt ja natürlich auch Reaktion. Wir bekommen genau das Gleiche zurück. Und dann kamen wir ins Gespräch mit den Menschen. Und das, wie gesagt, hat sehr gut funktioniert und wir fühlten uns auf diese Weise gleich. Das ist, finde ich, ganz wesentlich zur Friedens-Schaffung und -Sicherung.
Deutschlandradio Kultur: Herfried Münkler, haben Sie den Eindruck, dass Bücher wie der Erfahrungsbericht von Heike Groos den Druck erhöhen, also, dass sie die Diskussionslage vielleicht auch ein bisschen verändern könnten und das Bewusstsein verstärken dafür, was in Afghanistan wirklich los ist?
Herfried Münkler: Also wenn sie von hinreichend vielen Leuten gelesen werden, dann könnte man sich das vorstellen. Ich möchte in dem Zusammenhang noch sagen, das ist ja eine darstellungstechnisch heikle Angelegenheit, die Frau Groos sich hier vorgenommen hat. Und ich würde meinen, das hat sie mit großer Sensibilität und auch darstellerischem Geschick gelöst - auf der einen Seite zu berichten, was Sache ist und wie das von ihr wahrgenommen wird, und auf der anderen Seite sozusagen die persönliche Betroffenheit, die Folgen für das Leben, die Folgen für die Gesundheit, die psychische Integrität und derlei mehr so mit einzubringen, dass das Ganze ein Ganzes ergibt. Das hat mir sehr gut gefallen. Und insofern ist es auch ein Buch, von dem man nicht nur aus politischen Gründen wollen sollte, dass es möglichst Viele lesen, sondern von dem man auch im Hinblick auf interessierte Leser sagen könnte: Das ist ein Buch, das solltet ihr lesen.
Deutschlandradio Kultur: Ein Psychiater für 4.500 Soldaten ist vorhanden, habe ich gelesen. Also, die Bundeswehr kann offensichtlich nicht mehr medizinisches Personal auch für die Betreuung derjenigen, die aus Afghanistan zurückkehren, bieten. Was müsste sich da ändern, Heike Groos?
Heike Groos: Ich glaube, das ist gar nicht der Punkt. "Ein Psychiater für 4.500 Soldaten" hört sich natürlich schrecklich an und ist ganz bestimmt auch zu wenig, aber ich glaube nicht, dass mehr Psychiater die Lösung wären. Ich wünsche mir, dass in der Bevölkerung ein Umdenken stattfindet. Und wenn das geschieht, dann brauchen wir diese Psychiater gar nicht mehr. Und ich rede von einem Umdenken oder meine damit eine andere Wahrnehmung von uns.
Ich würde mir wünschen, dass wir Soldaten in Deutschland akzeptiert werden als Menschen in unserer Ganzheit, dass auch diese andere Seite von uns, die wir so unterdrücken sollen, diese weiche und mitfühlende und sensible, dieser Anteil von uns auch genauso existieren darf und nicht als Schwäche deklariert wird. Ich denke, wenn wir dann in dieser Ganzheit auftreten dürfen, dann können wir auch viel besser funktionieren unter der anderen Prämisse, die wir eingangs schon besprachen, dass wir auch unser Vertrauen und unsere Loyalität, die wir ganz sicher haben in unsere Regierung und unsere Führung, dass wir die auch bestätigt bekommen und bestärkt, indem man ehrlich und fair mit uns umgeht. Und ganz praktisch würde ich mir wünschen, wenn man uns in den Einsatz schickt, dass man uns von vornherein sagt, warum, dass man uns während des Einsatzes darin begleitet, uns unterstützt mit allen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten - und hier reihen sich die Psychiater ein - und, wenn man zurück nach Hause kehrt, dass man uns dann begleitet auch bis zum Schluss.
Und hier reichen die Psychiater nicht aus. Hier wünschen wir uns unsere Familien, unsere Freunde, unsere Nachbarn, unsere deutsche Bevölkerung, die uns empfängt und sagt: "Wir freuen uns, dass ihr gesund wieder da seid. Und wir verstehen oder versuchen oder anerkennen zumindest, was ihr durchgemacht habt. Und wir halten das für normal. Und wir bieten euch jetzt unsere Schultern an, damit ihr euch wieder erholen könnt." - So etwas ganz Menschliches und ganz Normales, einfach nur Interesse, Zuwendung und Wärme. Und dann brauchen wir keinen Psychiater. Dann brauchen wir ganz normale Menschen, unsere Mitmenschen. Das ist viel, viel wichtiger.
Deutschlandradio Kultur: Herfried Münkler, die Lage in Afghanistan, auch dieses Veteranenproblem, das Heike Groos jetzt ja so indirekt angesprochen hat, damit ist man offensichtlich noch überfordert. Vielleicht können Sie ein Wort dazu sagen, was der Leser, der normalerweise aus der Zeitung erfährt, was in Afghanistan los ist, in Heike Groos’ Buch Neues erfährt über Afghanistan und anderes. Wo ist der Schwerpunkt?
Herfried Münkler: Die Differenz gegenüber dem, was man üblicherweise mitbekommt, wenn man ein Leser von Qualitätszeitungen ist, ist die Binnenperspektive. Sozusagen die ein- und rausfliegenden Journalisten sehen natürlich das von außen und sie sollen das auch so von außen sehen, denn sie müssen ja versuchen, ein möglichst objektives Bild der Lage darzustellen. Damit will ich jetzt nicht sagen, Frau Groos habe ein subjektives Bild, aber sozusagen das Bild, das sie zeichnet, ist natürlich durch ihre persönliche Betroffenheit, durch ihre je eigene Wahrnehmung und auch durch die emotionale Verarbeitung von Problemen, wie etwa dem Anschlag auf der Straße zum Flughafen von Kabul, gekennzeichnet.
Also, es ist eine Darstellung, die von einer großen Empathie gekennzeichnet ist und bei der man dann auch sagen muss: Je länger man liest - am Anfang ist man vielleicht etwas skeptisch, ob vielleicht ein harter Mann das anderes darstellen würde - aber je weiter man liest, desto stärker bekommt man doch den Eindruck, dass es eine ausgesprochen ausgewogene und präzise Darstellung ist. Das ist also eine zusätzliche Komponente, die man auch in Sachbüchern sonst über den Krieg nicht findet und auch nicht finden kann. Das ist sozusagen das Alleinstellungsmerkmal, wenn ich das mal so sagen darf.
Deutschlandradio Kultur: 42 Nationen sind insgesamt beteiligt an diesem Einsatz in Afghanistan. Hatten Sie denn Kontakt zu den anderen Truppen? Und wie war da der Zusammenhalt?
Heike Groos: In Kabul haben wir ja in einem multinationalen Lager gelebt mit vielen, vielen anderen Nationen. Und die Kameradschaft, von der ich immer wieder gerne erzähle, erstreckte sich über alle Nationen. Und manchmal habe ich da auch ein bisschen neidisch übern Gartenzaun geguckt und festgestellt, dass ganz offenbar andere Nationen in dem, was mir so am Herzen liegt, viel, viel weiter sind. Da geht man viel offener und unbefangener mit den Soldaten um und erlaubt, dass sie Menschen sein dürfen. Und nach dem, was ich beobachtet habe, führt das dazu, dass diese Soldaten, wie ich eben sagte, auch sich "ganz" fühlen und dadurch viel, viel stärker sind und im Endeffekt einfach viel besser funktionieren in Ihrem Job.
Deutschlandradio Kultur: Wir sprachen über das Buch von Heike Groos "Ein schöner Tag zum Sterben. Als Bundeswehrärztin in Afghanistan". Erschienen ist es im Krüger Verlag.
Stefan Kornelius’ neuer Band "Der unerklärte Krieg. Deutschlands Selbstbetrug in Afghanistan" soll jetzt noch im Mittelpunkt unseres Gesprächs stehen. Herfried Münkler, warum spricht Stefan Kornelius von "Selbstbetrug"? Was ist da genau schief gelaufen? Ein bisschen klang es schon an in unseren ersten Ausführungen.
Herfried Münkler: Ich glaube, die erste und grundsätzliche Beobachtung ist, dass man sich, als dieser Krieg begann, nicht hinreichend darüber im Klaren gewesen ist, was das heißt. Man hat auch sich nicht die Mühe gemacht, aus dem Scheitern der Revolutionsregierungen in Kabul in den späten 70er-Jahren, aus dem Scheitern der sowjetischen Intervention in den 80er-Jahren zu lernen. Das hätte man ja eigentlich durchaus gekonnt. Sondern man hat sich dann auch noch auf ein moralisch ziemlich hohes Ross gesetzt und gesagt, was wir im Norden alles so gut machen, wohingegen die Amerikaner und andere, die Briten, es im Süden nicht besonders gut machen. Man hat also gewissermaßen geografische und ethnische Differenzen, die zunächst einmal den Einsatz im Norden einfacher, verlustfreier gemacht haben, als einen eigenen Erfolg dargestellt. Und damit ist man natürlich dann in eine Falle gelaufen. Man hat sozusagen diesen anfänglichen Selbstbetrug immer weiter aufgebaut und ist jetzt in der schwierigen Situation, die sich verschlechternde Lage im Norden - nicht nur Sicherheitslage, sondern überhaupt die Möglichkeiten - ja, jetzt muss man sie der Bevölkerung kommunizieren, wo eigentlich doch schon alle Signale auf "demnächst raus" stehen.
Das macht Kornelius sehr schön deutlich. Und er macht auch deutlich, dass die Konsequenz nicht heißen kann, nachdem wir also erst einmal dort hingegangen sind, möglicherweise unter den Bedingungen von Selbsttäuschung, schlechter Analyse, falschen Einschätzungen und derlei mehr, dass wir jetzt sozusagen sagen können, na ja gut, also, wir haben uns getäuscht, jetzt gehen wir wieder heim. Sondern man muss halt versuchen zu lernen und vermutlich unter Rückführung von Zielsetzungen, die man am Anfang damit verbunden hat, ja, so etwas wie eine tendenziell stabile Situation hinterlassen. Das ist die Grundbotschaft und die Aufforderung, na sagen wir mal, in der deutschen Politik sich ehrlich zu machen.
Deutschlandradio Kultur: Die Lage hat sich im Norden auch deshalb verschärft, weil die Truppenstärke sehr groß ist - inzwischen der Amerikaner im Süden. Es waren bald 68.000 US-Soldaten dort stationiert sein. Und das hat natürlich auch alles verändert. Und es gibt ja diese berühmte Mandats-Trennung. Das arbeitet Kornelius sehr differenziert auf, dass man eben im Norden - Heike Groos, Sie haben das auch so erlebt - eine defensive Strategie vertreten hat und nicht angreifen durfte.
Wie stellt sich das denn dar für die Soldaten? Ist das überhaupt so einfach zu leisten und zu unterscheiden, in welcher Situation man sich dann gerade befindet?
Heike Groos: Wir wurden genauso eingeführt, wie Sie sagten. Wir waren Angehörige der ISAF-Truppen und wir sollten uns absolut defensiv verhalten und jede Form von Eskalation, warum auch immer, absolut vermeiden, zu welchem Preis auch immer, ja? OEF-Truppen waren 30 Kilometer von uns entfernt stationiert, sodass es da permanent Berührungspunkte gab. Die kamen nicht nur zum Einkaufen zu uns. Die brachten natürlich auch teilweise ihre Verletzten zu uns. Und wir trafen uns mit den Ärzten, die dort tätig waren, einmal in der Woche und haben da Einblick bekommen in die Arbeit, die die dort geleistet haben.
Aber bereits ganz am Anfang sind die Dinge miteinander verschwommen, verschmolzen. Und in den darauf folgenden Jahren änderte sich ja auch die Situation und die Stimmung im Land. Und immer mehr verschmolzen auch die Aufträge, die auch unsere Einsatzkompanien auszuführen hatten. Und es wurde einfach immer schwerer, vielleicht nicht unmöglich, aber doch sehr, sehr, sehr, sehr schwer, das voneinander zu trennen.
Für jemanden wie mich, der da nicht mitten drin steckt, sondern in der Sanität und da am Rande steht und eigentlich nur immer das sieht, was überschwappt, muss ich sagen, ich konnte das dann wirklich nicht mehr auseinander halten und sortieren und für mich taten die alle das Gleiche und fühlten sich auch so, als haben sie das gleiche Ziel.
Deutschlandradio Kultur: Der Journalist Stefan Kornelius, der ja der Leiter des außenpolitischen Ressorts in der Süddeutschen Zeitung ist und Angela Merkel nach Afghanistan begleitet hat, geht ja auf diese Mandats-Trennung ein. Was hält er davon und teilen Sie seine Einschätzung, Herfried Münkler?
Herfried Münkler: Also, er hält wenig davon, erkennbar, plädiert für ein einheitliches Mandat. Und ich würde ihm da nicht widersprechen wollen. Es ist ja schon bereits beschrieben worden, wie sich das auf der Mikroebene, also hinsichtlich der jeweiligen Einheiten darstellt. Es ist auch politisch keine überzeugende Lösung, zumal wenn man bedenkt, dass natürlich erstens die Möglichkeit besteht, dass - wenn im Süden die relativ erfolgreich sind bei der Bekämpfung von Taliban - die dann in den Norden ausweichen und zweitens mit der Eröffnung neuer Nachschub- und Versorgungslinien, die also nicht mehr über Pakistan gehen, sondern durch den Norden durch, der Norden ein attraktives Ziel auch für die Taliban geworden ist. Oder sagen wir mal: Er hat strategische Relevanz gewonnen, sodass also sich diese Trennung auch von den Handlungen der Gegenseite her nicht aufrecht erhalten lassen wird.
Ich denke, dass man das eigentlich in der Bundeswehrführung weiß, dass man das Problem kennt, dass aber die Schwierigkeit ist: Wie sag ich's meinem Kinde, sprich, also der deutschen Öffentlichkeit, nachdem man die ganze Zeit erzählt hat, wie gut man und wie schön man doch alles gemacht hat?
Deutschlandradio Kultur: Da wären natürlich auch die Politiker gefragt. Die müssten das ja auch entsprechend vermitteln und der deutschen Öffentlichkeit darlegen.
Herfried Münkler: Ja, die Politiker. Ich meine, die Politiker haben sicherlich ein Problem. Sie müssen auf der einen Seite eine bündnispolitische Verpflichtung in eine Öffentlichkeit hinein kommunizieren, die von Afghanistan im Prinzip nichts hören will, jedenfalls die ein geringes Interesse daran hat, sich mit den spezifischen Problemen auseinanderzusetzen. Und auf der anderen Seite sind sie gelegentlich, sagen wir mal, in Nato-Gremien oder in EU-Gremien gefordert und müssen also ihre Bündnissolidarität entsprechend unter Beweis stellen. Auch diese Politiker, würde ich sagen, zerreißt es in der augenblicklichen Situation.
Nun muss man mit Politiker aber nicht so viel Mitleid haben, denn sie sind ja diejenigen, die dann letzten Endes auch stolz den Begriff der Verantwortung sich anheften. Und dann müssen sie ihre Verantwortung tragen und auch das in die Öffentlichkeit in Deutschland hinein kommunizieren, was unbequem ist und was möglicherweise auch heftigen Widerstand hervorruft.
Deutschlandradio Kultur: Wäre dann die Truppe, Heike Groos, auch bereit gewesen offensiver aufzutreten? Hätten sie die Mittel dazu gehabt, wäre man auch in den Süden gegangen?
Heike Groos: Ich bin davon überzeugt. Und ich kann mich nur wiederholen: Was man sich gewünscht hätte, wäre, dass man ehrlich ist. Und dann kann man es selber auch besser einschätzen, auf was man sich einlässt. Die Truppe möchte Erfolge sehen. Wir nehmen persönliche Einschränkungen in Kauf, zum Teil gravierend. Und wir möchten dafür etwas sehen. Wir sind bereit, alles zu tun. Soldaten an sich interessieren sich wenig für Politik - die interessieren sich für Sport - und haben diesen Beruf aus bestimmten Gründen ergriffen. Einer der Gründe ist, dass man eine ganz bestimmte Persönlichkeitsstruktur braucht, um Soldat zu sein. Und eine Säule einer solchen Struktur ist immer Loyalität. Ein Soldat hat immer große Loyalität gegenüber seiner Führung und auch gegenüber unseren Politikern, gegenüber unserem Land. Wir sprechen von Vaterland und tun das ohne diese große Pathetik. Wir meinen das genau so. Das ist unser Land und dafür sind wir bereit, eine ganze, ganze Menge zu tun, wenn man uns dafür unterstützt. Und in dieser Loyalität sind wir bereit sehr viel zu tun, aber man kann die auch irgendwann natürlich dann zerstören.
Deutschlandradio Kultur: In dem Band "Der unerklärte Krieg" von Stefan Kornelius ist auch die Rede von einem "mangelnden Gestaltungswillen außenpolitischer Natur". Das wirft er der Regierung, der Großen Koalition, ein wenig vor. Was meint er damit genau? Und wie sehen Sie das, Herfried Münkler?
Herfried Münkler: Also, er wirft es ja nicht nur ein wenig vor, sondern es ist eigentlich ein zentraler Vorwurf. Und ich denke, dass der auch berechtigt ist. Im Prinzip hat hinsichtlich der außenpolitischen Gestaltung die deutsche Politik nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation große Probleme gehabt. Man kann das auch darin sehen, dass in den entsprechenden Ausschüssen - außenpolitischer, verteidigungspolitischer Ausschuss - nicht die erfahrenen Politiker sind, sondern es werden dort die Abgeordneten hingeschickt, na ja, die sozusagen in der zweiten Reihe stehen, die auch keine große Chance haben, wiedergewählt zu werden. Denn in diesen Ausschüssen kann man nicht viel tun für seinen Wahlkreis. Allenfalls kann man eine Bundeswehrbaracke mit einem Oberfeldwebel drin erhalten oder so.
Das bringt zum Ausdruck, dass also das Interesse an diesen Fragen in der Politik nicht besonders groß ist und dass diejenigen, die zur ersten Garnitur der politischen Klasse gehören, in diesem Bereich selten zu finden sind. Die Folgen dessen beobachtet Kornelius, wie mir scheint, sehr richtig. Wir haben uns keine Gedanken gemacht darüber, wo wir Lead-Nation waren. Die Frage des Aufbaus der Polizei, das wird von ihm sehr schön beschrieben, so als sei das in Deutschland nicht Spurensicherung und Fingerabdrücke und derlei mehr und keine Vorstellung, dass man eine sehr viel robustere Polizei braucht, die eher an die französische Gendarmerie oder die italienischen Carabinieri angelehnt ist als an den Typ Polizei, den man in Deutschland hat. Das alles hätte man eigentlich wissen können, wenn man eine etwas gründlichere Analyse gemacht hätte. Aber, na ja. Fehlender Gestaltungswille heißt dann auch, dann muss man sich sozusagen nach den föderalen Kompetenzen der Länder richten. Die Bayern haben ohnehin niemanden geschickt. Und all das kommt zusammen. Und man kann sagen, das ist also dann ein ziemliches mit heißer Nadel zusammengespicktes Patchwork.
Deutschlandradio Kultur: Würden Sie sich denn für diesen Einsatz noch einmal melden, Heike Groos?
Heike Groos: Jetzt auf gar keinen Fall! Unter geänderten Bedingungen auf jeden Fall!
Deutschlandradio Kultur: So lautet Ihr Fazit. Herfried Münkler, welche Möglichkeiten sieht Kornelius? Dieses Buch ist ja nun schon geschrieben worden, bevor die Wahl stattfand in Afghanistan und auch bevor jetzt die Veränderungen in der US-Außenpolitik stattgefunden haben, wo ja noch einmal beschlossen wurde, die Truppen etwas aufzustocken, und wo noch nicht ganz klar ist, in welche Richtung das jetzt gehen wird. Aber dennoch deutet Kornelius ja einige Lösungsmöglichkeiten an. Welche sind das?
Herfried Münkler: Ja, in der ersten und in der grundlegenden Frage ist er ein bisschen unentschieden, nämlich der Frage, wie man mit der afghanischen Ökonomie umgeht, also sozusagen, ob man sehr offensiv gegen Rauschgiftanbau, also Mohnanbau und Heroinproduktion, vorgehen soll oder ob man da etwas zurückhaltender ist. Ab und zu liest es sich so, als habe er eine Vorstellung, ja, hier muss man zupacken, und dann wird aber da nichts Entsprechendes gesagt. Das ist wohl das Grundproblem.
Wenn man sich darauf einlässt allerdings, muss man bereit sein, die nächsten zehn, 15 Jahre in Afghanistan zu bleiben. Wenn man dazu nicht bereit ist und das ausschließt, dann muss man die geringere oder die schwächere Variante wählen. Also, vieles von unseren normativen Vorstellungen, Demokratie nach westlichem Muster, Menschenrechte, Gleichberechtigung von Frau und Mann und derlei mehr, das muss man dann hintan stellen und zusehen, dass man eine einigermaßen stabile Situation hinterlässt. Da ist mir am Schluss Kornelius nicht energisch genug und entschieden genug, sondern da versucht er auch, auf zu vielen Schultern zu tragen. Allerdings erklärt er die Probleme sehr deutlich und benennt sie auch. Und es heißt auch immer, sozusagen die Forderung ist: "sich ehrlich machen".
Deutschlandradio Kultur: Heike Groos, wir haben noch Zeit für einen Buchtipp. Was möchten Sie empfehlen?
Heike Groos: Das beste Buch, das ich seit langem gelesen habe, und ich lese gerne entspannende Bücher: "Gut gegen Nordwind" von Daniel Glattauer, erschienen hier im Goldmann Verlag. Und er beschreibt darin zwei Menschen, einen Mann und eine Frau, die sich kennen lernen über das Internet und sich dann sehr romantische, sogar bis erotische E-Mails hin und her schreiben. Und ich fand, das ist doch so aktuell. So lernt man sich doch heute kennen. Wie es ausgeht, verrate ich natürlich nicht.
Deutschlandradio Kultur: Also, ein entspannendes Buch empfiehlt Heike Groos. Herfried Münkler, was möchten Sie noch empfehlen?
Herfried Münkler: Vielleicht ein spannendes Buch, aber spannend nicht in dem Sinne, dass es spannende Unterhaltung bietet, sondern eine Auseinandersetzung mit einer der zentralen Phasen der deutschen Geschichte von Mark Mazower, einem englischsprachigen Historiker. Es heißt "Hitlers Imperium". Und er analysiert die inneren Widersprüche der deutschen Eroberungs- und Expansionspolitik, auch die Fähigkeiten, junge, tüchtige Leute in dieses Projekt zu involvieren und deren Energie und Intelligenz für verbrecherische Ziele einzusetzen. Es ist ein wirklich spannendes Buch, weil es das Nebeneinander von Dummheit und Intelligenz, Verbrechen und größenwahnsinnigen Planungen sehr genau darstellt. Es ist bei C.H. Beck erschienen.
Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank für diese beiden Empfehlungen. Wir haben diskutiert über die Bücher von Heike Groos und Stefan Kornelius. Heike Groos: "Ein schöner Tag zum Sterben. Als Bundeswehrärztin in Afghanistan.", erschienen im Krüger Verlag. Stefan Kornelius: "Der unerklärte Krieg: Deutschlands Selbstbetrug in Afghanistan", erschienen in der Körber Stiftung.
Ich bedanke mich herzlich bei meinen Gästen Heike Groos und Herfried Münkler und verabschiede mich von der Frankfurter Buchmesse - am Mikrofon Maike Albath.