"Wir haben es in dieser Krassheit nicht geahnt"
Bis Mittwoch tagt in Mainz die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft. Dort werde man auch das Thema sexueller Missbrauch breit diskutieren, erklärte deren Vorsitzender Rudolf Tippelt, "weil es ein jetzt sichtbar gewordenes Problem ist". Pädagogen müssten jetzt mit einer "stärkeren Professionalisierung" reagieren.
Jürgen König: Bildung in der Demokratie. Unter diesem Kongressthema kommen heute in Mainz die Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft zusammen, mit Fragestellungen wie: Welche Ungleichheiten in unserer Gesellschaft gibt es nach wie vor, welche neuen Ungleichheiten sind dazugekommen? Was bedeutet es für unsere Bildungssysteme, dass frühere soziale Netzwerke verloren gingen und sich entsprechende neue Strukturen nur sehr langsam herausbilden? Welche Rolle spielt Bildung in Zeiten wachsender ökonomischer und politischer Verunsicherung, in Zeiten auch immer größerer kultureller Verschiedenheiten der Bevölkerung?
Fragen, die Erziehungswissenschaftler sich stellen, um die Herausforderungen zu formulieren, vor denen sie selber stehen, und mit ihnen die Bildungspolitiker sowie sämtliche pädagogische Institutionen, von den Kindergärten bis zu den Universitäten und der Erwachsenenbildung. Geleitet wird der Kongress von Professor Rudolf Tippelt, der ist Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft. Guten Tag, Herr Tippelt!
Rudolf Tippelt: Guten Tag!
König: Wir können den Themenkatalog dieses Kongresses hier natürlich nicht in Gänze diskutieren, was ist für Sie die größte Herausforderung, vor der die Erziehungswissenschaftler, die Bildungspolitiker, die Pädagogen in unserer demokratischen Gesellschaft stehen?
Tippelt: Es gibt mehrere wichtige und sehr wichtige Herausforderungen. Die erste haben Sie schon angesprochen: Wie viel Ungleichheit verträgt eigentlich eine Demokratie? Wir wissen aus verschiedenen empirischen Studien, dass gerade Schüler aus sozial schwächeren Schichten und Milieus auch tatsächlich schwächere Leistungen in der Schule haben, manchmal so schlecht in Mathematik und Naturwissenschaft, auch im Lesen, dass sie kaum eine Chance haben, eine Ausbildungsstelle zu bekommen. Und eine Verhinderung weiterer beruflicher Ausbildung ist natürlich auch schon eine große Gefahr, sich demokratisch nicht wirklich einbringen zu können in eine Gesellschaft. Das ist eine der großen Herausforderungen.
König: Wir leben mittlerweile in einer kulturell und sozial ausgesprochen heterogenen Gesellschaft, Sie haben das gerade beschrieben – ist nicht durch diese Entwicklung der alte Grundsatz, gleiche Bildungschancen für alle, obsolet geworden inzwischen?
Tippelt: Nein, die gleichen Bildungschancen für alle, die brauchen wir in jedem Fall. Wir brauchen nicht in jedem Fall – und das schaffen wir auch nicht – die genau gleiche Bildung, das wird nicht gehen, aber die gleichen Bildungschancen sollten alle haben, Mädchen und Jungs, Menschen aus den verschiedensten Regionen, aus den Metropolen genauso wie aus den ländlichen Regionen, aus den Schichten mit weniger Bildung, aber auch den Schichten eben mit mehr Bildung, Erwerbstätigen und nicht Erwerbstätigen.
Diese Chancengleichheit, dass Kinder nicht vom Schicksal ihrer Eltern und von der sozialen Situation ihrer Eltern ihre eigene Bildungskarriere aus planen müssen und dadurch determiniert sind, das müsste man in einer Demokratie schon verhindern, da müssen die öffentlichen Einrichtungen auch Korrekturen schaffen können.
König: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Professor Rudolf Tippelt. Er leitet den Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, der findet statt von heute bis Mittwoch. Herr Tippelt, in Ihrer Grußbotschaft sagen Sie unter anderem, Demokratie sei nicht nur eine Regierungsform, sondern eine Lebensform. Sie sprechen von den Tugenden einer demokratischen Gesellschaft, wie Gemeinsinn, Partizipation, Mitbestimmung, Sie sprechen auch von der der Demokratie zugrunde liegenden Achtung der Menschenrechte. Nun fällt dieser Kongress in eine Zeit, in der die Öffentlichkeit erschüttert wird durch das Bekanntwerden immer neuer Fälle sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen auch durch Pädagogen. Wird das das vielleicht unausgesprochenermaßen heimliche Hauptthema des Kongresses sein?
Tippelt: Dass es das Hauptthema wird, das glaube ich nicht, weil doch so viele andere Themen auch vorbereitet sind. Wissenschaft denkt manchmal in einem längeren Atem. Aber es wird uns selbstverständlich beschäftigen, es muss uns auch beschäftigen.
Es ist auch für uns Wissenschaftler manchmal vielleicht sogar unbegreiflich, was da jetzt noch mal zutage kommt und zutage gekommen ist. Gewalt gegen Kinder ist genau kontrainduziert gegen alles, was ich gesagt habe, und auch gegen jegliche demokratische Entwicklung. Sie unterdrückt sie geradezu. Wir müssen eine Strategie finden, und es wird sicherlich in manchen der Symposien, der Workshops dann doch eine große Rolle spielen, dass Kinder in jeder Form gestärkt werden, dass das Vertrauen zu den Eltern sich stark ausbildet, dass Kinder auch – ich spreche schon sehr stark über diese Missbrauchsfälle – auch ein Bauchgefühl entwickeln dürfen, um sich ihren Eltern zu offenbaren, wenn in ihrem sozialen Nahbereich, auch im öffentlichen Bereich Lehrern gegenüber etwas sich einstellt, was sie glauben, das nicht in Ordnung ist.
Das Vertrauen hier zu den Eltern ist was ganz, ganz Zentrales, damit körperliche Gewalt und dann eben vor allen Dingen sexuelle Gewalt die Entwicklung und die Persönlichkeitsentfaltung von Kindern nicht massiv behindert. Wir werden schon, glaube ich, darüber nachdenken müssen, auch als Erziehungswissenschaft, was wir jetzt in dieser aktuellen Situation tun, und zwar auch mit einer kurzfristigen und aber auch mittelfristigen Zielperspektive. Und da habe ich auch gewisse Ideen, die ich morgen dem Vorstand vorstellen werde.
Im Wesentlichen geht es darum, dass zum Beispiel wir einen Arbeitskreis vielleicht zusammenstellen, weil die Fälle sind komplex, und man darf jetzt nicht pauschalisieren. Das gefällt mir gerade an der öffentlichen Debatte manchmal nicht. Wir müssen, glaube ich, Sozialpädagogen, die sehr viel Heimerfahrung oder Erfahrungen der pädagogischen Arbeit auch in, wir nennen es ja "totalen Institutionen" haben, zusammenbringen mit Kinder- und Jugendpsychiatern, die die Täter und auch die Opfer, vor allen Dingen die Opferperspektive genauer beschreiben können, mit Schulpädagogen, die sich vielleicht seit Jahren – da gibt es schon einige auch in unseren Sektionen – mit Gewalt in der Schule in jeder Form auseinandersetzen, auch mit Schulpsychologen.
Wir brauchen historische Bildungsforscher, die uns die Gewalt gegen Kinder noch mal aufzeigt, vielleicht auch die Fehl- und Irrwege einer früheren Reformpädagogik, wie sie beispielsweise ein Wyneken vertreten hat. Wir brauchen Theologen, die sozusagen in ihrer eigenen Institution noch mal berichten und reflektieren, was hier spezifisch fehlgelaufen ist. Und wir brauchen Juristen, um sozusagen auch die politischen und vor allen Dingen die rechtlichen Handlungsspielräume mit auszuleuchten.
Also so eine Arbeitsgruppe schwebt mir vor, auch dann, wenn vielleicht öffentlich so stark nicht mehr darüber gesprochen wird. Das muss uns beunruhigen und das muss uns beschäftigen.
König: Wenn Sie vom Vertrauen der Kinder zu ihren Eltern sprechen, Sie sagen, man solle nicht pauschalisieren, das Vertrauen ist ja hier schon zerstört worden, das Vertrauen in einzelne Schulen, aber auch damit doch bis zum gewissen Grad das Vertrauen in die Institution Schule generell, denn es ist ja doch durch das jetzige Bekanntwerden der Fälle auch klar geworden, dass bis vor Kurzem die Schulen, einzelne Schulen solche Fälle nicht bekannt gemacht haben, dass wir erst am Anfang stehen einer Aufarbeitung all dessen, was da passiert ist. Sehen Sie nicht schon eine große Vertrauenskrise der Institution Schule gegenüber da auf uns zukommen?
Tippelt: Ja, man darf, wie gesagt, nicht pauschalisieren, es sind einzelne Einrichtungen, die sich selber outen, die jetzt geoutet werden, die jetzt beginnen aufzuarbeiten, und man darf es nicht auf Schule und auf alle Schulen – das wäre ganz ein großer Fehler, glaube ich – verallgemeinern, aber dass eine Vertrauenskrise, insbesondere auch zum Beispiel ins Internatswesen jetzt gerade entsteht, weil in Internaten es doch etwas häufiger aufgetreten ist, das kann man sogar nachvollziehen. Aber auch hier darf man nicht pauschalisieren. Es gibt ganz hervorragende Internate, wo nie ein sexueller Übergriff oder auch ein körperlicher Gewaltübergriff stattgefunden hat.
Trotzdem, Sie haben recht, es erschüttert das Vertrauen. Als Pädagogen und als Erziehungswissenschaftler, glaube ich, können wir nur im öffentlichen Bereich reagieren durch eine noch stärkere Professionalisierung, durch eine stärkere Professionalität pädagogischer Arbeit und die sich sicherlich auf Fach- und didaktische Kompetenz erstreckt, aber die auch diese pädagogische Kompetenz, diesen pädagogischen Takt, auch die richtige Nähe und aber auch die richtige Distanz zu den Kindern und Jugendlichen auch immer wieder mit reflektiert und eine starke Beratungskompetenz mit vermittelt.
König: Wird unter deutschen Erziehungswissenschaftlern die Frage diskutiert, ob und zum Beispiel wenn ja, an welchen Schulen, in welchen Internaten Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern heute, 2010, vorkommen könnten?
Tippelt: Wir, glaube ich, sind von der öffentlichen Debatte ähnlich überrascht wie es vielleicht die Politik oder auch die Medien waren, und es gibt sicherlich einige Kollegen in den verschiedenen Sektionen, die immer einen Blick darauf auch hatten, aber in der Breite haben wir ja dies nicht thematisiert. Wir müssen es jetzt in einem breiteren Maße auch diskutieren, weil es ein jetzt sichtbar gewordenes Problem ist. Ich will nicht sagen, wir haben das unterschätzt, aber ich will doch sagen, wir haben es in dieser Krassheit wohl nicht geahnt und sind auch bestürzt wie viele Eltern und andere, die das im Augenblick beobachten oder die davon bislang keine Kenntnis hatten.
Fragen, die Erziehungswissenschaftler sich stellen, um die Herausforderungen zu formulieren, vor denen sie selber stehen, und mit ihnen die Bildungspolitiker sowie sämtliche pädagogische Institutionen, von den Kindergärten bis zu den Universitäten und der Erwachsenenbildung. Geleitet wird der Kongress von Professor Rudolf Tippelt, der ist Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft. Guten Tag, Herr Tippelt!
Rudolf Tippelt: Guten Tag!
König: Wir können den Themenkatalog dieses Kongresses hier natürlich nicht in Gänze diskutieren, was ist für Sie die größte Herausforderung, vor der die Erziehungswissenschaftler, die Bildungspolitiker, die Pädagogen in unserer demokratischen Gesellschaft stehen?
Tippelt: Es gibt mehrere wichtige und sehr wichtige Herausforderungen. Die erste haben Sie schon angesprochen: Wie viel Ungleichheit verträgt eigentlich eine Demokratie? Wir wissen aus verschiedenen empirischen Studien, dass gerade Schüler aus sozial schwächeren Schichten und Milieus auch tatsächlich schwächere Leistungen in der Schule haben, manchmal so schlecht in Mathematik und Naturwissenschaft, auch im Lesen, dass sie kaum eine Chance haben, eine Ausbildungsstelle zu bekommen. Und eine Verhinderung weiterer beruflicher Ausbildung ist natürlich auch schon eine große Gefahr, sich demokratisch nicht wirklich einbringen zu können in eine Gesellschaft. Das ist eine der großen Herausforderungen.
König: Wir leben mittlerweile in einer kulturell und sozial ausgesprochen heterogenen Gesellschaft, Sie haben das gerade beschrieben – ist nicht durch diese Entwicklung der alte Grundsatz, gleiche Bildungschancen für alle, obsolet geworden inzwischen?
Tippelt: Nein, die gleichen Bildungschancen für alle, die brauchen wir in jedem Fall. Wir brauchen nicht in jedem Fall – und das schaffen wir auch nicht – die genau gleiche Bildung, das wird nicht gehen, aber die gleichen Bildungschancen sollten alle haben, Mädchen und Jungs, Menschen aus den verschiedensten Regionen, aus den Metropolen genauso wie aus den ländlichen Regionen, aus den Schichten mit weniger Bildung, aber auch den Schichten eben mit mehr Bildung, Erwerbstätigen und nicht Erwerbstätigen.
Diese Chancengleichheit, dass Kinder nicht vom Schicksal ihrer Eltern und von der sozialen Situation ihrer Eltern ihre eigene Bildungskarriere aus planen müssen und dadurch determiniert sind, das müsste man in einer Demokratie schon verhindern, da müssen die öffentlichen Einrichtungen auch Korrekturen schaffen können.
König: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Professor Rudolf Tippelt. Er leitet den Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, der findet statt von heute bis Mittwoch. Herr Tippelt, in Ihrer Grußbotschaft sagen Sie unter anderem, Demokratie sei nicht nur eine Regierungsform, sondern eine Lebensform. Sie sprechen von den Tugenden einer demokratischen Gesellschaft, wie Gemeinsinn, Partizipation, Mitbestimmung, Sie sprechen auch von der der Demokratie zugrunde liegenden Achtung der Menschenrechte. Nun fällt dieser Kongress in eine Zeit, in der die Öffentlichkeit erschüttert wird durch das Bekanntwerden immer neuer Fälle sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen auch durch Pädagogen. Wird das das vielleicht unausgesprochenermaßen heimliche Hauptthema des Kongresses sein?
Tippelt: Dass es das Hauptthema wird, das glaube ich nicht, weil doch so viele andere Themen auch vorbereitet sind. Wissenschaft denkt manchmal in einem längeren Atem. Aber es wird uns selbstverständlich beschäftigen, es muss uns auch beschäftigen.
Es ist auch für uns Wissenschaftler manchmal vielleicht sogar unbegreiflich, was da jetzt noch mal zutage kommt und zutage gekommen ist. Gewalt gegen Kinder ist genau kontrainduziert gegen alles, was ich gesagt habe, und auch gegen jegliche demokratische Entwicklung. Sie unterdrückt sie geradezu. Wir müssen eine Strategie finden, und es wird sicherlich in manchen der Symposien, der Workshops dann doch eine große Rolle spielen, dass Kinder in jeder Form gestärkt werden, dass das Vertrauen zu den Eltern sich stark ausbildet, dass Kinder auch – ich spreche schon sehr stark über diese Missbrauchsfälle – auch ein Bauchgefühl entwickeln dürfen, um sich ihren Eltern zu offenbaren, wenn in ihrem sozialen Nahbereich, auch im öffentlichen Bereich Lehrern gegenüber etwas sich einstellt, was sie glauben, das nicht in Ordnung ist.
Das Vertrauen hier zu den Eltern ist was ganz, ganz Zentrales, damit körperliche Gewalt und dann eben vor allen Dingen sexuelle Gewalt die Entwicklung und die Persönlichkeitsentfaltung von Kindern nicht massiv behindert. Wir werden schon, glaube ich, darüber nachdenken müssen, auch als Erziehungswissenschaft, was wir jetzt in dieser aktuellen Situation tun, und zwar auch mit einer kurzfristigen und aber auch mittelfristigen Zielperspektive. Und da habe ich auch gewisse Ideen, die ich morgen dem Vorstand vorstellen werde.
Im Wesentlichen geht es darum, dass zum Beispiel wir einen Arbeitskreis vielleicht zusammenstellen, weil die Fälle sind komplex, und man darf jetzt nicht pauschalisieren. Das gefällt mir gerade an der öffentlichen Debatte manchmal nicht. Wir müssen, glaube ich, Sozialpädagogen, die sehr viel Heimerfahrung oder Erfahrungen der pädagogischen Arbeit auch in, wir nennen es ja "totalen Institutionen" haben, zusammenbringen mit Kinder- und Jugendpsychiatern, die die Täter und auch die Opfer, vor allen Dingen die Opferperspektive genauer beschreiben können, mit Schulpädagogen, die sich vielleicht seit Jahren – da gibt es schon einige auch in unseren Sektionen – mit Gewalt in der Schule in jeder Form auseinandersetzen, auch mit Schulpsychologen.
Wir brauchen historische Bildungsforscher, die uns die Gewalt gegen Kinder noch mal aufzeigt, vielleicht auch die Fehl- und Irrwege einer früheren Reformpädagogik, wie sie beispielsweise ein Wyneken vertreten hat. Wir brauchen Theologen, die sozusagen in ihrer eigenen Institution noch mal berichten und reflektieren, was hier spezifisch fehlgelaufen ist. Und wir brauchen Juristen, um sozusagen auch die politischen und vor allen Dingen die rechtlichen Handlungsspielräume mit auszuleuchten.
Also so eine Arbeitsgruppe schwebt mir vor, auch dann, wenn vielleicht öffentlich so stark nicht mehr darüber gesprochen wird. Das muss uns beunruhigen und das muss uns beschäftigen.
König: Wenn Sie vom Vertrauen der Kinder zu ihren Eltern sprechen, Sie sagen, man solle nicht pauschalisieren, das Vertrauen ist ja hier schon zerstört worden, das Vertrauen in einzelne Schulen, aber auch damit doch bis zum gewissen Grad das Vertrauen in die Institution Schule generell, denn es ist ja doch durch das jetzige Bekanntwerden der Fälle auch klar geworden, dass bis vor Kurzem die Schulen, einzelne Schulen solche Fälle nicht bekannt gemacht haben, dass wir erst am Anfang stehen einer Aufarbeitung all dessen, was da passiert ist. Sehen Sie nicht schon eine große Vertrauenskrise der Institution Schule gegenüber da auf uns zukommen?
Tippelt: Ja, man darf, wie gesagt, nicht pauschalisieren, es sind einzelne Einrichtungen, die sich selber outen, die jetzt geoutet werden, die jetzt beginnen aufzuarbeiten, und man darf es nicht auf Schule und auf alle Schulen – das wäre ganz ein großer Fehler, glaube ich – verallgemeinern, aber dass eine Vertrauenskrise, insbesondere auch zum Beispiel ins Internatswesen jetzt gerade entsteht, weil in Internaten es doch etwas häufiger aufgetreten ist, das kann man sogar nachvollziehen. Aber auch hier darf man nicht pauschalisieren. Es gibt ganz hervorragende Internate, wo nie ein sexueller Übergriff oder auch ein körperlicher Gewaltübergriff stattgefunden hat.
Trotzdem, Sie haben recht, es erschüttert das Vertrauen. Als Pädagogen und als Erziehungswissenschaftler, glaube ich, können wir nur im öffentlichen Bereich reagieren durch eine noch stärkere Professionalisierung, durch eine stärkere Professionalität pädagogischer Arbeit und die sich sicherlich auf Fach- und didaktische Kompetenz erstreckt, aber die auch diese pädagogische Kompetenz, diesen pädagogischen Takt, auch die richtige Nähe und aber auch die richtige Distanz zu den Kindern und Jugendlichen auch immer wieder mit reflektiert und eine starke Beratungskompetenz mit vermittelt.
König: Wird unter deutschen Erziehungswissenschaftlern die Frage diskutiert, ob und zum Beispiel wenn ja, an welchen Schulen, in welchen Internaten Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern heute, 2010, vorkommen könnten?
Tippelt: Wir, glaube ich, sind von der öffentlichen Debatte ähnlich überrascht wie es vielleicht die Politik oder auch die Medien waren, und es gibt sicherlich einige Kollegen in den verschiedenen Sektionen, die immer einen Blick darauf auch hatten, aber in der Breite haben wir ja dies nicht thematisiert. Wir müssen es jetzt in einem breiteren Maße auch diskutieren, weil es ein jetzt sichtbar gewordenes Problem ist. Ich will nicht sagen, wir haben das unterschätzt, aber ich will doch sagen, wir haben es in dieser Krassheit wohl nicht geahnt und sind auch bestürzt wie viele Eltern und andere, die das im Augenblick beobachten oder die davon bislang keine Kenntnis hatten.