"Wir haben genug!"

Von Jörg Paas |
Ungarns Regierungschef Viktor Orbán regiert mit einer komfortablen Zwei-Drittel-Mehrheit, was zu Verfassungsänderungen und massiven Einschränkungen der Pressefreiheit geführt hat. Orbáns Gegner fürchten um die Demokratie - und ihr Protest hat inzwischen viele Gesichter.
Anfang Januar in der Oper in Budapest: Bei Csardas und in festlicher Abendgarderobe zelebriert Ungarns Regierung sich selbst und die neue Verfassung. Seit dem Jahreswechsel ist sie in Kraft. Der Text beginnt mit einem "nationalen Glaubensbekenntnis". Der Begriff Republik ist aus dem offiziellen Landesnamen gestrichen. Für Regierungschef Viktor Orbán ist es ein wichtiger Tag, denn er kommt seinem Ziel, Ungarn einem völligen Systemwechsel zu unterziehen, einen großen Schritt näher:

"Wir haben unserer tausend Jahre alten Kultur wieder Geltung verschafft, der befreienden Kraft des Christentums, dem Stolz der Nation und der Achtung unserer Ahnen."

Nur unter Polizeischutz konnten die geladenen Gäste die Oper erreichen, denn draußen, vor dem Gebäude, protestieren lautstark mehrere zehntausend Menschen. Viele von ihnen halten Stoppschilder aus Pappe in den Händen, mit der Aufschrift "Wir haben genug". In Sprechchören nennen sie Viktor Orbán einen Diktator.

"Die Ungarn brauchen lange um aufzuwachen. Aber die da drin sollen merken, dass sich das Volk nicht mehr für dumm verkaufen lässt."

"Wir wollen demonstrieren, und zwar für ganz Europa und die ganze Welt, dass Ungarn nicht nur aus der Orbán-Regierung besteht. Ungarn ist auch ein liberales Land. In Ungarn sind auch gute Leute, und das ist sehr wichtig, das zu zeigen."

Der Protest gegen die Regierung hat inzwischen viele Gesichter. Die Zahl der Unzufriedenen wächst. Neben Oppositionsparteien und Gewerkschaften entstehen immer neue Bürgerbewegungen. Eine von ihnen ist "Milla", ins Leben gerufen vor gut einem Jahr – als Initiative gegen das neue Mediengesetz. Am Anfang stand eine Website im Internet und der Aufruf zu einer Demonstration, sagt Mitbegründer Peter Juhasz.

"Ich saß zuhause an meinem PC und suchte nach einem witzigen Namen für die Initiative. Ich wusste, irgendeine Zahl soll mit rein, so als Ziel, wie groß die Bewegung einmal werden könnte. So kam ich auf Milla, das klingt wie eine Million. Das ist natürlich utopisch, dachte ich mir. Aber am ersten Tag hatten wir immerhin schon 15 000 Aufrufe, nach drei Wochen 70 000, und so wurden es immer mehr. Inzwischen haben ein paar hunderttausend Internet-User weltweit unsere Seite angeklickt. Vor einem Jahr war das noch unvorstellbar."

Ein Song, ins Netz gestellt von "Milla", ist inzwischen quasi die Hymne der ungarischen Facebook-Protest-Gemeinde gegen die Regierung. "Nem tetszik a rendszer - Das System gefällt uns nicht", singt Dorottya Karsay.

"Ich bin kein Popstar", sagt die 28-jährige Soziologin, "ich bin eine aktive Staatsbürgerin, die sagt, was ihr nicht passt. Und das habe ich mit Hilfe anderer Menschen in kreativer Form umgesetzt."

Wer die Menschen bewegen will, muss kreativ sein und immer wieder neue Ideen haben. Im Herbst hat "Milla" zehntausend Presseausweise verteilt, hat Demonstranten gegen das Mediengesetz zu Journalisten ernannt und sie aufgefordert, die Meinungsfreiheit in Ungarn mit am Leben zu halten. Die Resonanz war groß.

Einmal pro Woche treffen sich Peter Juhasz und seine Mitstreiter in einem Bierlokal, um neue Vorschläge und Erfahrungen auszutauschen. Die Atmosphäre ist locker. Mal kommen zehn, mal 50 Interessenten.

"Milla ist ein Zusammenschluss aktiver Bürger – ohne feste Struktur, aber mit dem Anspruch, sich in der Gesellschaft zu engagieren. Unser Ziel ist die Durchsetzung demokratischer Werte. Dafür wollen wir eine Plattform bieten."

Ein Büro gibt es nicht. Wer mitmacht, arbeitet zuhause am Computer, vernetzt sich mit anderen Initiativen. Alle, egal ob jung oder alt, sollen sich angesprochen fühlen. Jüngste Idee im Internet: eine Ausschreibung fürs höchste Staatsamt. Bewerber sollen in einem kleinen Video erklären, was sie anders machen würden, wenn sie ungarischer Präsident wären.

"Eine große Lehre, die wir gezogen haben, ist, dass Demonstrationen allein keinen großen Einfluss auf Viktor Orbán haben. Deswegen suchen wir nach anderen Mitteln. Demonstrieren ist ja ganz nett, aber es reicht nicht, nur zu rufen: Orbán verschwinde. Man muss auch Alternativen aufzeigen."

Genau das aber ist schwierig. Die Gegner von Viktor Orbán mögen sich einig sein in der Ablehnung des von ihm geschaffenen autoritären Machtapparates. Was dem Protest jedoch bislang fehlt, ist eine konkrete gemeinsame Perspektive, wie Ungarn künftig aussehen sollte.

Politikwissenschaftler wie Zoltan Kiszelly halten die Erfolgsaussichten der Protestbewegung deshalb für begrenzt. Kiszelly ist seit Wochen ein äußerst gefragter Gesprächspartner für viele Medien, zum einen, weil er fließend englisch und deutsch spricht, zum anderen, weil er die jüngste Entwicklung in Ungarn relativ schnell auf den Punkt bringt:

"Die Angst um die Demokratie beschäftigt vielleicht einige zehntausend Menschen – oder hunderttausend -, aber die überwiegende Mehrheit ist aus wirtschaftlichen Gründen unzufrieden mit der Regierung, wegen des schwachen Forint und wegen der schwachen Einkommenssituation. Und wenn die Oppositionsbewegung in dieser Hinsicht etwas zu sagen hätte, würde sie viel mehr Zuspruch und Unterstützung bekommen, aber sie können nichts Gescheites sagen. Denn Versprechungen glauben die Leute nicht mehr. Was sie nur versprechen können, sind Blut, Schweiß und Tränen – und das wollen die Leute nicht, das haben sie schon seit 40 Jahren satt. Und deswegen haben diese Bewegungen ein Problem."

Auch der optische Eindruck einer Massenbewegung gegen Viktor Orbán täusche, meint Kiszelly. Die Regierung sitze nach wie vor fest im Sattel:

"Viktor Orbán hat eine sehr große, bequeme Mehrheit im Parlament. Seine Partei steht geschlossen hinter ihm. Das heißt, es gibt natürlich parteiinternen Zoff. Aber ich glaube, die Partei wird ohne seine Zustimmung keinen Wechsel – weder in der Politik noch in der Führungsspitze – vornehmen. Und drittens steht die bürgerliche Seite in Ungarn, ein Drittel der Bevölkerung, immer noch hinter Viktor Orbán."

Für ein demokratisches Land höchst ungewöhnlich, gehen in Ungarn die Massen nicht nur gegen, sondern auch für die gewählte Regierung auf die Straße. In Budapest demonstrierten kürzlich an einem Wochenende rund 100 000 Menschen für "ihren" Regierungschef Viktor Orbán. Vor dem Parlament besangen sie ihre Heimat: "Von Lieb und Treu zum Vaterland bleib, Ungar, stets erfüllt!" – nach einem Gedicht von Mihály Vörösmarty:

"Es stimmt nicht, dass der FIDESZ-Partei die Anhänger davonlaufen. Das ist genauso falsch wie die Behauptung, dass Orbán die Demokratie abschaffen will. Das Ausland hat doch ein völlig falsches Bild von unserer Regierung."

Das Fernsehen berichtete ausführlich über den so genannten "Friedensmarsch" der Regierungsanhänger – ganz im Unterschied zum 2. Januar, als die Orbán-Gegner vor der Oper demonstrierten. Da zeigten die Abendnachrichten nur leere Straßen. Eine "technische Panne", wie es hinterher hieß.

Bei der Wahl im April 2010 bekam die FIDESZ-Partei knapp 53 Prozent der Stimmen. Im Parlament wurde daraus – aufgrund des Wahlrechts – eine klare Zweidrittel-Mehrheit für Viktor Orbán. Umfragen scheinen zu belegen, dass die Unzufriedenheit mit der Regierung deutlich wächst. Aber der Premierminister hat auch noch tief überzeugte Anhänger.

Andras und Gyöngyi Szalkay leben in Budapest im 13. Gemeindebezirk, dem einzigen mittlerweile, der immer noch einen sozialistischen Bürgermeister hat. Andras ist Hausmeister, seine Frau putzt, die beiden haben zwei erwachsene Töchter. Früher waren die Zeiten besser: Andras hat als gelernter Feinmechaniker Kameras repariert, seine Frau als Optikerin in einem kleinen Laden gearbeitet. Aber das ist schon ein paar Jahre her.

"Heute geht es uns zwar schlechter als früher, aber die Stimmung ist trotzdem gut, jedenfalls seit Orbán an der Regierung ist. Wir haben wieder Zuversicht – und das Gefühl, dass etwas für uns getan wird."

"Die Regierung hat das Leben jedenfalls nicht noch schwerer gemacht, durch irgendwelche Sparbeschlüsse. Stattdessen hat Orbán eine Bankensteuer eingeführt. Das wird nicht überall gern gesehen, aber so ist es halt. Er versucht eben, nicht das Volk zur Kasse zu bitten, sondern diejenigen, die Geld haben."

Eine ausgesprochen wohlwollende Interpretation der ungarischen Finanz- und Wirtschaftspolitik. In Wirklichkeit hat die Regierung Orbán durch die Einführung eines einheitlichen Einkommenssteuersatzes von 16 Prozent vor allem die Reichen entlastet. Seither klafft im Staatshaushalt ein Milliardenloch. Die Mehrwertsteuer wurde dafür auf satte 27 Prozent angehoben. Der Forint, die ungarische Währung, verliert seit Monaten an Wert gegenüber dem Euro. Und immer wieder ist zu hören, dass das Land kurz vor der Pleite steht. Macht das nicht Angst?

"Nein, wir haben keine Angst. Die Linken haben Angst, die Rechten nicht. Wir vertrauen darauf, dass Orbán einen Weg findet, aus der Krise rauszukommen. Es gibt viele ungarische Unternehmer, die ihre Gewinne im Ausland angelegt haben, aber national gesinnt sind und das Geld ins Land zurückholen werden."

Andras und Gyöngyi Szalay sind sich nicht in allen Fragen einig, aber zu Viktor Orbán werden beide auch in Zukunft halten. Am liebsten würden sie sogar ein Foto von ihm in der Wohnung aufhängen. Aber dagegen gibt es Widerstand in der Familie:

"Nein, ein Bild von Orbán können wir nicht aufhängen, denn leider ist mein Vater links, und die jüngere Tochter auch. Wir wollen ja Frieden haben zuhause. Ich bedaure das zwar, aber so ist es nun mal."

Auch Diskussionen, etwa beim Abendessen, vermeiden die Szalkays lieber:

"Mit der großen Tochter geht das schon, denn die ist inzwischen bekehrt und wählt rechts. Aber die Kleine ist total feindlich gegen Orbán. Mit der kann man gar nicht über Politik reden."

Es hängt nicht unbedingt nur mit dem Alter zusammen, dass die Gesellschaft in Ungarn zunehmend polarisiert erscheint. Das Land droht in zwei Lager zu zerfallen: das der Anhänger von Viktor Orbán und das seiner Gegner. Diskussionen zwischen beiden Seiten finden immer weniger statt, auch deshalb, weil die Medien, in denen sie möglich wären, verschwinden.

Noch sendet "Klubradio". Doch spätestens im März wird das mit Abstand populärste Diskussionsforum des Landes nicht mehr in gewohnter Form zu hören sein. Die vor einem Jahr neu geschaffene und höchst umstrittene Nationale Medienaufsichtsbehörde hat die Frequenz einem anderen, bislang völlig unbekannten Sender zugesprochen. Eine Entscheidung, die nicht nur in Ungarn selbst, sondern auch bei der EU-Kommission in Brüssel Empörung ausgelöst hat. Ein kritisches Medium soll hier ganz offensichtlich zum Verstummen gebracht werden.

"Klubradio wurde vor zehn Jahren etabliert. Das ist das einzige Radio in Ungarn momentan – und das ist nicht übertrieben -, das über die politischen und wirtschaftlichen Geschehnisse, die gesellschaftlichen Probleme öffentlich informiert…"

…erklärt Julia Váradi, Kulturjournalistin bei Klubradio. Das Programm sei der Regierung wohl schon lange ein Dorn im Auge gewesen, meint sie: zu viel Politik, zu viele kritische Stimmen, Call-in-Sendungen mit großer Beteiligung. Dass dafür deutlich weniger ungarische Musik als in anderen Programmen gespielt wurde, konnten die Hörer – bis zu einer halben Million pro Tag - leicht verschmerzen. Für die Medienbehörde war genau dies jedoch ein wichtiges Kriterium bei der neuen Frequenzvergabe.

Kritiker im In- und Ausland sind Sturm gelaufen gegen das neue Mediengesetz der Regierung Orbán. Inzwischen mahnt Brüssel auch bei weiteren Gesetzen Korrekturen an und droht andernfalls mit Konsequenzen. Dabei kann dem Premier eigentlich momentan nicht viel passieren: Zweidrittel-Mehrheit im Parlament, gleichgeschaltete Medien, Gefolgsleute an den wichtigsten Schalthebeln der Macht – Viktor Orbán sitzt ziemlich fest im Sattel:

"Ich hoffe wirklich, dass es so nicht bleibt. Aber leider sind die Kräfte hinter dieser Regierung immer noch sehr stark. Und ich vermute – und dazu muss man nicht Psychologe sein -, dass jemand, wenn er in Bedrängnis kommt, sich immer schlechter benimmt und nicht besser. Also, dann wird man nicht klüger, sondern blöder sozusagen. Natürlich werden wir demonstrieren, soviel wir können, und immer mehr und mehr Leute kommen auf die Straße. Aber es ist auch gefährlich. Es ist schrecklich, wenn so etwas wie Meinungsfreiheit auf der Straße entschieden werden soll. Das ist dann keine Meinungsfreiheit mehr. Das ist keine Freiheit mehr."
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