"Wir haben kein Vorstellungsvermögen für den Kosmos"
Der Direktor der Abteilung für Neurophysiologie am Max-Planck-Institut für Hirnforschung, Wolf Singer, hält die Fähigkeiten des menschlichen Gehirns für begrenzt. Wir könnten nur einen kleinen Ausschnitt von der Welt wahrnehmen, sagt Singer. Unser Gehirn sei nach den gleichen Prinzipien aufgebaut wie das von Ratten. Wir hätten nur mehr Volumen im Kopf als sie.
Matthias Hanselmann: Wer regiert eigentlich unser Gehirn? Haben wir einen freien Willen oder werden wir von den neuronalen Aktivitäten im Gehirn gesteuert? Können wir in absehbarer Zukunft Gedanken lesen? Glaubt man den Hirnforschern, dann wird das möglich sein. Dank neuester Verfahren wird der Blick in unser Hirn immer feinkörniger. Die Frage ist aber, ob uns die bunten Computerbilder wirklich sagen, was wir denken und wie wir fühlen. Wir haben sechs führende Hirnforscher nach den Ergebnissen ihrer Forschung befragt und von heute an, täglich um 14 Uhr, können Sie diese Gespräche bei uns hören.
Den Anfang macht Wolf Singer. Er ist Direktor der Abteilung für Neurophysiologie am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main. Durch die Debatte über Willensfreiheit, die seither nicht aufgehört hat, wurde er einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Und, wie gesagt, Wolf Singer ist so etwas wie der Guru der deutschen Hirnforschung. Mein Kollege Ralf Müller-Schmid aus der Wissenschaftsredaktion hat sich mit Singer unterhalten. Hier das Gespräch.
Ralf Müller-Schmid: Wolf Singer, ganz herzlich willkommen!
Wolf Singer: Guten Tag, grüß Sie Gott!
Müller-Schmid: Einer Ihrer jüngsten Vorträge in der Frankfurter Universität haben Sie unter dem Motto gehalten "Wer regiert im Gehirn". Das klingt ein bisschen so, als ob wir nicht selbst zu bestimmen hätten, wo es in unserem Kopf langgeht? Wer ist den Chef im Schädel?
Singer: Natürlich sind wir selbst, die bestimmen, denn das Gehirn ist ein Organ, das unseren Körper mit ausmacht. Und die Person als Ganzes hat natürlich in allem, was sie tut, die Initiative und die Verantwortung. Nur der Gedanke, dass es außerhalb der neuronalen Mechanismen im Gehirn noch eine Wesenheit geben könne, die auf geheimnisvolle Weise mit dem Gehirn interagiert, damit das tut, was der Wille will, das ist auch neurobiologischer Sicht schlecht vorstellbar. Uns stellt sich die Situation vielmehr so dar, dass das Gehirn ein ungeheuer komplexes System mit nichtlinearen Dynamik, das in die Zukunft hin völlig offen ist, Schritt für Schritt neue Wirklichkeiten erschließt, neue Entscheidungen fällt, von denen uns ein Teil bewusst wird.
Müller-Schmid: Könnte man das denn so zusammenfassen, dass Sie sagen, bewusstes Erleben, die Gesamtheit unserer geistigen Vorgänge, Prozesse, das, was wir auch als das Bewusste, als unser Bewusstsein erleben, das ist im Endeffekt die Summe elektrochemischer Vorgänge im Gehirn?
Singer: Das ist die Folge der informationsverarbeitenden Prozesse im Gehirn, die natürlich ihrerseits wieder auf chemischen, physikalischen Prozessen beruhen wie alles Leben. Aber es entstehen natürlich aufgrund dieser komplexen Prozesse Funktionen, die dann schließlich auch soziale Interaktionen ermöglichen, den Aufbau von Kulturen ermöglicht haben, in denen neue Realitäten entstehen, Realitäten im Dazwischen, Realitäten aus dem Diskurs zwischen Personen, zwischen Gehirnen, die dann sich über Wertesysteme verständigen können, über Begriffe wie Bewusstsein, weil sie Phänomene wahrnehmen, die sich nicht mit den Händen greifen können, die aber als Funktionen komplexer Gehirne sichtbar werden.
Müller-Schmid: Das heißt, es hat im Grunde im Laufe der Evolution so etwas wie eine Verfeinerung von grundlegenden Prozessen stattgefunden. Kann man das sagen?
Singer: Ja, man kann sagen, dass wie bei allen komplexen Systemen durch Komplexitätszunahme neue Phänomene in die Welt kommen können, die zwar auf dem Prozessen, die darunter liegen, beruhen, aber andere Qualitäten haben. Bewusstsein ist eine andere Qualität, ganz ohne Frage, als ein elektrochemischer Prozess, der im Austausch von Signalen zwischen Nervenzellen eine Rolle spielt.
Müller-Schmid: Worauf stützen sich denn die wissenschaftlichen Befunde? Das sind ja sehr weitreichende Thesen, auch für unser Selbstverständnis. Gibt es da so ein paar wichtige Experimente, wo man sagen kann, da ist im Grunde der Stein der Hirnforschung ins Rollen gekommen und das hält ihn auch immer noch in Bewegung?
Singer: Im Grunde stützt sich das Argument, mit dem die Freien-Willen-Diskussion losgetreten worden ist, nicht auf Einzelbefunde, obwohl man solche auch nennen kann, ich kann Ihnen gleich einen davon schildern, sondern auf das Gesamtwissen, das die Neurobiologie inzwischen über die Funktionsweise von Nervensystemen hat. Wir können das Verhalten von einfachen Organismen nahezu vollständig aus der Funktion der Nervenzellen heraus erklären.
Wir sehen im Laufe der Evolution kein grundsätzlich neues Prinzip hinzukommen. Die Nervenzellen, die man in einer Schnecke findet, sind aus den gleichen molekularen Bausteinen wie unsere. Die Signalaustauschmechanismen beruhen auf den gleichen Prinzipien. Wir haben nur sehr viel mehr davon, und unsere Gehirne sind auf sehr viel komplexere Weise verschaltet. Und dadurch entstehen neue Qualitäten, die müssen aber auf die gleichen biochemischen Prozesse zurückführbar sein.
Müller-Schmid: Deutschlandradio Kultur, wir sprechen im "Radiofeuilleton" mit dem Hirnforscher Wolf Singer darüber, wie wir denken und was wir fühlen. Herr Singer, der amerikanische Hirnforscher Eric Kandel, der wurde weltberühmt für seine Untersuchungen an Schnecken. Die haben Sie ja eben schon indirekt angesprochen. Gerne wird auch das Hirn von Ratten herangezogen, wenn es um die Erklärung von grundlegenden menschlichen Hirnfunktionen geht. Wie nahe sind uns denn die Ratten? Nach der Schnecke traue ich mich gar nicht zu fragen, weil ich die im Garten immer ziemlich unfreundlich behandele.
Singer: Tja, es ist so, dass seit Erfindung der Großhirnrinde durch die Evolution keine neuen Hirnstrukturen sich entwickelt haben. Wir haben nur mehr vom Gleichen, vor allen Dingen eine enorme Zunahme des Volumens der Großhirnrinde. Aber ein Stückchen Großhirnrinde von Ratte ist nach genau den gleichen Prinzipien aufgebaut wie ein Stück Großhirnrinde beim Menschen.
Müller-Schmid: Ich glaube, wenn ich da mal einhaken darf, das ist eine Sache, die dem allgemeinen Verstand nur sehr, sehr schwer zugänglich ist. Die Ratte, sagen Sie, hat dasselbe im Kopf. Wir haben als Menschen nur mehr davon. Wie kann man sich diesen enormen Unterschied denn vorstellen. Das ist ja kein nur quantitativer gewesen, was wir als Menschen, sondern auch kulturell in der Lage sind, zu leisten. Nichts gegen Ratten, aber das ist doch in vieler Hinsicht etwas weniger?
Singer: Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass die Mechanismen, die die neuronalen Prozesse dominieren, bei Mensch und Ratte identisch sind. Wir haben nur sehr viel komplexere Verschaltungen, was zu kognitiven Wahrnehmungsleistungen und intellektuellen Leistungen befähigt, die man bei der Ratte nicht finden kann, die man auch bei unseren nächsten Nachbarn, den Menschenaffen, nicht finden kann. Als da zum Beispiel ist die Möglichkeit, eine Theorie des Geistes zu entwickeln, sich vorzustellen, was im Kopf des anderen vor sich geht, wenn der sich in einer bestimmten Situation befindet, ohne darüber uns irgendwelche Mitteilungen zu machen. Oder die Fähigkeit, intentional zu erziehen, absichtlich Wissen, das zu Lebzeiten erworben ist, durch Erziehung weiterzugeben, können Tiere nicht.
Drittens, Tiere sind nicht sprachmächtig. Es bedarf, um sprechen zu können, um so sprechen zu können, wie wir das tun, einer hohen Abstraktionsfähigkeit, was wieder ganz besondere informationsverarbeitende Schritte erfordert. Und dann die Fähigkeit, symbolisch zu repräsentieren, sehr komplexe Zusammenhänge und diese dann in syntaktischen Strukturen weiterzuvermitteln. Das können Tiere nicht. Und das sind die Grundlagen für die kulturelle Evolution. Und dann kommt ein Spiralprozess in Gang. Wenn Sie mal einen Anfang von Kultur haben, dann werden die Kinder, die in diese hineingeboren werden, aufgrund der Prägbarkeit der Gehirne, die entwickeln sich ja sehr langsam, in ihrer Mikrostruktur anders sein als die Gehirne, die in anderen Umgebungen aufgewachsen sind, in Höhlen etwa, obwohl die genetische Ausstattung die gleiche ist.
Müller-Schmid: Ich hake da an der Stelle auch noch mal ein und frage Sie nach den Beweisgründen für diese These, weil im Grund ist das ja so eine Art hirnphysiologische Evolutions- und Kulturtheorie. Wie kommen Sie darauf? Gibt es da tatsächlich Anhaltspunkte in der Forschung, wo man sagen kann, ja hier können wir zeigen, dass diese Entwicklung von der Ratte bis zur Kathedrale, wenn man so will, tatsächlich anhand von Evolutionsbegriffen erklärbar ist?
Singer: Ja, ich denke, das ist, was die Evolutionsbildung hier tut. Sie erklärt für uns alle überzeugend, wie es zur Entstehung von Homo sapiens, sapiens kam. Es gibt Erklärungslücken. Aber im Prinzip wird das wohl so abgelaufen sein. Und selbst die katholische Kirche hat sich ja, wie Sie wissen, vor ein paar Jahren dazu bereit erklärt, die Evolutionstheorie, so wie wir sie kennen, als mehr als nur eine Hypothese zu bezeichnen, sondern als die Interpretation eines Prozesses, der so abgelaufen ist. Und dann kann man im Laufe des Auftretens von Homo sapiens sehr kontinuierlich mitverfolgen, wie sich immer komplexere Kulturen, soziokulturelle Umfelder gebildet haben, in die die Neugeborenen wieder integriert worden sind, geprägt worden sind, in denen wieder besondere Leistungen entfaltet haben und sich so auf diese Weise selbst organisierend, wie Münchhausen sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht, all das entstanden ist, was wir auf unserer Erde kennen im Augenblick.
Müller-Schmid: Es wird nur trotzdem manchen schwer fallen, sozusagen von der Kathedrale bis zum Fuchsbau eine Kontinuität und lediglich einen quantitativen Zugewinn zu sehen.
Singer: Nein, es gibt qualitative Sprünge. Das kennt man bei komplexen Systemen. Es genügt oft, einfach die Komplexität zu erhöhen und Sie bekommen eine neue Qualität. Nehmen Sie doch einfach mal ein paar Transistoren. Wenn Sie nur drei oder vier Transistoren haben, die Sie verschalten können, da können Sie allenfalls ein Regelkreis aufbauen, der Ihnen die Raumtemperatur konstant hält. Nehmen Sie ein paar Millionen davon, dann bekommen Sie ein Laptop, der nun wirklich qualitativ anderes kann.
Müller-Schmid: Können wir davon ausgehen, dass die Hirnforschung in Bezug auf unsere gesamten geistigen Leistungen in den nächsten Jahrzehnten einen kompletten Durchmarsch machen wird, dass wir irgendwann auch ganz genau wissen, was im Hirn passiert?
Singer: Wir werden die molekularen Baustellen des Gehirns in absehbarer Zeit wahrscheinlich alle kennen. Wir werden große Schwierigkeiten haben, die Dynamik, die entsteht durch die hohe Vernetzung von Nervenzellen wirklich zu beschreiben. Es wird uns noch schwerer fallen, diese Beschreibungen dann intuitiv erfassen zu können, weil das sehr, sehr abstrakte raumzeitliche Muster sein werden. Und es wird wahrscheinlich nie gelingen, dass ein bestimmtes Gehirn im Detail in allen seinen Verbindungen zu kennen, weil die Größenordnungen astronomisch sind.
Wir haben etwa zehn hoch 14 Verbindungen zwischen Nervenzellen im Gehirn, das ist eine Zehn mit 14 Nullen dahinter. Das sind Komplexitäten, die man sich nicht vorstellen kann. Weshalb wir Prinzipien schließen können, Entwicklungsprinzipien, genauso wie Verarbeitungsprinzipien, aber die Detailbeschreibung individueller Gehirne wird wahrscheinlich nie möglich sein.
Müller-Schmid: Die Hirnforschung stellt uns ja letztlich als ein besonders komplexen, biologischen Automaten dar, den die Evolution hervorgebracht hat. Bringt uns damit diese neue Form der Erkenntnis, die Hirnforschung, auch das Ende des humanistischen Weltbildes?
Singer: Um Gottes willen, nein. Auch schon die Verwendung des Wortes Automat ist falsch. Denn mit Automaten meinen wir immer irgendwelche Uhrwerke, irgendwelche Geräte, die linear funktionieren. Es nimmt der Einblick in die Mechanismen, die diese Wunderwelt hervorbringen, die wir mit unserer Wahrnehmung, unserem Bewusstsein und unserem Menschsein, mit unserem Gefühle-haben-Können in Verbindung bringen, ja doch diesen Phänomenen überhaupt nichts von ihrem Zauber. Ich verstehe immer nicht, warum das so schrecklich ist, dass wir aus Materie sein sollen. Was ist denn Materie? Wenn Sie das bis hinunter verfolgen, dann bleiben Ihnen dann noch ein paar abstrakte Beschreibungen von Kraftfeldern und Korpuskeln übrig.
Der Fehler ist, wenn man versucht, die Modelle, die man aus diesem kleinen Ausschnitt von Welt, den wir wahrnehmen können, an den wir uns angepasst haben, dass die Welt von Millimetern bis zu ein paar Metern, das ist die Welt, die für uns relevant war, wenn man die nutzt, um nun alles, was sonst noch existiert, einschließlich der Komplexität des Gehirns, auf solche simplen Bedingungen reduzieren zu wollen. Wir haben für diese sehr viel komplexeren Bedingungen kein Vorstellungsvermögen, weder für die Quantenwelt noch für den Kosmos. Wir können Teile davon erklären. Wir sehen, dass es da mit Naturgesetzen zugeht. Aber das nimmt uns nichts von unserer Würde, im Gegenteil. Ich glaube, je mehr man sich damit befasst, umso ehrfürchtiger wird man.
Hanselmann: Mein Kollege Ralf Müller-Schmid im Gespräch mit Wolf Singer, dem Direktor des Institutes für Neurophysiologie am Frankfurter Max-Planck-Institut für Hirnforschung. In unserer Reihe "Wie wir denken, was wir fühlen", täglich hier bei uns im "Radiofeuilleton" um 14 Uhr in dieser Woche. Morgen sprechen wir mit John Dylan Haynes vom Berliner Bernstein Center for Computational Neuroscience über die Möglichkeit, demnächst Gedanken lesen zu können.
Den Anfang macht Wolf Singer. Er ist Direktor der Abteilung für Neurophysiologie am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main. Durch die Debatte über Willensfreiheit, die seither nicht aufgehört hat, wurde er einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Und, wie gesagt, Wolf Singer ist so etwas wie der Guru der deutschen Hirnforschung. Mein Kollege Ralf Müller-Schmid aus der Wissenschaftsredaktion hat sich mit Singer unterhalten. Hier das Gespräch.
Ralf Müller-Schmid: Wolf Singer, ganz herzlich willkommen!
Wolf Singer: Guten Tag, grüß Sie Gott!
Müller-Schmid: Einer Ihrer jüngsten Vorträge in der Frankfurter Universität haben Sie unter dem Motto gehalten "Wer regiert im Gehirn". Das klingt ein bisschen so, als ob wir nicht selbst zu bestimmen hätten, wo es in unserem Kopf langgeht? Wer ist den Chef im Schädel?
Singer: Natürlich sind wir selbst, die bestimmen, denn das Gehirn ist ein Organ, das unseren Körper mit ausmacht. Und die Person als Ganzes hat natürlich in allem, was sie tut, die Initiative und die Verantwortung. Nur der Gedanke, dass es außerhalb der neuronalen Mechanismen im Gehirn noch eine Wesenheit geben könne, die auf geheimnisvolle Weise mit dem Gehirn interagiert, damit das tut, was der Wille will, das ist auch neurobiologischer Sicht schlecht vorstellbar. Uns stellt sich die Situation vielmehr so dar, dass das Gehirn ein ungeheuer komplexes System mit nichtlinearen Dynamik, das in die Zukunft hin völlig offen ist, Schritt für Schritt neue Wirklichkeiten erschließt, neue Entscheidungen fällt, von denen uns ein Teil bewusst wird.
Müller-Schmid: Könnte man das denn so zusammenfassen, dass Sie sagen, bewusstes Erleben, die Gesamtheit unserer geistigen Vorgänge, Prozesse, das, was wir auch als das Bewusste, als unser Bewusstsein erleben, das ist im Endeffekt die Summe elektrochemischer Vorgänge im Gehirn?
Singer: Das ist die Folge der informationsverarbeitenden Prozesse im Gehirn, die natürlich ihrerseits wieder auf chemischen, physikalischen Prozessen beruhen wie alles Leben. Aber es entstehen natürlich aufgrund dieser komplexen Prozesse Funktionen, die dann schließlich auch soziale Interaktionen ermöglichen, den Aufbau von Kulturen ermöglicht haben, in denen neue Realitäten entstehen, Realitäten im Dazwischen, Realitäten aus dem Diskurs zwischen Personen, zwischen Gehirnen, die dann sich über Wertesysteme verständigen können, über Begriffe wie Bewusstsein, weil sie Phänomene wahrnehmen, die sich nicht mit den Händen greifen können, die aber als Funktionen komplexer Gehirne sichtbar werden.
Müller-Schmid: Das heißt, es hat im Grunde im Laufe der Evolution so etwas wie eine Verfeinerung von grundlegenden Prozessen stattgefunden. Kann man das sagen?
Singer: Ja, man kann sagen, dass wie bei allen komplexen Systemen durch Komplexitätszunahme neue Phänomene in die Welt kommen können, die zwar auf dem Prozessen, die darunter liegen, beruhen, aber andere Qualitäten haben. Bewusstsein ist eine andere Qualität, ganz ohne Frage, als ein elektrochemischer Prozess, der im Austausch von Signalen zwischen Nervenzellen eine Rolle spielt.
Müller-Schmid: Worauf stützen sich denn die wissenschaftlichen Befunde? Das sind ja sehr weitreichende Thesen, auch für unser Selbstverständnis. Gibt es da so ein paar wichtige Experimente, wo man sagen kann, da ist im Grunde der Stein der Hirnforschung ins Rollen gekommen und das hält ihn auch immer noch in Bewegung?
Singer: Im Grunde stützt sich das Argument, mit dem die Freien-Willen-Diskussion losgetreten worden ist, nicht auf Einzelbefunde, obwohl man solche auch nennen kann, ich kann Ihnen gleich einen davon schildern, sondern auf das Gesamtwissen, das die Neurobiologie inzwischen über die Funktionsweise von Nervensystemen hat. Wir können das Verhalten von einfachen Organismen nahezu vollständig aus der Funktion der Nervenzellen heraus erklären.
Wir sehen im Laufe der Evolution kein grundsätzlich neues Prinzip hinzukommen. Die Nervenzellen, die man in einer Schnecke findet, sind aus den gleichen molekularen Bausteinen wie unsere. Die Signalaustauschmechanismen beruhen auf den gleichen Prinzipien. Wir haben nur sehr viel mehr davon, und unsere Gehirne sind auf sehr viel komplexere Weise verschaltet. Und dadurch entstehen neue Qualitäten, die müssen aber auf die gleichen biochemischen Prozesse zurückführbar sein.
Müller-Schmid: Deutschlandradio Kultur, wir sprechen im "Radiofeuilleton" mit dem Hirnforscher Wolf Singer darüber, wie wir denken und was wir fühlen. Herr Singer, der amerikanische Hirnforscher Eric Kandel, der wurde weltberühmt für seine Untersuchungen an Schnecken. Die haben Sie ja eben schon indirekt angesprochen. Gerne wird auch das Hirn von Ratten herangezogen, wenn es um die Erklärung von grundlegenden menschlichen Hirnfunktionen geht. Wie nahe sind uns denn die Ratten? Nach der Schnecke traue ich mich gar nicht zu fragen, weil ich die im Garten immer ziemlich unfreundlich behandele.
Singer: Tja, es ist so, dass seit Erfindung der Großhirnrinde durch die Evolution keine neuen Hirnstrukturen sich entwickelt haben. Wir haben nur mehr vom Gleichen, vor allen Dingen eine enorme Zunahme des Volumens der Großhirnrinde. Aber ein Stückchen Großhirnrinde von Ratte ist nach genau den gleichen Prinzipien aufgebaut wie ein Stück Großhirnrinde beim Menschen.
Müller-Schmid: Ich glaube, wenn ich da mal einhaken darf, das ist eine Sache, die dem allgemeinen Verstand nur sehr, sehr schwer zugänglich ist. Die Ratte, sagen Sie, hat dasselbe im Kopf. Wir haben als Menschen nur mehr davon. Wie kann man sich diesen enormen Unterschied denn vorstellen. Das ist ja kein nur quantitativer gewesen, was wir als Menschen, sondern auch kulturell in der Lage sind, zu leisten. Nichts gegen Ratten, aber das ist doch in vieler Hinsicht etwas weniger?
Singer: Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass die Mechanismen, die die neuronalen Prozesse dominieren, bei Mensch und Ratte identisch sind. Wir haben nur sehr viel komplexere Verschaltungen, was zu kognitiven Wahrnehmungsleistungen und intellektuellen Leistungen befähigt, die man bei der Ratte nicht finden kann, die man auch bei unseren nächsten Nachbarn, den Menschenaffen, nicht finden kann. Als da zum Beispiel ist die Möglichkeit, eine Theorie des Geistes zu entwickeln, sich vorzustellen, was im Kopf des anderen vor sich geht, wenn der sich in einer bestimmten Situation befindet, ohne darüber uns irgendwelche Mitteilungen zu machen. Oder die Fähigkeit, intentional zu erziehen, absichtlich Wissen, das zu Lebzeiten erworben ist, durch Erziehung weiterzugeben, können Tiere nicht.
Drittens, Tiere sind nicht sprachmächtig. Es bedarf, um sprechen zu können, um so sprechen zu können, wie wir das tun, einer hohen Abstraktionsfähigkeit, was wieder ganz besondere informationsverarbeitende Schritte erfordert. Und dann die Fähigkeit, symbolisch zu repräsentieren, sehr komplexe Zusammenhänge und diese dann in syntaktischen Strukturen weiterzuvermitteln. Das können Tiere nicht. Und das sind die Grundlagen für die kulturelle Evolution. Und dann kommt ein Spiralprozess in Gang. Wenn Sie mal einen Anfang von Kultur haben, dann werden die Kinder, die in diese hineingeboren werden, aufgrund der Prägbarkeit der Gehirne, die entwickeln sich ja sehr langsam, in ihrer Mikrostruktur anders sein als die Gehirne, die in anderen Umgebungen aufgewachsen sind, in Höhlen etwa, obwohl die genetische Ausstattung die gleiche ist.
Müller-Schmid: Ich hake da an der Stelle auch noch mal ein und frage Sie nach den Beweisgründen für diese These, weil im Grund ist das ja so eine Art hirnphysiologische Evolutions- und Kulturtheorie. Wie kommen Sie darauf? Gibt es da tatsächlich Anhaltspunkte in der Forschung, wo man sagen kann, ja hier können wir zeigen, dass diese Entwicklung von der Ratte bis zur Kathedrale, wenn man so will, tatsächlich anhand von Evolutionsbegriffen erklärbar ist?
Singer: Ja, ich denke, das ist, was die Evolutionsbildung hier tut. Sie erklärt für uns alle überzeugend, wie es zur Entstehung von Homo sapiens, sapiens kam. Es gibt Erklärungslücken. Aber im Prinzip wird das wohl so abgelaufen sein. Und selbst die katholische Kirche hat sich ja, wie Sie wissen, vor ein paar Jahren dazu bereit erklärt, die Evolutionstheorie, so wie wir sie kennen, als mehr als nur eine Hypothese zu bezeichnen, sondern als die Interpretation eines Prozesses, der so abgelaufen ist. Und dann kann man im Laufe des Auftretens von Homo sapiens sehr kontinuierlich mitverfolgen, wie sich immer komplexere Kulturen, soziokulturelle Umfelder gebildet haben, in die die Neugeborenen wieder integriert worden sind, geprägt worden sind, in denen wieder besondere Leistungen entfaltet haben und sich so auf diese Weise selbst organisierend, wie Münchhausen sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht, all das entstanden ist, was wir auf unserer Erde kennen im Augenblick.
Müller-Schmid: Es wird nur trotzdem manchen schwer fallen, sozusagen von der Kathedrale bis zum Fuchsbau eine Kontinuität und lediglich einen quantitativen Zugewinn zu sehen.
Singer: Nein, es gibt qualitative Sprünge. Das kennt man bei komplexen Systemen. Es genügt oft, einfach die Komplexität zu erhöhen und Sie bekommen eine neue Qualität. Nehmen Sie doch einfach mal ein paar Transistoren. Wenn Sie nur drei oder vier Transistoren haben, die Sie verschalten können, da können Sie allenfalls ein Regelkreis aufbauen, der Ihnen die Raumtemperatur konstant hält. Nehmen Sie ein paar Millionen davon, dann bekommen Sie ein Laptop, der nun wirklich qualitativ anderes kann.
Müller-Schmid: Können wir davon ausgehen, dass die Hirnforschung in Bezug auf unsere gesamten geistigen Leistungen in den nächsten Jahrzehnten einen kompletten Durchmarsch machen wird, dass wir irgendwann auch ganz genau wissen, was im Hirn passiert?
Singer: Wir werden die molekularen Baustellen des Gehirns in absehbarer Zeit wahrscheinlich alle kennen. Wir werden große Schwierigkeiten haben, die Dynamik, die entsteht durch die hohe Vernetzung von Nervenzellen wirklich zu beschreiben. Es wird uns noch schwerer fallen, diese Beschreibungen dann intuitiv erfassen zu können, weil das sehr, sehr abstrakte raumzeitliche Muster sein werden. Und es wird wahrscheinlich nie gelingen, dass ein bestimmtes Gehirn im Detail in allen seinen Verbindungen zu kennen, weil die Größenordnungen astronomisch sind.
Wir haben etwa zehn hoch 14 Verbindungen zwischen Nervenzellen im Gehirn, das ist eine Zehn mit 14 Nullen dahinter. Das sind Komplexitäten, die man sich nicht vorstellen kann. Weshalb wir Prinzipien schließen können, Entwicklungsprinzipien, genauso wie Verarbeitungsprinzipien, aber die Detailbeschreibung individueller Gehirne wird wahrscheinlich nie möglich sein.
Müller-Schmid: Die Hirnforschung stellt uns ja letztlich als ein besonders komplexen, biologischen Automaten dar, den die Evolution hervorgebracht hat. Bringt uns damit diese neue Form der Erkenntnis, die Hirnforschung, auch das Ende des humanistischen Weltbildes?
Singer: Um Gottes willen, nein. Auch schon die Verwendung des Wortes Automat ist falsch. Denn mit Automaten meinen wir immer irgendwelche Uhrwerke, irgendwelche Geräte, die linear funktionieren. Es nimmt der Einblick in die Mechanismen, die diese Wunderwelt hervorbringen, die wir mit unserer Wahrnehmung, unserem Bewusstsein und unserem Menschsein, mit unserem Gefühle-haben-Können in Verbindung bringen, ja doch diesen Phänomenen überhaupt nichts von ihrem Zauber. Ich verstehe immer nicht, warum das so schrecklich ist, dass wir aus Materie sein sollen. Was ist denn Materie? Wenn Sie das bis hinunter verfolgen, dann bleiben Ihnen dann noch ein paar abstrakte Beschreibungen von Kraftfeldern und Korpuskeln übrig.
Der Fehler ist, wenn man versucht, die Modelle, die man aus diesem kleinen Ausschnitt von Welt, den wir wahrnehmen können, an den wir uns angepasst haben, dass die Welt von Millimetern bis zu ein paar Metern, das ist die Welt, die für uns relevant war, wenn man die nutzt, um nun alles, was sonst noch existiert, einschließlich der Komplexität des Gehirns, auf solche simplen Bedingungen reduzieren zu wollen. Wir haben für diese sehr viel komplexeren Bedingungen kein Vorstellungsvermögen, weder für die Quantenwelt noch für den Kosmos. Wir können Teile davon erklären. Wir sehen, dass es da mit Naturgesetzen zugeht. Aber das nimmt uns nichts von unserer Würde, im Gegenteil. Ich glaube, je mehr man sich damit befasst, umso ehrfürchtiger wird man.
Hanselmann: Mein Kollege Ralf Müller-Schmid im Gespräch mit Wolf Singer, dem Direktor des Institutes für Neurophysiologie am Frankfurter Max-Planck-Institut für Hirnforschung. In unserer Reihe "Wie wir denken, was wir fühlen", täglich hier bei uns im "Radiofeuilleton" um 14 Uhr in dieser Woche. Morgen sprechen wir mit John Dylan Haynes vom Berliner Bernstein Center for Computational Neuroscience über die Möglichkeit, demnächst Gedanken lesen zu können.