"Wir haben nicht genau hingeguckt"

Tilman Jens im Gespräch mit Joachim Scholl |
Wir wussten, dass der Lehrer Gerold B. mit seinen Jungs duscht, sagt der Buchautor und ehemalige Schüler der Odenwaldschule, Tilman Jens. Dennoch fordert er eine ausgewogene Aufarbeitung des Missbrauchsskandals an dem Internat im hessischen Heppenheim. Die Schule, an der "es eben auch schön" war, habe dies ebenso verdient wie so mancher zu Unrecht beschuldigte Lehrer.
Joachim Scholl: Eine enge menschliche Beziehung zwischen Lehrer und Schüler, ein reger intellektueller Austausch, eine unverkrampfte humane Erziehung – das hat der Journalist Tilman Jens als Schüler der Odenwaldschule erlebt. Jener Schule, die heute für den schlimmsten Missbrauch in der deutschen Pädagogik steht, seit vor einem Jahr das ganze Ausmaß der sexuellen Übergriffe bekannt wurde.

Jetzt hat sich Tilman Jens seiner und dieser Geschichte gestellt in dem Buch "Freiwild. Die Odenwaldschule – ein Lehrstück von Opfern und Tätern". Tilman Jens, willkommen im Deutschlandradio Kultur!

Tilman Jens: Ich grüße Sie, Herr Scholl!

Scholl: Als Freiwild, so haben sich viele Missbrauchte in der Odenwaldschule gefühlt, und das mittlerweile vielfach artikuliert. In Ihrer Lesart, Herr Jens, sind mittlerweile auch die Schule selbst und die Pädagogen dort Freiwild. Warum?

Jens: Na ja also Freiwild, ganz klar, sind die Schüler, sind die Opfer, man geht von 130 aus. Das muss man genauer sich anschauen, die Zahl. Aber es ist grauenhaft. Aber im Zuge der Aufklärung ist, denke ich – und das versuche ich zu zeigen – es zu einer Hysterisierung gekommen. Und mittlerweile in der Tat wird auch die Hatz auf nachweislich unschuldige Lehrer gemacht.

Ich denke, das Delikt ist so gravierend, dass man genau hinschauen soll, und nicht, weil man die Täter nicht mehr fassen kann, weil die Delikte verjährt sind und zwei der drei Haupttäter tot sind, jetzt wild um sich zu schlagen, das halte ich für den falschen Weg.

Scholl: Die ersten zwei Kapitel Ihres Buches heißen "Himmel" und "Hölle". Und Sie beschreiben, dass die Schule für Sie ein himmlischer Ort war. Ein Ort der Freiheit, der Bildung, der Kultur, der Pädagogik. Gerold Becker, ein toller Typ und großes Vorbild. Heute fragen Sie sich, warum Sie damals im Paradies den höllischen Part nie gesehen haben, gespürt, wahrgenommen haben, der auch von der Person Gerold Beckers dominiert war. Haben Sie inzwischen eine Antwort?

Jens: Ja, ich glaube, das Gravierendste ist, zwei Punkte sind wichtig. Das eine ist, wir waren so mit uns selber beschäftigt, dass wir ganz offensichtlich – obwohl es ja immer heißt, das große Motto der Odenwaldschule war soziale Verantwortung, das Erlernen von sozialer Verantwortung –, wir haben nicht genau hingeguckt. Ich bin als 18-jähriger Schüler hingekommen, 18, 19, die beiden Jahre habe ich da verlebt. Ich hätte es sehen müssen, ganz klar.

Das andere ist, wir hatten die Begrifflichkeit auch nicht. Also die Adenauer-Moral lag hinter uns, wir waren vom wilden Aufbruch beseelt, also in Tübingen, da kam ich her, hieß es, sprengt mit eurem Samen den bürgerlichen Rahmen, skandierten die Studenten. Davon haben wir viel mitgenommen. Wir haben … - wir wussten: Gerold Becker duscht mit seinen Jungs. – Na gut, was soll’s! Dass das gravierende Folgen haben kann, dass das vor allen Dingen nicht auf Freiwilligkeit beruhte und dass natürlich 13-, 14-, 15-jährige Jungs auch keine Freiwilligkeit haben können, keinen Begriff von Freiwilligkeit, das war uns damals nicht bewusst.

Scholl: Die Regel war der Missbrauch nicht, auch kein System, schreiben Sie, und dies werde in diesen Tagen – weiter geht das Zitat – der notwendigen Aufklärungen, der undifferenzierten Generalabrechnung gern übersehen. Und eben das hat verhängnisvolle Folgen. Welche Folgen wären das, welche sind so verhängnisvoll für Sie?

Jens: Ich finde, man muss darstellen, was gewesen ist. Man muss auch die Versäumnisse in der Aufklärung – wir wissen ja seit 1999 zumindest in Umrissen, was passiert ist, niemand hat nachgefragt. All das muss man sehr präzise analysieren, muss man nachhaken, gucken, was ist passiert, welche Lehrer waren tatsächlich schuld. Heute wird aber alles in Bausch und Bogen ja inkriminiert.

Ich nenne Ihnen mal ein Beispiel: Es sind, auch wenn es nach heutigen Maßstäben natürlich nicht mehr geht. Es gab eine Reihe von Schüler-Lehrer-Verhältnissen. Daraus sind, also mir sind drei Ehen bekannt, die daraus entstanden sind und bis heute andauern. Es gab es. Aber das ist etwas anderes als der systematische Missbrauch, die ja fast industrielle Ausbeutung von Schülern. Und das sehe ich bei drei Lehrern.

Schlimm genug, diese Lehrer beschreibe ich, aber es gibt einen Bildhauer aus Darmstadt, der hat sich hingestellt und erst mal neun Namen rausgehauen, sieben davon musste er zurücknehmen. Und dieser Mann taucht als Kronzeuge in einem Dokumentarfilm auf, der nächste Woche läuft. Ich finde das grauenhaft. Also man muss genau hingucken, gerade weil es so furchtbar ist!

Scholl: Sie haben, schreiben Sie, mit über 100 Menschen gesprochen im Umkreis des Skandals. Der Autor Christian Füller, er spricht in seinem jüngsten Buch von einem zweiten Sündenfall, nämlich dass man die Sache eigentlich eher beschweigt, sich nicht wirklich auseinandersetzt mit dem, was geschehen ist, und vor allen Dingen nicht mit den Opfern. Wie ist es Ihnen ergangen bei Ihren Recherchen, Herr Jens?

Jens: Na ja, mir sind ganz tief traumatisierte Opfer begegnet, ich habe gelernt, wie – und das ist das Spannende – ein und dasselbe Delikt auf unterschiedliche Schüler vollkommen anders wirken kann. Also ein Schüler, der von seinem Musiklehrer hundertfach missbraucht wurde, der sagt heute, na ja also, angenehm war es nicht, mir wäre es lieber gewesen, es wäre nicht passiert, wenn ich ihm nicht das Knöchelchen hätte streicheln müssen, aber ich habe keine schwerwiegenden Folgen davongetragen und vor allem: Zu Hause wäre es viel schlimmer gewesen!

Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die bis heute weinen, zittern, wenn sie davon erzählen, wie der Lehrer Jürgen K. sie nächtens befummelt hat, Schülerinnen, Schüler, tief geschädigt. Da muss Entschädigung geleistet werden natürlich. Aber man muss hingucken!

Scholl: "Freiwild", ein Buch über die Odenwaldschule und die Zeit, die er dort verbracht hat, von Tilman Jens. Der Journalist ist hier im Deutschlandradio Kultur mit uns im Gespräch. Lassen Sie uns bei den Opfern bleiben, Herr Jens, und da nimmt Ihr Buch eine ganz besondere Färbung an, wenn Sie nämlich verschiedene Geschichten über das Phänomen der sogenannten False Memory erzählen, also der falschen Erinnerung, wie ihn die Psychologie schon lange kennt als Begriff und Phänomen, das Gedächtnis spielt mit uns Spielchen. Wir erinnern uns an Dinge, die niemals geschehen sind. Wenn Sie diese Geschichten sozusagen entwickeln als Opfer über Opfer, die sich als solche falsch erinnern, da bekommt man unwillkürlich den Eindruck: Wenn das ein Opfer liest, dann sagt es: 'Na dankeschön, Freund!'

Jens: Na gut, wie gesagt: hingucken! Ich meine, mit 'Dankeschön, Freund!' muss ich dann leben. Ich beschreibe also einen Kronzeugen, der sagt, ich habe aus eigener Anschauung neun Lehrer beim Missbrauch erlebt, der hat es vor Gericht zurücknehmen müssen. Das muss man sich vorstellen! Und zwar, der Mann hat nicht, das ist kein boshafter Typ, sondern der hat sich, der hat etwas gehört und hat es mit eigenen Erinnerungen, eigener Zeugenschaft vermengt. Das ist das eine.

Es gibt einen zweiten Fall, unbeschreiblich, eine Schülerin, die ich sehr gut gekannt habe, sehr gemocht habe, die sagte, der Lehrer Hartmut A., mit dem hatte ich ein Verhältnis, obwohl er mit einer anderen Schülerin damals schon verheiratet war. Ich habe diese Schülerin erreicht, sie hat gesagt: 'Ja, das war so.' – Der Lehrer sagt: 'Es war nicht so.'

Die haben dann beide miteinander kommuniziert, der eine hat gesagt, die Schülerin hat gesagt, es war nett mit dir, und der Lehrer hat gesagt, ich kann mir das nicht vorstellen. Es stellte sich heraus, dass diese Schülerin zwei Lehrer verwechselt hat, anhand von Fotos haben wir dieses rausgekriegt. Man muss, auch dieses gehört zum Teil der Geschichte. Das ist keine Verhöhnung, keine Kritik an den Opfern, aber ich muss, um die Taten anzuklagen, eben präzise entscheiden.

Scholl: Gerold Becker ist tot, man kann ihn nicht mehr zur Verantwortung ziehen. Sein Lebensgefährte und ja gleichzeitig Superstar der modernen deutschen Pädagogik, Hartmut von Hentig, er hat den Freund verteidigt, sich nicht distanziert. Sie wiederum, Herr Jens, verteidigen dieses Verhalten, das doch sehr viele Beobachter und Experten irritiert hat.

Jens: Nein, ich verteidige es nicht. Ich erinnere, also ich habe selber auf dieser Welle gesagt, wie fassungslos mich das macht, ich schreibe das auch im Buch. Hartmut von Hentig hat sich um Kopf und Kragen geredet, wenn er sagt, allenfalls sei Gerold Becker ein Verführter gewesen. Nur, man muss sich natürlich auch daran erinnern: Gerold Becker starb zu dieser Zeit, er lag schon ganz schwer krank im Bett. Ich würde auch Hartmut von Hentig, ja, ein Trauerjahr geben. Ich hätte ihn dazu zumindest in diesem Jahr nicht befragt. Dass das, was er befragt hat, grauenhaft war, ja, daran besteht kein Zweifel, das würde ich nie verteidigen und nie beschönigen.

Scholl: Wenn man Ihr Buch liest, Herr Jens, gewinnt man den Eindruck, dass Sie sich, also dass Sie Ihre Erinnerung retten wollen und das Konzept der Schule gleich mit. Richtig?

Jens: Nein, ich will nichts retten. Dazu, glaube ich, beschreibe ich zu sehr, was da passiert ist. Ich will nur sagen: Man darf, denke ich, nicht alles jetzt unter dieses Rubrum Missbrauch stellen. Also das ist sozusagen, das Wort Missbrauch scheint jedes Nachdenken zu erdrücken, jede genaue Analyse zu erdrücken. Auf der Odenwaldschule – das sagen im Übrigen auch viele Opfer – war es eben auch schön, und diese Schule, ja, ich kämpfe dafür, ich bin Mitglied da im Trägerverein. Selbstverständlich, diese Schule sollte weiter bestehen!

Scholl: Tilman Jens, ich danke für Ihren Besuch und das Gespräch. Das Buch "Freiwild. Die Odenwaldschule – ein Lehrstück von Opfern und Tätern" von Tilman Jens ist im Gütersloher Verlagshaus erschienen, mit 192 Seiten zum Preis von 17,99 Euro.
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