"Wir kratzen uns achtsam den Rücken …"

Von Jochen R. Klicker |
Geistesfreiheit für jeden einzelnen und Anstand im Umgang aller miteinander - viel mehr ist es nicht, was den alltäglich gelebten und ständig ausgeübten Buddhismus angeht. Wobei es durchaus irritieren mag, dass sich solch buddhistischer Geist in zahllosen unterschiedlichen praktischen Varianten und philosophischen Lehrstücken darstellt, die von vielen Menschen wahrgenommen und geübt werden können – auch von solchen "Suchenden", die gar nicht auf die Idee kämen, ihre eigenen spirituellen Entdeckungen und Beobachtungen als "buddhistisch" zu verstehen.
"Wir fragen nie jemand: 'Sind Sie Buddhist?'… Die Lehre Buddhas, die wir Dhamma nennen, ist nicht für Buddhisten, sondern für Menschen gemacht. Der Buddha sagt: Meine Botschaft oder meine 'Dhamma', diese Dhamma ist nicht von mir. (Ich habe sie nur entdeckt, ), wie Kolumbus Amerika entdeckt hat. Diese Entdeckung ist für alle Menschen – mit oder ohne Religion, mit Glauben oder ohne Glauben. Die Dhamma entfernt schlechte Sachen aus deinem Leben und kultiviert Gutes durch geistige Selbstkontrolle. Darum fragen wir nie den, der hier reinkommt: 'Sind Sie Buddhist oder nicht?'"

So bemüht sich Tissa Weeraratna - der Geschäftsführer des buddhistischen Hauses in Berlin-Frohnau -, Verständnis zu schaffen für etwas, was nur schwer zu verstehen ist. Nämlich dass erstens die buddhistische "Religion ohne Gott" – die Dhamma - für jedermann gemacht ist und nicht nur für ein paar Sinnsucher. Dass sie zweitens kein ewiges Leben zu schenken verspricht, sondern Einzelerlösung durch meditative Selbsterkenntnis; wobei der Buddha dabei lediglich als Lehrer und Wegweiser – Arahat – gesehen wird. Und dass drittens das Begehren - Tanha – die entscheidende Ursache für die Leidhaftigkeit allen Lebensgefühles ist, die es zu überwinden gilt. Der Religionswissenschaftler Alois Payer hat es – zugespitzt – so formuliert:

Buddhisten sind nicht eine Vereinigung von Leuten, die im Stechschritt zum Nirvana marschieren. Buddhisten sind auch kein Diskutierzirkel für scharfsinnige Denksportaufgaben wie die Lehre vom Nicht-Ich, von der Leerheit, dem Nirwana und ähnlichen beliebten Kaffeekränzchenunterhaltungen. Die Intension des Buddhismus gilt dem angstfreien Umgang mit unserer alltäglichen Erfahrung von Leid, von Alter, Krankheit und Tod und vor allem den unliebsamen Erfahrungen mit unseren Mitmenschen.

"Lebe ich? Fühle ich mich wirklich lebendig?
Bin ich wach? Bin ich aufmerksam? Bin ich konzentriert?
Wo bin ich? Bin ich dort, wo ich sein will?
Bin ich hier? Wo bin ich mit meinen Gedanken? Im Jetzt?
Was tue ich Was fühle ich? Was geht in mir vor?
Woran denke ich? Was stelle ich mir vor? Was geschieht um mich herum?
Was sehe ich? Was höre ich? Was rieche ich? Was schmecke ich? Was spüre ich?
Mit welchen Menschen bin ich zusammen? Was ist daran schön? Was gut? Was kann ich daran lieben?
Was macht diesen Augenblick so wertvoll?
Was denke ich darüber? Was weiß ich darüber? Stimmt das?
Wie kann ich mehr erfahren? Was bedeutet es?
Wo steckt der Witz? Wie lautet die Botschaft?
Was kann ich daraus lernen? Bringt es mich weiter?
Welche Fragen wirft es auf?
Wer? Was? Wann? Wo? Wie? Wozu? Warum? Warum nicht?
Was sagt meine innere Stimme? Was habe ich verstanden?
Was sage ich darüber? Sollte ich mir das notieren?
Habe ich schon danke gesagt? Wofür kann ich dankbar sein? Wem kann ich dankbar sein?
Wie fühle ich mich jetzt?
Bin ich glücklich?
Ja!?"

So hört sich ein kleiner Fahrplan an, nach dem mindestens einmal am Tag der um Wahrheit und Weisheit bemühte Mensch sein Empfinden, Wünschen und Tun überprüfen soll. Das klingt alles sehr vernünftig, möglicherweise sogar so "praktisch", dass man sich in ein Fortbildungsseminar für Führungskräfte der internationalen Wirtschaft versetzt fühlt. Im Buddhistischen Haus wird betont, dass man eben nicht an der Differenz von Erfahrungen, sondern an ihrer Übereinstimmung interessiert sei. Die soll man als Dhamma studieren, als meditative Selbsterkenntnis erleben und als Achtsamkeit einüben. Tissa Weerarat vom Buddhistischen Haus Berlin:

"Man braucht keine Dhamma auszuüben, wenn wir beim Leiden stehen bleiben. Dann ist die buddhistische Lehre wertlos. Weil die Dhamma eine Alternative hat durch Praxis, sollte man üben, ganz einfach ein guter Mensch zu sein. Ich kratze Ihren Rücken und Sie kratzen meinen Rücken …das ist der einzige Weg, wie wir als Gesellschaft zurechtkommen können. Mehr ist das nicht: Die Gier aufheben. Hass aufheben. Verblendung aufheben. Und shake hands. Und jeder kratzt dem anderen den Rücken … so ist das richtige Leben. Leiden kann man nicht vermeiden. Aber man kann es vernichten durch Weisheit."

Ständig fallen die beiden Begriffe, die offenbar zu den zentralen Aussagen und Verhaltensweisen buddhistischer Lehre gehören: Dhamma – wörtlich übersetzt "das Tragende" – und Achtsamkeit.

Achtsamkeit heißt, alles, was im gegenwärtigen Moment geschieht, bewusst wahrzunehmen, ohne zu urteilen. Oft verliert man den gegenwärtigen Augenblick aus den Augen, die einzige Zeit, in der man handeln und die man erleben kann. Wenn sich die Gedanken nur noch in der Zukunft oder der Vergangenheit befinden, ist es nicht mehr möglich, präsent zu sein, weder bei kleinen noch bei großen Ereignissen – das Leben rauscht förmlich vorbei, ohne gelebt zu werden. Durch Achtsamkeit ist es möglich, innezuhalten und die Atmung, den Körper und die Gedanken aufmerksam wahrzunehmen, ohne sie direkt beurteilen oder verändern zu wollen.
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So formuliert es die Psychologin Angelika Albert aus dem Bedburger Institut für Achtsamkeit. Wenn aber das ganze System nach Form und Inhalt derart durchdacht und bedacht ist, dann müsste es doch auch erlernbar sein. Dazu die Buddhismusforscherin und Meditationslehrerin Marianne Wachs vom Buddhistischen Zentrum Berlin:

"Man kann Buddhismus lernen in den Anfangsgründen. Dann muss man sich aber selbst bemühen und zwar dreifach! Das erste ist die Ethik. Manche vergessen so die ethische Grundlage. Das ist nicht gut. Man muss zweitens dann sich schon darum bemühen, das Ganze zu verstehen, also den Verstand einsetzen. Und das Dritte ist, dass man sich dann in der Meditation um die eigene Entwicklung bemüht. Und die kann man natürlich nicht von außen lernen. Da kann man nur Anstöße geben dazu. Aber die eigentliche Entwicklung, die muss jeder für sich selbst durchführen."

Und zwar indem er sich konsequent und kompromisslos dazu entschließt, die Achtsamkeit zu seinem ganz neuen, eigenen und zentralen Thema zu machen. So wie es vor rund 900 Jahren die Zen-Buddhisten in China und Japan erprobt hatten. Was damals im Einzelnen bedeutete:
Nur und ganz im Augenblick zu leben, ohne ihn zu beurteilen, den Geist zur Ruhe kommen zu lassen, zielgerichtet zu handeln, nichts erreichen zu wollen und unabhängig von allem zu sein. Die Sozialpsychologin Ellen Langer meint dazu:

"Um Unachtsamkeit zu vermeiden, müssen wir uns klarmachen, dass die Wahrheit jeder Information von ihrem Kontext abhängt. Wenn wir also etwas wahrnehmen, sollte uns bewusst sein, dass es sich nie um eine absolute Tatsache handelt. Um achtsam zu bleiben, müssen wir einen gesunden Respekt vor Unsicherheit kultivieren. Um einer Sache achtsam zu begegnen, sollten wir aktiv und bewusst nach Unterschieden suchen. Das tun wir nicht, sobald wir glauben, ein Ding, einen Ort, oder einen Menschen bereits in- und auswendig zu kennen. Die Erwartungen von etwas Neuem dagegen halten uns wachsam und achtsam."

Und wenn das Neue dann "anbricht", sind wir glücklich; sind wir sozusagen unseres eigenen Glückes Schmied … ganz so, wie es die kleine Parabel über das Glücklichsein zu erzählen weiß:

"Ein Mann wurde einmal gefragt, warum er trotz seiner vielen Beschäftigungen immer so glücklich sein könne. Er sagte:
'Wenn ich stehe, dann stehe ich,
wenn ich gehe, dann gehe ich,
wenn ich sitze, dann sitze ich,
wenn ich esse, dann esse ich,
wenn ich liebe, dann liebe ich …'
Da fielen ihm die Fragesteller ins Wort und sagten:
'Das tun wir auch, aber was machst du darüber hinaus?'
Er sagte wiederum:
'Wenn ich stehe, dann stehe ich,
wenn ich gehe, dann gehe ich,
wenn ich …'
Wieder sagten die Leute:
'Aber das tun wir doch auch!'
Er aber sagte zu ihnen:
'Nein –
Wenn ihr sitzt, dann steht ihr schon,
wenn ihr steht, dann lauft ihr schon,
wenn ihr lauft, dann seid ihr schon am Ziel.'"

Und wenn man sich derart achtsam benimmt wie dieser "Mustermann" hier, kann man dann ohne Weiteres Buddhist werden?

"Ja, wenn man überhaupt das Wort Buddhist nehmen will. Zu Buddhas Zeiten gab es das Wort ja gar nicht. Man kann es schon werden, wenn man sich verpflichtet, sich selber sozusagen, in einem eigenen Entschluss verpflichtet, diesen Weg zu gehen, den edlen achtfachen Pfad langsam und immer für sich doch zu gehen und sich selbst geistig und auch sonst weiter zu entwickeln."