"Wir möchten zurück zu G9"

Laurien Simon Wüst im Gespräch mit Hanns Ostermann |
Bildung ist für Laurien Simon Wüst, Landesschülersprecher von Hessen, die Entwicklung einer kritischen und mündigen Persönlichkeit. Dafür sei bei G8 keine Zeit. Für ihn ist das achtjährige Abitur gescheitert.
Hanns Ostermann: Ich bin mir nicht sicher, ob sich die hessischen Politiker heute über diesen Besuch wirklich freuen. Den bildungspolitischen Sprechern der Fraktionen wird eine Unterschriftenliste überreicht. "Zurück zu G9" ist die Petition überschrieben. Eltern hatten die Nase voll, Schülerinnen und Schüler schlossen sich an, mehr als 22.000 protestieren so gegen das Turbo-Abitur nach acht Jahren. – Laurien Simon Wüst ist Landesschulsprecher, er vertritt in Hessen rund 800.000 Schülerinnen und Schüler. Guten Morgen, Herr Wüst!

Laurien Simon Wüst: Guten Morgen, Herr Ostermann.

Ostermann: Immerhin will die Landesregierung den Gymnasien die Rückkehr zur neunjährigen Schulzeit erlauben. Also wo ist das Problem? Sind es die Übergangslösungen?

Wüst: In der Petition geht es in der Tat darum, dass wir fordern, dass auch die aktuellen Jahrgänge fünf und sechs bei den Schulen, die sich für den Rückgang zu G9 entscheiden, auch die Möglichkeit bekommen sollen, mehr Zeit zum Lernen zu erhalten. Das ist Kernforderung. Wir als Landesschülervertretung gehen in Teilen aber noch über die Petition, weil wir grundsätzlich möchten, dass die hessischen Schulen zurück zu G9 gehen. Wir glauben, dass G8 in der Form, wie es in Hessen durchgeführt wurde, scheiterte und wir sagen, wir brauchen endlich grundsätzlich wieder mehr Zeit für Persönlichkeitsentwicklungen und auch starke Schülerinnen und Schüler, die die Schule verlassen.

Ostermann: Bleiben wir mal dabei. Warum jetzt in der Übergangsphase, Gymnasien können wählen zwischen G8 und G9? Warum fordern Sie, dass diese Mittelstufe, dass auch die mehr Zeit haben?

Wüst: Uns geht es tatsächlich darum, dass wir die Mittelstufe stärken. In der Mittelstufe wissen wir, dass die Schülerinnen und Schüler aufgrund der Pubertät durchaus in anderen Hemisphären schweben, andere Gedanken haben, und da wollen wir, dass das eine Jahr wieder zurückgegeben wird. Wir kennen keine Begründung, warum die aktuellen Jahrgänge fünf und sechs nicht auch die Chance bekommen sollten zu entscheiden, ob sie zurückgehen. Gleichzeitig möchten wir auch denjenigen Schülerinnen und Schülern in diesen Jahrgangsstufen, die noch bei G8 bleiben möchten, auch diese Chance geben.

Das wäre ein sogenannter Bestandsschutz, damit jetzt nicht jemand, der vielleicht eine Schule auch deshalb auswählt, weil sie G8 mit anbot, dann im Nachteil ist, sondern wir möchten für beide Schülerinnen und Schüler, nämlich diejenigen, die G8, und diejenigen, die G9 möchten, da eine Option schaffen, und wir glauben, dass da die Jahrgänge fünf und sechs auch die Chance bekommen sollten. Aus dem Ministerium haben wir noch keine standhafte Argumentation gehört, wieso diese Chance nicht ermöglicht werden sollte.

Ostermann: Warum hat sich das Turbo-Abitur, das vor zehn Jahren in Hessen durchgeboxt wurde, als Flop herausgestellt? Warum wird es Schülern nicht gerecht? Vielleicht können Sie das an eigenen Beispielen erläutern.

Wüst: Na ja, grundsätzlich kann man ja feststellen, dass mit dieser Verkürzung verbunden ist, dass versucht wird, unsere Schülerinnen und Schüler möglichst stromlinienförmig durch die Schule zu pressen. Mit anderen Worten: Es geht weniger darum, dass mal die Schülerinnen und Schüler zum Querdenken, zum demokratischen Ungehorsam, könnte man fast sagen, zum Aufbegehren angeregt werden, sondern vielmehr in so einem Reproduktionssystem sind. Und ich glaube, diese Enge spüren viele Schülerinnen und Schüler und es leiden auch viele Schülerinnen und Schüler unter dem Leistungsdruck, unter dem Stress.

Ich habe mit vielen Schülern gesprochen, auch meine eigene Schwester ist G8, die dann mit einer 40-Stunden-Woche in der Schule ist und zudem noch Hausaufgaben machen muss, sich auf die schulischen Klassenarbeiten vorbereiten muss, und da noch nicht mal eingenommen sind ja auch weitere Aktivitäten. Wir möchten ja auch, dass Schüler neben dem Unterricht sich engagieren, sozial einbringen, Verantwortung im kulturellen und musischen Bereich übernehmen. Und wenn wir diesen Anspruch haben, dass Schüler in jungen Jahren Gesellschaft mitgestalten und verändern, dann brauchen wir aber auch die Zeit, die wir zusprechen müssen.

Ostermann: Vielleicht möchte der eine oder andere ja auch Sport treiben in seiner Freizeit, oder Musik machen. – Aber Vertreter des kürzeren Abis argumentieren ja, Bildungsinhalte würden verschlankt, und wer ist schon gern dick. Was würden Sie diesen Leuten sagen?

Wüst: Ich würde zum einen sagen, diese Parole – das ist so die politische Rhetorik aus dem Ministerium -, die hören wir schon seit acht Jahren und seit acht Jahren hat sich in der Tat nichts geändert. Das ist das erste. Und das zweite ist: Es geht nicht nur darum, dass wir bei den Lehrplänen ansetzen, sondern wir müssen grundsätzlich feststellen, dass Bildung für uns als Landesschülervertretung in erster Linie die Entwicklung einer kritischen und mündigen Persönlichkeit ist. Und da geht es nicht darum, dass man einfach per se kürzt, sondern dass man da auch an entscheiden Stellen Zeit zur Verfügung stellt.

Ich habe gerade mit meiner Deutschlehrerin gesprochen, die mir erzählte, dass viele Schülerinnen und Schüler bei G8 gar nicht die Reife und vielleicht den Bezug zu Lebensthemen mitnehmen, die in großen Werken wie Faust oder Ähnliches thematisiert werden. Also anders gesagt: Vielen fehlt auch einfach vielleicht der Lebensbezug zu Themen, die jetzt im Bildungsbereich einfach kürzer kommen, weil sie einfach noch nicht in dieser Lebenswelt sind, bei der sie sagen, ja das berührt mich jetzt.

Ostermann: Haben Sie die Hoffnung, dass die Aktion heute etwas bewegt?

Wüst: Ich habe zunächst die Hoffnung, dass sie wahrgenommen wird. Insoweit sind auch solche Gespräche, wie wir sie gerade führen, wichtig, nämlich dass die Gesellschaft weiter diskutiert, den Druck ausübt auf diejenigen, die im politischen Apparat aktiv sind. Und ich hoffe dennoch, dass, obwohl die Ministerin Nicola Beer momentan stur bleibt, sie vielleicht endlich begreift, dass es nicht funktioniert, Politik ohne die Menschen zu machen.

Sie muss die Menschen mitnehmen. Alle Umfragen momentan in Hessen zeigen, dass mehr als 88 Prozent der Eltern, glaube ich, ist die Zahl, zurück zu G9 möchten. Die 22.000 Bürgerstimmen, bei denen viele Tausende von Schülerinnen und Schülern dabei sind, zeigen auch: Wir möchten zurück zu G9. Und es kann nicht sein, dass durchgehend über unsere Köpfe hinweg Politik gemacht wird. Sie muss die Menschen mitnehmen, sonst wird keine Bildungspolitik im Land gelingen.

Ostermann: Laurien Simon Wüst, Landesschulsprecher in Hessen. Ich bin einigermaßen sicher, Sie wären ein ziemlich guter Politiker. Danke Ihnen für das Gespräch.

Wüst: Danke schön!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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