"Wir müssen das Unrechtsbewusstsein wecken"

Seyran Ates im Gespräch mit Joachim Scholl |
Die Anwältin Seyran Ates hält die derzeitige Gesetzeslage in Deutschland, die Zwangsverheiratungen als schweren Fall von Nötigung einstuft, für unzureichend. Härtere Strafen seien notwendig, um Signale zu setzen, sagt Ates.
Joachim Scholl: Andreas Becker, der Gründer des Berliner Vereins Hatun & Can, der Frauen und Mädchen hilft, die von einer Zwangsehe bedroht sind (Becker schätzt die Zahl der Zwangsverheiratungen jährlich in Deutschland auf mindestens 10.000, Anm.d.Redaktion). Hier im Studio begrüße ich nun die Anwältin Seyran Ates, die sich in ihrer Arbeit und publizistisch immer wieder für das Thema engagiert hat. Guten Tag, Frau Ates.

Seyran Ates: Guten Tag.

Scholl: Angesichts dieser erschreckenden Zahlen, die wir gerade gehört haben, Frau Ates, hat sich an der Situation für junge Frauen, denen dieses Schicksal droht, überhaupt nichts verbessert?

Ates: Es hat sich in Bezug auf die Hilfe etwas verbessert, dass es den Verein Hatun & Can e.V. gibt zum Beispiel, dass es in der Öffentlichkeit viel mehr diskutiert wird. Ich bekomme auch mehr Anfragen, das kann ich anhand meiner Unterlagen ebenso belegen, wie Herr Becker das kann. Es ist so, dass die Diskussion in der Öffentlichkeit vielen Frauen und jungen Mädchen Mut macht.

Scholl: Das heißt, mehr Frauen wagen sich jetzt auch . . .

Ates: Mehr Frauen wagen sich, und wir erfahren dadurch, was da unter dieser Eisspitze da stattfindet. Aber dass die Tradition fortgeführt, dass es nach wie vor Familien gibt, die sehr fest daran festhalten, da hat sich noch nicht so viel verändert.

Scholl: Das heißt, die Diskussion hat Ihrer Einschätzung nach an der Praxis der Zwangsverheiratung also insofern gar nichts geändert, dass es weniger geworden ist oder dass eine offenere Diskussion auch in den Familien selbst stattgefunden hätte?

Ates: Die offene Diskussion, die da stattfindet, ist minimal, die gibt es da ganz sicher, das will ich nicht leugnen, aber es hat sich noch nicht so niedergeschlagen, dass an der Tradition insgesamt so stark gerüttelt wird, dass es rapide abnimmt. Das sehe ich nicht. Das liegt meiner Ansicht nach tatsächlich daran, dass nach wie vor in der Öffentlichkeit die Zwangsverheiratung von vielen Seiten - auch gerade von den Verbänden, das möchte ich hier ausdrücklich sagen - verharmlost wird: Ja, es gibt es, aber es ist nicht so viel. Und auch aufseiten der Politik nach wie vor das nicht so ernst genommen wird, wie ich das meine, was getan werden müsste.

Scholl: Zwangsehen verstoßen bei uns auch gegen das Gesetz.

Ates: Selbstverständlich.

Scholl: Sie gelten jedoch bislang nur als Vergehen …

Ates: Besonders schwerer Fall der Nötigung.

Scholl: … und nicht als Verbrechen. Das ist ein entscheidender Unterschied. Wie wird dieses Vergehen bislang bei uns bestraft?

Ates: Wir haben bei der Zwangsverheiratung die Strafrechtssituation, dass es ein besonders schwerer Fall der Nötigung ist, das heißt, es gibt eine Haftstrafe eventuell bis zu maximal fünf Jahren. Das kann aber durchaus auch sein, dass das eine Geldstrafe wird, es kann durchaus sein, dass es eine geringe Haftstrafe wird, die auf Bewährung ausgesetzt wird. Wäre es ein Verbrechen, wäre die Mindeststrafe ein Jahr Gefängnis, und in der Regel müsste es dann eigentlich über zwei Jahre gehen, und dann gäbe es auch keine Bewährung. Also die Strafen könnten härter sein.

Scholl: Wer würde denn dieses Jahr dann bekommen, also wenn jetzt eine junge Frau zum Beispiel im Urlaub in die Türkei verschleppt wird, wie so was vorkommt, um dort zwangsverheiratet zu werden, wer würde dann angeklagt? Die Eltern?

Ates: Wir haben die sehr komplizierte Sachlage, dass die Zwangsverheiratung nicht unbedingt von einem Täter praktiziert wird. Wir haben eine große Gemengelage an Familienmitgliedern, die daran beteiligt sind. Und wir haben die Situation, dass durchaus einiges im Ausland geschieht. Wir könnten aber, wenn wir einen eigenen Straftatbestand Zwangsverheiratung hätten, der zu einem Verbrechenstatbestand auch erklärt wird mit dem Mindeststrafmaß, gleichzeitig auch die Regelung treffen, dass das, was im Ausland geschieht, hier auch geahndet werden kann. Also juristisch ist das alles möglich. Es liegen Gesetzesvorlagen vor, die das nämlich vorsehen, es wäre zu praktizieren.

Scholl: Es steht wortwörtlich im Koalitionsvertrag eigentlich: "Zwangsverheiratungen werden als Straftatbestand in das Strafgesetzbuch aufgenommen", 2005. Auch unter dem Eindruck, denke ich mal, auch dieses Mordes an Hatun Sürücü natürlich . . .

Ates: Und unserer Arbeit natürlich, ja.

Scholl: Und Sie, Seyran Ates, haben öffentlich gemacht, dass dieser Schritt bislang nicht unternommen wurde. Also, vier Jahre sozusagen liegt dieser Gesetzesantrag auf Eis. Woran liegt das?

Ates: Daran sehen Sie, dass die öffentliche Debatte im Grunde genommen noch nicht richtig angekommen ist in den Köpfen. Das liegt daran, dass die Politik auch nach wie vor der Ansicht ist, es sind nicht so viele Zwangsverheiratungen, und außerdem wollen wir die Menschen, die das praktizieren, nicht verärgern, die Verbände nicht verärgern, und es ist ja so, dass zurzeit genug Prävention betrieben wird - und das müssten wir eigentlich noch mehr machen - und die Gesetzeslage so ist, dass rechtlich nichts Neues dazu benötigt wird. Also wir sind im Grunde am Anfang der Diskussion, obwohl der Koalitionsvertrag schon was anderes vorsieht.

Scholl: Nun sagen ja Befürworter sozusagen, dass es nicht in das Strafgesetzbuch kommt, dass härtere Strafen oder schärfere Gesetze gegen solchen Traditionalismus eigentlich nichts bewirken. Ich meine, im Fall des Mordes von Hatun Sürücü haben wir erlebt, wie der Täter keinerlei Unrechtbewusstsein hat, als er zu einer hohen Haftstrafe verurteilt wurde und die Familie ihn sogar als Märtyrer feiert, im Gefängnis wird er als Märtyrer gefeiert. Was richten da schärfere Gesetze aus?

Ates: Diese Argumentation finde ich gerade von Frauen oder im Hinblick auf die Frauenbewegung und Feminismus sehr schräg. Wären wir bei dieser Haltung geblieben, hätten wir keine Gewaltschutzgesetz. Wären wir bei dieser Haltung geblieben, hätten wir keine Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe. All diese Straftatbestände sind tatsächlich durchgekämpft worden, weil man gesagt hat, mit einer härteren Bestrafung, mit der Aufnahme ins Strafgesetzbuch verändern wir in der Gesellschaft etwas.

Wir müssen das Unrechtsbewusstsein wecken, Signale setzen, und das schaffen wir durch Gesetze. Was nicht heißt, dass wir sie eins zu eins immer umsetzen können und sofort und ganz schnell, sondern es ist ein langer Prozess. Heute macht keiner mehr eine Diskussion daraus, dass die Vergewaltigung in der Ehe eine Vergewaltigung ist.

Scholl: Das heißt also, dieses Gesetz wäre eine Botschaft?

Ates: Natürlich, es ist eine wichtige politische Botschaft, und zwar aus dieser Gesellschaft heraus, die so vieles schon geschafft hat in den letzten hundert Jahren.

Scholl: Wir haben vorhin vom Berliner Verein Hatun & Can gehört, der Verein hilft Frauen, die von der Zwangsehe bedroht sind. Es gibt noch weitere Einrichtungen, etwa Terre des Femmes, die bedrohten Frauen helfen. Inwieweit, Seyran Ates, hilft eigentlich unser Staat solchen Mädchen und Frauen, die jetzt vielleicht mal beim Bundesfamilieministerium anrufen und sagen, ich werde hier bedroht und mir droht die Zwangsheirat?

Ates: Der Staat könnte mit dem eigenen Straftatbestand helfen, aber er könnte auch anders helfen, nämlich in der Präventionsarbeit, und das tut er leider sehr leidlich. Die Frauenprojekte leiden von Jahr zu Jahr darunter, dass sie immer noch von Jahr zu Jahr gefördert werden. Es fließt nicht genug und ausreichend Geld und andere Mittel in diese Arbeit hinein. Hatun & Can e.V. hat sich ja aus diesem Grunde gebildet, weil sie gesagt haben, wir wollen ganz schnell ganz unkomplizierte Hilfe leisten.

Das bedeutet auch, dass wir Geld zur Verfügung stellen, ohne jetzt einen langen bürokratischen Weg zu gehen. Bis solch eine Frau finanzielle Mittel bekommt, um eine Stadt zu verlassen, einen langen Weg zurückzulegen, braucht sie Geld. Sie braucht Unterstützung, sie braucht einen Ort, wo sie wirklich sehr sicher ist, wo viele Menschen um sie herum sind, die sie schützen. All das kann zurzeit dieser Staat nicht leisten, will das nicht leisten vielleicht oder mag es nicht leisten, weil er nicht sich tatsächlich engagieren möchte in diesem Bereich. Würde ich jetzt vorwerfen.

Scholl: Vor vier Jahren hat der Mord an Hatun Sürücü die Diskussion verschärft. Über Zwangsehen, ein Eintrag ins Strafgesetzbuch fehlt immer noch. Das war die Anwältin Seyran Ates. Ich danke Ihnen für Ihren Besuch.

Ates: Danke auch.