"Wir müssen Frieden machen mit unseren Nachbarn"

Uri Avnery im Gespräch mit Alexandra Mangel |
"Es wäre klug für eine israelische Regierung, wenn sie heute klarmacht, dass sie für die Demokratie in Ägypten ist und auch für die Integration der muslimischen Elemente in diese Demokratie", sagt der irsraelische Autor Uri Avnery. Der Krieg gegen den Islam, der von Seiten Israels propagiert werde, sei "eine dumme und schädliche Idee", die Muslimbruderschaft "eine ziemlich gemäßigte Partei".
Alexandra Mangel: In den Straßen von Kairo, auf dem Tahrir-Platz, kämpfen Gegner und Anhänger von Präsident Hosni Mubarak in diesen Tagen um die Zukunft Ägyptens. Den friedlichen, den weichen Übergang, den Mubarak angekündigt hatte, als er diese Woche erklärte, noch bis September im Amt bleiben zu wollen, den gibt es nicht. Wie ein Pharao hat Mubarak seit 1981 über das Land geherrscht, für den Westen, für die Amerikaner und für Israel ist er bislang ein Garant der Stabilität gewesen, ein Garant des Friedensvertrags, den Mubaraks Vorgänger, Präsident Anwar al-Sadat, 1979 mit Israel geschlossen hat. Doch was kommt nach einem Sturz Mubaraks? Wie wird sich Ägypten dann zu Israel stellen? Das fragen sich die Israelis in diesen Tagen natürlich, wenn sie nach Kairo blicken, und ich bin jetzt in Tel Aviv verbunden mit Uri Avnery. Er hat die israelische Friedensbewegung Gusch Schalom gegründet, und er hat nach dem Friedensschluss von 1979 auch ziemlich schnell Ägypten besucht. Guten Morgen, Herr Avnery!

Uri Avnery: Guten Tag!

Mangel: Herr Avnery, mit welchen Gefühlen verfolgen Sie den Aufstand des ägyptischen Volkes gegen Mubarak?

Avnery: Ich glaube, jeder Mensch wird begeistert sein, wenn die Massen eines Volkes sich erheben gegen eine tyrannische Diktatur. Und so (…) (Anm. d. Red.: Auslassung, da schwer verständlich) ich auch, ich liebe das ägyptische Volk, ich habe es furchtbar gerne, es ist ein äußerst sympathisches Volk, und ich freue mich, dass sie endlich die Kraft gefunden haben, sich gegen diese Diktatur zu erheben.

Mangel: Aber teilen denn viele Israelis Ihre Begeisterung? Schließlich hat Mubarak bislang den Frieden mit Israel garantiert. Ist die Angst nicht doch groß vor einer Destabilisierung?

Avnery: Ja natürlich, obwohl auf der Straße in Israel viele Leute von dem Aufstand selbst ziemlich begeistert sind. Aber sie haben Angst. Wir erleben jetzt ein Erdbeben, das die politische Geologie des Nahen Ostens total verändern wird. Die Welt von morgen wird der Welt von gestern nicht mehr ähnlich sein. Was in Ägypten anfängt, wird auf die ganze arabische Welt sich ausbreiten.

Mangel: Und fürchten die Israelis ...

Avnery: Und was dabei herauskommt, kann keiner wissen. In Israel hat man natürlich immer Angst, genau wie die Amerikaner, dass die einzige Option eine fundamentalistische Extreme, ein extremes islamisches Regime kommen wird. Das finde ich absolut nicht für unabwendbar, sondern ganz im Gegenteil: In Ägypten, die islamischen Elemente in Ägypten, die sogenannte muslimische Bruderschaft, sind eine ziemlich gemäßigte Partei, und ich glaube, es wäre gut für die Zukunft des Nahen Ostens und auch unsere Zukunft, wenn die gemäßigte islamische Bevölkerungsschicht, die es in allen arabischen Ländern gibt, in den politischen Prozess integriert wird. Dieser Krieg gegen den Islam, der in Europa und Amerika und besonders in Israel propagandiert wird, ich finde das eine dumme und schädliche Idee, denn der Islam ist da, der große Teil des Islams, eine gemäßigte Religion, und wir können sie nicht ignorieren, sie gehört dazu. Und wir müssen mit ihr ins Gespräch kommen. Ich glaube, es wäre klug für eine israelische Regierung, wenn sie heute klarmacht, dass sie für die Demokratie in Ägypten ist und auch für die Integration der muslimischen Elemente in diese Demokratie.

Mangel: Trotzdem sagen Nahost-Experten, dass es in der ägyptischen Bevölkerung eine breite ablehnende Haltung gegenüber Israel gebe. Herrscht da nicht doch die Angst vor einem Aufflammen dieses Hasses auch vor?

Avnery: Ja, die Frage ist, wo kommt denn diese Haltung her? Ich war einer der ersten Israelis, die in Ägypten waren nach dem historischen Besuch von Sadat in Jerusalem. Es war eine allgemeine Begeisterung für den Frieden in Kairo zu der Zeit. Das hat sich sehr schnell verändert, weil die Ägypter, besonders Sadat haben gedacht, dieser Frieden schließt ein einen Frieden zwischen Israel und Palästina und die Entstehung eines freien palästinensischen Staates. Sadat war überzeugt davon, dass der Frieden dazu führt. Auf unserer Seite, unser damaliger Ministerpräsident, Menachem Begin, dachte gar nicht daran, sondern im Gegenteil: Er wollte diesen Frieden mit Ägypten als eine Art Separatfrieden, um den Krieg gegen die Palästinenser zu intensivieren.

Mangel: Aber kommen wir auf heute noch mal, das hat sich ja nun heute geändert.

Avnery: Seitdem sind die Ägypter zu der Überzeugung gekommen, dass dieser Frieden zwischen Ägypten und Israel ein Verrat an dem palästinensischen Volk war. Alle wollen den Frieden aufrechterhalten. Ich glaube, es gibt kein Element in Ägypten, das den Frieden abschaffen will, den Frieden als eine Art Waffenstillstand mit Israel. Die Ägypter wollen keinen Krieg, haben nie einen Krieg gewollt, aber die Ägypter werden die Palästinenser nicht im Stich lassen. Und darum handelt es sich. Ich glaube, die Schlussfolgerung aus dem, was jetzt passiert, ist, so schnell wie möglich zu einem Frieden mit Palästina zu kommen. Das ist die Aufgabe der israelischen Regierung, wie ich es jetzt sehe, denn morgen können wir vor einer Wirklichkeit stehen, die das noch viel schlimmer macht.

Mangel: Wir sprechen im "Radiofeuilleton" mit dem israelischen Schriftsteller und Friedensaktivisten Uri Avnery über die Haltung Israels zum Aufstand des ägyptischen Volkes gegen Mubarak. Herr Avnery, eine "Villa im Dschungel" hat Ehud Barak Israel einmal genannt, also eine Insel der Zivilisation im despotischen Nahen Osten. Wenn man nun beobachtet, wie die israelische Regierung vor einer Machtübernahme der Extremisten, der Muslimbrüder warnt, vor einer Entwicklung wie im Iran, dann hat man den Eindruck, dass Israel, die israelische Regierung genau diese Villa auch bleiben will, alsodass der gezähmte Dschungel der israelischen Regierung erheblich lieber ist als die freie Wahl des ägyptischen Volkes. Wie erklären Sie das?

Avnery: Das ist eine historische Entwicklung. Wir haben einen Konflikt mit der arabischen Welt, der schon 120 Jahre lang andauert und viele Vorurteile und Mythen und Misstrauen erzeugt hat. Diese Idee, dass wir irgendwie eine Insel im Dschungel sind, ich finde es unglaublich schädlich für unsere Zukunft. Wir leben in diesem Teil der Welt, wir gehören dazu, wir müssen Frieden machen mit unseren Nachbarn und in Frieden mit ihnen leben. Und mit so einer Einstellung kommt man doch nicht zum Frieden, sondern ganz im Gegenteil, man kommt zu einer Einstellung, dass wir irgendein Vorposten Europas sind, dass wir total abhängig sind von Amerika, von den Vereinigten Staaten, dass unser Schicksal als Staat und als Volk von Amerika abhängt. Wo führt das hin? Die Welt verändert sich, auch Amerika ist nicht mehr Amerika – ich weiß nicht, ob Europa noch Europa ist –, und unsere Zukunft liegt in diesem Teil der Welt. Und wir müssen nicht nur nicht eine Insel sein, sondern die arabische Welt verstehen, mit der arabischen Welt in Einklang kommen, mit der arabischen Welt zu einem Frieden kommen und darum die Erhebung der arabischen Massen überall gegen die Diktatoren, die wurzellosen Diktatoren, die von ihren eigenen Völkern verachtet wird. Wir haben keine Zukunft mit diesen Diktatoren. Die Diktatoren haben keine Zukunft.

Mangel: Aber trauen Sie der Regierung Netanjahu denn überhaupt zu, offen und produktiv mit der Demokratiebewegung in Ägypten jetzt umzugehen?

Avnery: Nein, das wird, glaube ich, nichts geben. Mit dieser Einstellung von Herrn Netanjahu und Ehud Barak und ihren Kollegen können wir zu keiner wirklich produktiven Politik kommen. Ich hoffe, dass das israelische Volk, die israelische Öffentlichkeit das so schnell wie möglich einsehen wird, denn die Zeit läuft und die Zeit läuft von uns weg.

Mangel: Und wenn man jetzt nach Kairo schaut, die blutigen Straßenschlachten des letzten Tages, was passiert, wenn Ägypten jetzt im Chaos versinkt?

Avnery: Die ägyptische Armee ist da und hat noch nicht eingeschritten, aber sie wird einschreiten, wenn es so weit kommt. Das sind im Grunde die Todeszuckungen des Regimes. Das Regime ist fertig. Ein Regime, das Massen von Geheimpolizisten auf die Straße schickt, um friedliche Demonstranten zu terrorisieren, so ein Regime hat doch keine Zukunft. Die Frage ist: Was wird jetzt in Ägypten in der nahen Zukunft passieren? Mubarak ist fertig, das ist klar, die Frage ist: Kommen wir zu einer Militärdiktatur, sagen wir mal zu einer volksfreundlichen Militärdiktatur, die sich aber dann etablieren wird, oder kommen wir zu einer wirklichen Demokratisierung oder zu einer Zwischenlösung zwischen diesen beiden Möglichkeiten? Ich habe eine große Hoffnung auf die Ägypter. Die Ägypter sind im Grunde ein sehr integentes Volk, sie schauen auf 8000 Jahre politischer Geschichte zurück. Ich hoffe, sie werden eine Lösung finden, die diesem Chaos ein Ende setzt und eine wirkliche Bewegung zu Demokratie in Gang bringt.

Mangel: Der israelische Autor und Friedensaktivist Uri Avnery live aus Tel Aviv über die großen Hoffnungen, die die israelische Friedensbewegung gegenwärtig mit dem Aufstand des ägyptischen Volkes verbindet, und über die Chancen, die dieser für den Frieden im Nahen Osten eröffnen könnte. Danke schön für das Gespräch, Herr Avnery!

Avnery: Danke Ihnen, Schalom!
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