"Wir müssen mit anpacken"
Normalität in den deutsch-jüdischen Beziehungen in Deutschland könne es nicht geben, der Kontext des Holocaust sei einfach immer da, sagt Sergey Lagodinsky, Mitglied der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Andererseits bauten viele jüdische Menschen in Deutschland ihre Zukunft auf. Und das sei ein Zeichen des Vertrauens.
Deutschlandradio Kultur: Sergey Lagodinsky ist Mitglied der Repräsentantenversammlung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Guten Tag, Herr Lagodinsky.
Sergey Lagodinsky: Schönen guten Tag.
Deutschlandradio Kultur: Herr Lagodinsky, Sie haben Ihre ganze Kindheit und Jugend in der Sowjetunion verbracht, ehe Sie als 18-Jähriger mit Ihren Eltern nach Deutschland ausgewandert sind. Haben Sie Antisemitismus in der UdSSR erlebt?
Sergey Lagodinsky: Natürlich, in verschiedenen Formen. Man muss dazu sagen, ich komme aus Astrachan. Das ist im südlichen Russland. Da war der Antisemitismus im Alltag nicht immer zu spüren. Es war viel schlimmer in der Ukraine zum Beispiel. Dennoch war das immer klar, dass man zum Beispiel den Schulabschluss, Gymnasialabschluss, wie es hier heißen würde, immer als einer der Besten machen musste, damit man zum Beispiel auf eine gute Uni kommen konnte.
Genauso, als mein Vater zum Beispiel nach Moskau eingeladen wurde, was ja eine große Ehre war, um da zu arbeiten, wurde ihm empfohlen, seine Nationalität - wie es damals hieß, also seine jüdische Zugehörigkeit - nicht zu erwähnen. Da hat er sich geweigert, das zu tun. Und er wurde dann auch nie eingeladen und hat nie diese Genehmigung bekommen, nach Moskau zu ziehen.
Deutschlandradio Kultur: War dieser Antisemitismus der Grund für die Ausreise nach Deutschland oder waren das auch wirtschaftliche Gründe?
Sergey Lagodinsky: Es ist immer eine schwierige Frage: Was bewegt eine Familie auszuwandern und woanders hinzuziehen? Es war eine komische Atmosphäre, die damals herrschte, natürlich auch wirtschaftlicher Zerfall in der damaligen Sowjetunion - beziehungsweise damals war es schon die Russische Föderation -, aber auch die politische Instabilität, die auch mit Antisemitismus, mit dem Anstieg des Antisemitismus zusammenhing.
Wir haben ja oder ich habe in meiner Kindheit eher Antisemitismus von den staatlichen Institutionen erlebt. Mit dem Zerfall des Regimes ist der einfache Antisemitismus, der Antisemitismus unter Menschen ausgebrochen. Es gab viele Parteien, die mit antisemitischen Versprechen rumhantiert haben, mit Stereotypen, die antijüdische Stimmungsmache gemacht haben. Also insofern war das besonders für die jüdischen Menschen nicht besonders gemütlich, in der Sowjetunion und in Russland zu diesem Zeitpunkt.
Deutschlandradio Kultur: Das Leben in der Sowjetunion war ja regelrecht antireligiös. Sie selbst bezeichnen sich heute als säkular und nicht besonders gläubig. Wie sind Sie in Deutschland in der Jüdischen Gemeinde willkommen geheißen worden?
Sergey Lagodinsky: Das ist eine schwere Frage und das war auch ein schwerer Weg für die jüdischen Zuwanderer in der Jüdischen Gemeinde hier in Deutschland, weil in der Tat, sowohl in der nichtjüdischen Öffentlichkeit als auch in den Gemeinden hier die jüdische Zughörigkeit primär als Religionszugehörigkeit formuliert, definiert worden ist. Für uns ist das primär eine kulturelle, ethnische Zugehörigkeit. Und es hat ein bisschen Zeit gebraucht, bis unsere jüdischen Glaubensgenossinnen und -genossen hier das verstanden haben: dass man auch als säkularer Mensch in Russland trotzdem Jude war und sich auch als Jude gefühlt hat, und zwar als stolzer Jude, stolze Jüdin.
Da erzähle ich immer die Geschichte von meinem Vater. Er hatte überhaupt keine Ahnung von Religion, aber als er mit 16 Jahren einen Pass bekommen hat, in dem stand, dass seine nationale Zugehörigkeit russisch war, ist er umgedreht und hat dann seinen Pass zurückgegeben und hat verlangt, dass da "Jude" steht, weil er eben trotz Verfolgung stolz darauf war, diesem säkularen Judentum anzugehören.
Es ist insofern nicht nur eine negative Identität, wie es so häufig formuliert wird, nicht eine Identität, die durch die Verfolgung, durch die Ausgrenzung in der Sowjetunion sich herausgebildet hat, sondern eben auch eine positive, auch wenn es keine religiöse war.
Deutschlandradio Kultur: Wir kommen später noch darauf zu sprechen, was alles eine Rolle spielt, um sich als jüdisch zu empfinden. Blicken wir noch mal auf die Zeit, als Sie nach Deutschland gekommen sind. Sie haben ziemlich schnell, verblüffend schnell Deutsch gelernt, zuerst in Göttingen, dann haben Sie in Harvard studiert, Jura. Sie sind perfekt dreisprachig. Sind Sie der Immigrant, den sich jeder wünscht?
Sergey Lagodinsky: Ich bin vielleicht ein Mensch, den ich mir wünsche. Es wäre schade, wenn wir in unserer Gesellschaft danach suchen oder Leute danach beurteilen, wie erwünscht oder nicht erwünscht sie sind. Ich glaube, ich habe viel Glück gehabt. Ich glaube, ich bin auch in eine Familie hineingeboren worden, wo Bildung einen großen Wert genossen hat. Das ist nicht immer der Fall. Nicht alle haben so ein Glück.
Insofern: Wenn ich jetzt die ganzen Integrationsdebatten verfolge, dann verweise ich einerseits darauf, dass es sehr viele, zum Beispiel jüdische Zuwanderer aus Russland gibt, die sehr erfolgreich sind. Viele meiner Altersgenossinnen und -genossen haben Abitur gemacht, sie studieren Jura, Medizin, fangen jetzt an zu arbeiten. Andererseits verstehe ich, dass wir das alles aus einer bestimmten sozialen Situation heraus haben erreichen können. Und deswegen ist es aus meiner Sicht schon die Verantwortung der hiesigen Gesellschaft, für andere, die dieses Glück, diese Ausgangslage nicht hatten, die Voraussetzungen, die Bedingungen zu schaffen, damit es auch bei denen so geht.
Deutschlandradio Kultur: Sie sprechen dieses Ankommen jetzt hier schon an. Und das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden in Deutschland ist ja nach wie vor sehr komplex. Das haben wir gerade in diesem Sommer immer wieder erlebt. In Berlin sind mehrfach Juden angegriffen worden. Ein Rabbiner ist vor den Augen seiner sechsjährigen Tochter zusammengeschlagen worden. Und dann wird eben seit Monaten über die Beschneidung debattiert, ausgelöst durch ein Kölner Gericht, das diese Beschneidung als Körperverletzung gewertet hat.
Diese Beschneidungsdebatte ist ja auch sehr heftig und wird emotional geführt. Ist das eigentlich ein Zeichen von Antisemitismus oder könnte man das auch anders werten und sagen, eher ein Zeichen von Normalität, weil man eben die Samthandschuhe nicht mehr nutzt?
Sergey Lagodinsky: Die Frage der Normalität in deutsch-jüdischen Beziehungen hier in Deutschland, finde ich, ist eine Frage, die sinnlos ist. Diese Normalität wird es aus meiner Sicht nicht geben. Und das wird nicht kommen mit einem Generationenwechsel, weder von der einen noch von der anderen Seite. Dafür ist diese Leere, die durch die Vernichtung der jüdischen Gemeinde hier entstanden ist, zu groß. Wir sind damit vor allem hier in Berlin, aber auch in vielen anderen Städten tagtäglich konfrontiert. Da kann man nicht normal miteinander umgehen. Das ist der Kontext, das war er und er bleibt auch, in dem viele Diskussionen - auch die Beschneidungsdiskussion - stattfinden.
Insofern würde ich hier nicht dafür plädieren, dass es ein Zeichen der Normalität ist. Ich würde aber andererseits auch nicht sagen, dass alle, die für das Verbot der Beschneidung plädieren, - was ich nicht unterstütze, und das sage ich ausdrücklich in vielen verschiedenen Situationen -, dass diese Menschen primär antisemitisch motiviert sind. Sondern da kommen wiederum sehr viele unterschiedliche Faktoren, ja auch Antisemitismus bei sehr vielen, vor allem, wenn es um die Form dieses Aufstandes geht, wo viele Leute jetzt glauben, dass sie jüdische Kinder vor Juden schützen müssen, aber eben auch Bedenken. Unser Grundgesetz ist kompliziert und ist komplex. Und diese Abwägung zwischen verschiedenen Grundrechten ist nicht einfach zu machen. Insofern sehe ich hier beide Seiten und beide Aspekte.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben gesagt, Normalität ist nicht möglich. Wäre Normalität im Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden wünschenswert oder wäre dann eigentlich auch etwas verloren gegangen?
Sergey Lagodinsky: Was ist schon wünschenswert? Also, das ist so wie die Frage, was wäre, wenn. Das ist hypothetisch. Wir haben die Realität. Und diese Realität wird aus meiner Sicht nicht in eine Normalität münden, noch lange nicht. Natürlich gibt es verschiedene Entspannungszeichen, auch die Tatsache, dass viele jüdische Menschen jetzt in Deutschland ihre Zukunft aufbauen. Und das ist ja ein Zeichen des Vertrauens, was viele primär sowjetische Juden dadurch gezeigt haben, dass sie nicht zufällig in Deutschland geblieben sind, sondern direkt nach Deutschland ausgewandert sind, genauso wie viele Israelis, die jetzt nach Deutschland, nach Berlin vor allem kommen.
Das ist natürlich ein Zeichen, dass wir viel weiter sind als noch vor 20, 30 Jahren. Aber ich glaube, ganz werden wir die Geschichte, die gewissermaßen zwischen uns steht, nicht weghaben können.
Deutschlandradio Kultur: Neben diesem Beschneidungsurteil haben ja auch in den vergangenen Monaten einige antisemitische Überfälle für große Verunsicherung in der jüdischen Gemeinde gesorgt. Hat Ihnen da die Solidarität der restlichen Gesellschaft gefehlt?
Sergey Lagodinsky: Es war schon merkwürdig, als wir zum Beispiel bei einem Kippa-Flashmob den Kurfürstendamm entlanggegangen sind …
Deutschlandradio Kultur: … was haben Sie da gemacht?
Sergey Lagodinsky: Das war eine Initiative, die nicht von mir war, sondern von einigen Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde, aber wo ich gerne mitgemacht habe. Sie haben aufgerufen über Facebook, an einem Samstag, wenn ich mich richtig erinnere, Kippot aufzusetzen und sichtbar jüdisch auf dem Kudamm flanieren zu gehen in einer größeren Gruppe. Und da habe ich mich umgeschaut. Es waren aus meiner Sicht zu wenig nichtjüdische Menschen, die sich daran beteiligt haben.
Andererseits, ein paar Tage danach in Friedenau bei der Kundgebung zur Solidarität mit Rabbiner Alter waren sehr viele, auch nichtjüdische Menschen.
Deutschlandradio Kultur: Das war der Berliner Bezirk, in dem der Rabbiner verprügelt worden ist vor seiner Tochter.
Sergey Lagodinsky: Genau, absolut richtig. Also, ich glaube nicht, dass es da an Solidarität gefehlt hat. Aber ich glaube auch nicht, dass es darauf ankommt, bei diesen Ereignissen Solidarität zu zeigen, sondern es geht darum, Solidarität zu zeigen, wenn diese Vorfälle stattfinden oder wenn zum Beispiel in der Beschneidungsdebatte das eine oder andere Argument benutzt wird, was klar antisemitisch ist. Und dann aufzustehen und zu sagen, so wollen wir diese Debatte nicht führen, darauf kommt es an. Und da kommt es natürlich auf die Unterstützung von nichtjüdischen Menschen, nichtjüdischen Stimmen an.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben uns jetzt von dieser Kippa-Aktion erzählt. In Berlin ist es inzwischen soweit, dass eine jüdische Schule davon abrät, sich öffentlich als Jude zu erkennen zu geben. Also, die rät dazu, auf der Kippa eben noch ein Baseballcap beispielsweise zu tragen, damit das nicht zu sehen ist. Sie sitzen uns jetzt ohne Kippa entgegen. Was empfehlen Sie denn?
Sergey Lagodinsky: Weil ich kein Kippa trage, nehme ich mir nicht das Recht, jemanden, der das aus Überzeugung tut, zu empfehlen es entweder so oder so zu handhaben. Ich bin der Meinung, dass jede Institution, jede jüdische Institution diese schwierige Balance meistern muss, einerseits zu zeigen, ja wir sind da und wir sind stolz, auch uns als Juden zu zeigen, andererseits aber auch Fürsorge für die Zugehörigen, für die Mitglieder zu zeigen. Insofern bin ich nicht der Meinung, dass man jetzt diese Schule - es war das Abraham-Geiger-Kolleg, glaube ich - zu verurteilen, nur weil sie versucht hat, ein paar Tipps zu geben für die Menschen, um die Sicherheit zu gewährleisten.
Ich finde, wie gesagt, wie immer bei Minderheiten muss man da weise agieren. Als Vorsitzender einer Jüdischen Gemeinde würde ich nicht ausdrücklich dazu aufrufen, uns nicht als Juden zu zeigen. Nein, wir sind da, wir sind stolz, da zu sein. Andererseits, vor allem, wenn es um jüngere Menschen geht, um Menschen, die vielleicht die Lage nicht beurteilen können, finde ich es nicht falsch darauf hinzuweisen.
Deutschlandradio Kultur: Charlotte Knobloch, die frühere Vorsitzende des Zentralrats der Juden hat ja den harten Satz gesagt, die Frage gestellt: "Wollt ihr uns eigentlich noch?" Für wen spricht Charlotte Knobloch, eher für die ältere Generation der Juden in Deutschland oder auch für die jüngere?
Sergey Lagodinsky: Ich glaube, diese Beschneidungsdebatte in diesem Sommer hat einiges geändert, verändert. Ich hätte diese Frage vielleicht etwas entschiedener beantwortet noch vor ein paar Monaten und hätte gesagt, das ist wahrscheinlich eine Sicht der alten Generation. Es ist in der Tat so, dass die Jungen, die hierher kommen, nicht jeden Tag daran denken, dass sie jüdisch sind und dass sie hier in Deutschland leben, dass sie immer mit dieser Last der Vergangenheit oder auch des Andersseins zu kämpfen haben.
Man muss hier sehen, der jüdische Alltag in Deutschland ist nicht immer jüdisch, sondern das sind junge Leute, die ausgehen, die Clubbing machen, die in die Schule gehen, auf die Uni, aber auch mal in die Synagoge am Wochenende. Ich würde es nicht so drastisch ausdrücken wie sie, wie Frau Knobloch, aber ich respektiere diese Gefühle angesichts dieser Reaktion.
Ich würde hier im Übrigen auch darauf hinweisen, dass es ein qualitativer Sprung war. Dieser Text, den sie damals geschrieben hat, war ein anderer als man es sonst von jüdischen Menschen erwarten würde. Es war nicht ein Text eines Opfers. Sie hat nicht darauf hingewiesen, dass wir aus geschichtlichen Gründen hier irgendwelche Sonderrechte in Anspruch nehmen wollen, sondern sie hat gesagt, wir sind, wir haben uns immer als Teil dieser Gesellschaft verstanden. Wir sind diesen Vertrag eingegangen und wir haben Deutschland auch geschützt gegenüber anderen kritischen Stimmen im Ausland. Und deswegen wollen wir auch Solidarität von anderen. – Und das ist eine andere Position, eine andere Stellungnahme als sozusagen aus der Perspektive einer Holocaust-Überlebenden.
Deutschlandradio Kultur: Um sich selber aus der Opferrolle zu befreien, ist Humor, manchmal bitterer Humor wichtig. Der jüdische Witz ist ja wirklich legendär. Fällt Ihnen nach diesem Sommer 2012 noch ein Witz zum Thema ein oder ist Ihnen das Lachen vergangen?
Sergey Lagodinsky: Also, am Anfang haben viele gesagt, dass die ganze Diskussion ein Witz war. Ich habe das nicht so gesehen. Ich glaube, das ist schon eine Zäsur. Wir müssen uns überlegen, wie wir unser Verhältnis jetzt auf eine andere Basis stellen.
Ich glaube, wir können hier in Deutschland weiterhin lachen. Das Verhältnis ist nicht so dermaßen beschädigt, dass es nicht mehr geht. Wir sollen lachen. Oliver Polak macht es, ein jüdischer Comedian. Ich bin nicht immer einverstanden mit der Art der Witze, die er macht. Aber zum Beispiel Wladimir Kaminer ist ja auch ein weiterer, ein auch russischsprachiger, der da schreibt. Da gibt es auch viele andere Namen, die nicht erwähnt werden. Lena Gorelik aus München schreibt sehr interessante, sehr entspannte Bücher zu diesen Themen.
Insofern: Wir sollen weiter miteinander lachen, aber wir sollen nicht so tun, als gäbe es keine Themen, bei denen man auch mal weinen oder auch mal ernst gucken müsste.
Deutschlandradio Kultur: Wenn wir auf die politische Lage in Deutschland gucken, Sie waren Mitglied in der SPD, sie haben dort sogar den Arbeitskreis jüdischer Sozialdemokraten mit gegründet. Nachdem die Partei aber mit Thilo Sarrazin sehr zögerlich umgegangen ist, sind Sie unter Protest ausgetreten. Jetzt sind Sie bei den Grünen. Wo in der deutschen Politik können Juden zu Hause sein?
Sergey Lagodinsky: Ich glaube, Juden können in der deutschen Politik überall zu Hause sein, weil Juden genauso vielfältig sind wie die deutsche Politik.
Deutschlandradio Kultur: Trotzdem ist beispielsweise im Bundestag mit mehr als 600 Abgeordneten nicht mal eine Handvoll von Juden oder auch Muslimen, die sich zu ihrer Religion bekennen. Müssen diese beiden Gruppen ihre Religion in der deutschen Bundespolitik verleugnen?
Sergey Lagodinsky: Sie bekennen sich nicht im Bundestag zum Judentum, weil es einfach keine jüdischen Abgeordneten gibt. Es gibt Abgeordnete, die aus jüdischen Familien kommen, die sich aber nicht als Juden begreifen. Und das ist ihr gutes Recht. Ich glaube, dass jüdische Menschen genauso wie muslimische Menschen oder andere hier in Deutschland ihr Schicksal auch ein bisschen in die eigene Hand nehmen müssen. Das war auch mein Impetus, als ich in diesen Arbeitskreis in der SPD damals gegründet habe. Und das ist auch das, was mich bewegt auch weiter mitzumachen bei den Grünen.
Wir sind da. Wir sind angekommen. Diesen Spruch, "wir haben unsere Koffer ausgepackt", kann man mittlerweile nicht mehr hören, aber das ist so. Die Koffer sind ausgepackt und verstaut. Und das bedeutet, wir müssen mit anpacken. Wir sind keine Objekte der Politik und dieser Gesellschaft. Und dieser Emanzipationsprozess ist das, was mich interessiert. Mich interessiert es auch, aktiv mitzugestalten.
Deswegen ermutige ich alle Jüdinnen, Juden, Moslems, die hier wohnen, andere Minderheitsvertreter, aktiv in die Politik zu gehen, egal in welcher Partei. Wir haben Michel Friedman in der CDU. Wir hatten Ignaz Bubis, seligen Angedenkens, bei der FDP. Warum nicht bei den Grünen oder der SPD?
Deutschlandradio Kultur: Bei den Grünen ist ja die Besonderheit, dass es anscheinend eine große Gruppe gibt, die gegen eine Beschneidung von Jungen ist. Was machen Sie eigentlich, wenn diese Gruppe bei den Grünen die Mehrheit bekommen könnte?
Sergey Lagodinsky: Ich kämpfe weiter. Natürlich ist die Frage: Warum würde ich nicht aus der Partei austreten, wenn ich schon bei der SPD ausgetreten bin… Ich habe schon verstanden, wohin Ihre Frage zielt.
Aus der SPD bin ich nicht wegen Thilo Sarrazin ausgetreten, sondern weil ich insgesamt die Linie der Partei damals unglücklich fand, wie sie mit diesem Thema umgegangen ist, mit dem Thema Vielfalt. Da gab's vorher auch schon Anzeichen, mit denen ich einfach persönlich nicht einverstanden war.
Hier bei den Grünen gibt es eben das Thema Beschneidung. Ich verstehe das auch, dass ich da nicht in der Mehrheit bin. Ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich in der Minderheit bin. Aber es zeigt sich, dass diese Partei sich vielfältig positioniert. Und da habe ich zurzeit eine andere Strategie gewählt. Ich mit vielen Unterstützerinnen und Unterstützern, wir stellen einen Antrag zu der nächsten Bundesdelegiertenkonferenz, zu dem Parteitag im November, wo wir eben unsere Position auf diese Art und Weise kommunizieren möchten und auch dafür werben. Das ist ein gutes Beispiel dafür zu zeigen, dass die Grünen auch für Vielfalt stehen. Wie diese Vielfalt definiert wird, das wird entschieden in Hannover bei diesem Parteitag.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben jetzt in mehreren Aspekten beschrieben, Sie haben das Bild mit dem Koffer gebracht, Sie haben deutlich gemacht, wir müssen hier auch politisch anpacken, wir gehören hier dazu.
Cilly Kugelmann, die Programmdirektorin des Jüdischen Museums hier in Berlin, hat gesagt: "Die Selbstdefinition des Jüdischen über die Massenvernichtung ist ans Ende gekommen." Ist es das, was die jüngeren Juden, wie Sie, von der älteren Generation unterscheidet?
Sergey Lagodinsky: Ich glaube, es geht um den Stellenwert der Katastrophe, von Shoa, in unserem Selbstverständnis. Ganz verschwinden wird das auf keinen Fall. Insofern komme ich wieder zurück auf den Punkt, den ich schon erwähnt habe. Auch durch den Generationenwechsel, dadurch, dass zum Beispiel jetzt im Zentralrat oder in anderen Gremien verstärkt Leute etwas zu entscheiden haben, die keine Holocaust-Überlebenden sind, das wird aus meiner Sicht dieses Etwas, was zwischen uns steht, und dieses Etwas, was hinter uns steht, hinter uns allen, uns Deutschen, nicht wegmachen.
Aber das bedeutet nicht, dass wir uns dadurch zu 100 Prozent definieren wollen und müssen. Wir müssen damit umgehen. Und dieser Umgang muss nicht ständig sozusagen aus der Opfer-, aus der Objektperspektive heraus gestaltet werden. Man muss gestalterisch damit umgehen. Man muss auch zukunftsweisend damit umgehen, zum Beispiel wenn es darum geht, Solidarität mit anderen Minderheiten zu zeigen, zum Beispiel wenn es darum geht, dass wir die Verantwortung auch bei anderen politischen und gesellschaftlichen Themen hier übernehmen möchten - manchmal wegen des Holocaust, manchmal trotz des Holocaust, aber eben leider immer in diesem Kontext. Dieser Kontext ist einfach da.
Deutschlandradio Kultur: Ist denn der häufige Blick zurück auf den Holocaust und die manchmal fast bedingungslose Israel-Solidarität des Zentralrats der Juden vor allem deshalb so prägend, weil sonst diese Gemeinschaft im Grunde nicht mehr viel Kitt hätte, der sie verbindet?
Sergey Lagodinsky: Das ist natürlich auch unter anderem eine pragmatische Frage, eine fast schon strategische Frage für jede Gemeinschaft, was wählen wir, oder für jede Interessenvertretung oder Gemeinschaftsvertretung, was für Anknüpfungspunkte für die Identität wählen sie, damit diese Identität nicht auseinanderfällt.
Und es ist in der Tat so, dass die jüdische Gemeinschaft - und das sehe ich als Bereicherung, das sehe ich als Mehrwert - dermaßen vielfältig ist, dass es manchmal sehr schwierig ist, diese Menschen zusammenzuhalten. Deswegen wird sie, nicht nur in Deutschland, auch in den USA zum Beispiel, sehr häufig auf Holocaust-Erfahrung und Israel-Solidarität reduziert. Das sind für viele die zwei Hauptpunkte der jüdischen Identität.
Ich glaube, diese Hauptpunkte werden bleiben, aber wir müssen jetzt den nächsten Schritt wagen und sagen: Was kommt dazu? Und dieses "was kommt dazu?" darf auch nicht so eng verstanden werden, dass wir zu viele Leute auf dem Weg verlieren. Und ich glaube, dazu kommt Vielfalt und dazu kommt Freude und ein gewisser Optimismus, den wir auch für uns daraus schöpfen können, dass wir hier sind. Wir sind in einem Land, was sich unglaublich schnell verändert. Wir sind hier in einer Hauptstadt, die so viele Menschen anzieht, weil sie so vielfältig und interessant und dynamisch ist. Und das können wir für uns nutzen, um mit anzupacken, und uns auch anders definieren.
Deutschlandradio Kultur: Herr Lagodinsky, haben Sie vielen Dank für das Gespräch.
Sergey Lagodinsky: Vielen Dank für die Einladung.
Sergey Lagodinsky: Schönen guten Tag.
Deutschlandradio Kultur: Herr Lagodinsky, Sie haben Ihre ganze Kindheit und Jugend in der Sowjetunion verbracht, ehe Sie als 18-Jähriger mit Ihren Eltern nach Deutschland ausgewandert sind. Haben Sie Antisemitismus in der UdSSR erlebt?
Sergey Lagodinsky: Natürlich, in verschiedenen Formen. Man muss dazu sagen, ich komme aus Astrachan. Das ist im südlichen Russland. Da war der Antisemitismus im Alltag nicht immer zu spüren. Es war viel schlimmer in der Ukraine zum Beispiel. Dennoch war das immer klar, dass man zum Beispiel den Schulabschluss, Gymnasialabschluss, wie es hier heißen würde, immer als einer der Besten machen musste, damit man zum Beispiel auf eine gute Uni kommen konnte.
Genauso, als mein Vater zum Beispiel nach Moskau eingeladen wurde, was ja eine große Ehre war, um da zu arbeiten, wurde ihm empfohlen, seine Nationalität - wie es damals hieß, also seine jüdische Zugehörigkeit - nicht zu erwähnen. Da hat er sich geweigert, das zu tun. Und er wurde dann auch nie eingeladen und hat nie diese Genehmigung bekommen, nach Moskau zu ziehen.
Deutschlandradio Kultur: War dieser Antisemitismus der Grund für die Ausreise nach Deutschland oder waren das auch wirtschaftliche Gründe?
Sergey Lagodinsky: Es ist immer eine schwierige Frage: Was bewegt eine Familie auszuwandern und woanders hinzuziehen? Es war eine komische Atmosphäre, die damals herrschte, natürlich auch wirtschaftlicher Zerfall in der damaligen Sowjetunion - beziehungsweise damals war es schon die Russische Föderation -, aber auch die politische Instabilität, die auch mit Antisemitismus, mit dem Anstieg des Antisemitismus zusammenhing.
Wir haben ja oder ich habe in meiner Kindheit eher Antisemitismus von den staatlichen Institutionen erlebt. Mit dem Zerfall des Regimes ist der einfache Antisemitismus, der Antisemitismus unter Menschen ausgebrochen. Es gab viele Parteien, die mit antisemitischen Versprechen rumhantiert haben, mit Stereotypen, die antijüdische Stimmungsmache gemacht haben. Also insofern war das besonders für die jüdischen Menschen nicht besonders gemütlich, in der Sowjetunion und in Russland zu diesem Zeitpunkt.
Deutschlandradio Kultur: Das Leben in der Sowjetunion war ja regelrecht antireligiös. Sie selbst bezeichnen sich heute als säkular und nicht besonders gläubig. Wie sind Sie in Deutschland in der Jüdischen Gemeinde willkommen geheißen worden?
Sergey Lagodinsky: Das ist eine schwere Frage und das war auch ein schwerer Weg für die jüdischen Zuwanderer in der Jüdischen Gemeinde hier in Deutschland, weil in der Tat, sowohl in der nichtjüdischen Öffentlichkeit als auch in den Gemeinden hier die jüdische Zughörigkeit primär als Religionszugehörigkeit formuliert, definiert worden ist. Für uns ist das primär eine kulturelle, ethnische Zugehörigkeit. Und es hat ein bisschen Zeit gebraucht, bis unsere jüdischen Glaubensgenossinnen und -genossen hier das verstanden haben: dass man auch als säkularer Mensch in Russland trotzdem Jude war und sich auch als Jude gefühlt hat, und zwar als stolzer Jude, stolze Jüdin.
Da erzähle ich immer die Geschichte von meinem Vater. Er hatte überhaupt keine Ahnung von Religion, aber als er mit 16 Jahren einen Pass bekommen hat, in dem stand, dass seine nationale Zugehörigkeit russisch war, ist er umgedreht und hat dann seinen Pass zurückgegeben und hat verlangt, dass da "Jude" steht, weil er eben trotz Verfolgung stolz darauf war, diesem säkularen Judentum anzugehören.
Es ist insofern nicht nur eine negative Identität, wie es so häufig formuliert wird, nicht eine Identität, die durch die Verfolgung, durch die Ausgrenzung in der Sowjetunion sich herausgebildet hat, sondern eben auch eine positive, auch wenn es keine religiöse war.
Deutschlandradio Kultur: Wir kommen später noch darauf zu sprechen, was alles eine Rolle spielt, um sich als jüdisch zu empfinden. Blicken wir noch mal auf die Zeit, als Sie nach Deutschland gekommen sind. Sie haben ziemlich schnell, verblüffend schnell Deutsch gelernt, zuerst in Göttingen, dann haben Sie in Harvard studiert, Jura. Sie sind perfekt dreisprachig. Sind Sie der Immigrant, den sich jeder wünscht?
Sergey Lagodinsky: Ich bin vielleicht ein Mensch, den ich mir wünsche. Es wäre schade, wenn wir in unserer Gesellschaft danach suchen oder Leute danach beurteilen, wie erwünscht oder nicht erwünscht sie sind. Ich glaube, ich habe viel Glück gehabt. Ich glaube, ich bin auch in eine Familie hineingeboren worden, wo Bildung einen großen Wert genossen hat. Das ist nicht immer der Fall. Nicht alle haben so ein Glück.
Insofern: Wenn ich jetzt die ganzen Integrationsdebatten verfolge, dann verweise ich einerseits darauf, dass es sehr viele, zum Beispiel jüdische Zuwanderer aus Russland gibt, die sehr erfolgreich sind. Viele meiner Altersgenossinnen und -genossen haben Abitur gemacht, sie studieren Jura, Medizin, fangen jetzt an zu arbeiten. Andererseits verstehe ich, dass wir das alles aus einer bestimmten sozialen Situation heraus haben erreichen können. Und deswegen ist es aus meiner Sicht schon die Verantwortung der hiesigen Gesellschaft, für andere, die dieses Glück, diese Ausgangslage nicht hatten, die Voraussetzungen, die Bedingungen zu schaffen, damit es auch bei denen so geht.
Deutschlandradio Kultur: Sie sprechen dieses Ankommen jetzt hier schon an. Und das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden in Deutschland ist ja nach wie vor sehr komplex. Das haben wir gerade in diesem Sommer immer wieder erlebt. In Berlin sind mehrfach Juden angegriffen worden. Ein Rabbiner ist vor den Augen seiner sechsjährigen Tochter zusammengeschlagen worden. Und dann wird eben seit Monaten über die Beschneidung debattiert, ausgelöst durch ein Kölner Gericht, das diese Beschneidung als Körperverletzung gewertet hat.
Diese Beschneidungsdebatte ist ja auch sehr heftig und wird emotional geführt. Ist das eigentlich ein Zeichen von Antisemitismus oder könnte man das auch anders werten und sagen, eher ein Zeichen von Normalität, weil man eben die Samthandschuhe nicht mehr nutzt?
Sergey Lagodinsky: Die Frage der Normalität in deutsch-jüdischen Beziehungen hier in Deutschland, finde ich, ist eine Frage, die sinnlos ist. Diese Normalität wird es aus meiner Sicht nicht geben. Und das wird nicht kommen mit einem Generationenwechsel, weder von der einen noch von der anderen Seite. Dafür ist diese Leere, die durch die Vernichtung der jüdischen Gemeinde hier entstanden ist, zu groß. Wir sind damit vor allem hier in Berlin, aber auch in vielen anderen Städten tagtäglich konfrontiert. Da kann man nicht normal miteinander umgehen. Das ist der Kontext, das war er und er bleibt auch, in dem viele Diskussionen - auch die Beschneidungsdiskussion - stattfinden.
Insofern würde ich hier nicht dafür plädieren, dass es ein Zeichen der Normalität ist. Ich würde aber andererseits auch nicht sagen, dass alle, die für das Verbot der Beschneidung plädieren, - was ich nicht unterstütze, und das sage ich ausdrücklich in vielen verschiedenen Situationen -, dass diese Menschen primär antisemitisch motiviert sind. Sondern da kommen wiederum sehr viele unterschiedliche Faktoren, ja auch Antisemitismus bei sehr vielen, vor allem, wenn es um die Form dieses Aufstandes geht, wo viele Leute jetzt glauben, dass sie jüdische Kinder vor Juden schützen müssen, aber eben auch Bedenken. Unser Grundgesetz ist kompliziert und ist komplex. Und diese Abwägung zwischen verschiedenen Grundrechten ist nicht einfach zu machen. Insofern sehe ich hier beide Seiten und beide Aspekte.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben gesagt, Normalität ist nicht möglich. Wäre Normalität im Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden wünschenswert oder wäre dann eigentlich auch etwas verloren gegangen?
Sergey Lagodinsky: Was ist schon wünschenswert? Also, das ist so wie die Frage, was wäre, wenn. Das ist hypothetisch. Wir haben die Realität. Und diese Realität wird aus meiner Sicht nicht in eine Normalität münden, noch lange nicht. Natürlich gibt es verschiedene Entspannungszeichen, auch die Tatsache, dass viele jüdische Menschen jetzt in Deutschland ihre Zukunft aufbauen. Und das ist ja ein Zeichen des Vertrauens, was viele primär sowjetische Juden dadurch gezeigt haben, dass sie nicht zufällig in Deutschland geblieben sind, sondern direkt nach Deutschland ausgewandert sind, genauso wie viele Israelis, die jetzt nach Deutschland, nach Berlin vor allem kommen.
Das ist natürlich ein Zeichen, dass wir viel weiter sind als noch vor 20, 30 Jahren. Aber ich glaube, ganz werden wir die Geschichte, die gewissermaßen zwischen uns steht, nicht weghaben können.
Deutschlandradio Kultur: Neben diesem Beschneidungsurteil haben ja auch in den vergangenen Monaten einige antisemitische Überfälle für große Verunsicherung in der jüdischen Gemeinde gesorgt. Hat Ihnen da die Solidarität der restlichen Gesellschaft gefehlt?
Sergey Lagodinsky: Es war schon merkwürdig, als wir zum Beispiel bei einem Kippa-Flashmob den Kurfürstendamm entlanggegangen sind …
Deutschlandradio Kultur: … was haben Sie da gemacht?
Sergey Lagodinsky: Das war eine Initiative, die nicht von mir war, sondern von einigen Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde, aber wo ich gerne mitgemacht habe. Sie haben aufgerufen über Facebook, an einem Samstag, wenn ich mich richtig erinnere, Kippot aufzusetzen und sichtbar jüdisch auf dem Kudamm flanieren zu gehen in einer größeren Gruppe. Und da habe ich mich umgeschaut. Es waren aus meiner Sicht zu wenig nichtjüdische Menschen, die sich daran beteiligt haben.
Andererseits, ein paar Tage danach in Friedenau bei der Kundgebung zur Solidarität mit Rabbiner Alter waren sehr viele, auch nichtjüdische Menschen.
Deutschlandradio Kultur: Das war der Berliner Bezirk, in dem der Rabbiner verprügelt worden ist vor seiner Tochter.
Sergey Lagodinsky: Genau, absolut richtig. Also, ich glaube nicht, dass es da an Solidarität gefehlt hat. Aber ich glaube auch nicht, dass es darauf ankommt, bei diesen Ereignissen Solidarität zu zeigen, sondern es geht darum, Solidarität zu zeigen, wenn diese Vorfälle stattfinden oder wenn zum Beispiel in der Beschneidungsdebatte das eine oder andere Argument benutzt wird, was klar antisemitisch ist. Und dann aufzustehen und zu sagen, so wollen wir diese Debatte nicht führen, darauf kommt es an. Und da kommt es natürlich auf die Unterstützung von nichtjüdischen Menschen, nichtjüdischen Stimmen an.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben uns jetzt von dieser Kippa-Aktion erzählt. In Berlin ist es inzwischen soweit, dass eine jüdische Schule davon abrät, sich öffentlich als Jude zu erkennen zu geben. Also, die rät dazu, auf der Kippa eben noch ein Baseballcap beispielsweise zu tragen, damit das nicht zu sehen ist. Sie sitzen uns jetzt ohne Kippa entgegen. Was empfehlen Sie denn?
Sergey Lagodinsky: Weil ich kein Kippa trage, nehme ich mir nicht das Recht, jemanden, der das aus Überzeugung tut, zu empfehlen es entweder so oder so zu handhaben. Ich bin der Meinung, dass jede Institution, jede jüdische Institution diese schwierige Balance meistern muss, einerseits zu zeigen, ja wir sind da und wir sind stolz, auch uns als Juden zu zeigen, andererseits aber auch Fürsorge für die Zugehörigen, für die Mitglieder zu zeigen. Insofern bin ich nicht der Meinung, dass man jetzt diese Schule - es war das Abraham-Geiger-Kolleg, glaube ich - zu verurteilen, nur weil sie versucht hat, ein paar Tipps zu geben für die Menschen, um die Sicherheit zu gewährleisten.
Ich finde, wie gesagt, wie immer bei Minderheiten muss man da weise agieren. Als Vorsitzender einer Jüdischen Gemeinde würde ich nicht ausdrücklich dazu aufrufen, uns nicht als Juden zu zeigen. Nein, wir sind da, wir sind stolz, da zu sein. Andererseits, vor allem, wenn es um jüngere Menschen geht, um Menschen, die vielleicht die Lage nicht beurteilen können, finde ich es nicht falsch darauf hinzuweisen.
Deutschlandradio Kultur: Charlotte Knobloch, die frühere Vorsitzende des Zentralrats der Juden hat ja den harten Satz gesagt, die Frage gestellt: "Wollt ihr uns eigentlich noch?" Für wen spricht Charlotte Knobloch, eher für die ältere Generation der Juden in Deutschland oder auch für die jüngere?
Sergey Lagodinsky: Ich glaube, diese Beschneidungsdebatte in diesem Sommer hat einiges geändert, verändert. Ich hätte diese Frage vielleicht etwas entschiedener beantwortet noch vor ein paar Monaten und hätte gesagt, das ist wahrscheinlich eine Sicht der alten Generation. Es ist in der Tat so, dass die Jungen, die hierher kommen, nicht jeden Tag daran denken, dass sie jüdisch sind und dass sie hier in Deutschland leben, dass sie immer mit dieser Last der Vergangenheit oder auch des Andersseins zu kämpfen haben.
Man muss hier sehen, der jüdische Alltag in Deutschland ist nicht immer jüdisch, sondern das sind junge Leute, die ausgehen, die Clubbing machen, die in die Schule gehen, auf die Uni, aber auch mal in die Synagoge am Wochenende. Ich würde es nicht so drastisch ausdrücken wie sie, wie Frau Knobloch, aber ich respektiere diese Gefühle angesichts dieser Reaktion.
Ich würde hier im Übrigen auch darauf hinweisen, dass es ein qualitativer Sprung war. Dieser Text, den sie damals geschrieben hat, war ein anderer als man es sonst von jüdischen Menschen erwarten würde. Es war nicht ein Text eines Opfers. Sie hat nicht darauf hingewiesen, dass wir aus geschichtlichen Gründen hier irgendwelche Sonderrechte in Anspruch nehmen wollen, sondern sie hat gesagt, wir sind, wir haben uns immer als Teil dieser Gesellschaft verstanden. Wir sind diesen Vertrag eingegangen und wir haben Deutschland auch geschützt gegenüber anderen kritischen Stimmen im Ausland. Und deswegen wollen wir auch Solidarität von anderen. – Und das ist eine andere Position, eine andere Stellungnahme als sozusagen aus der Perspektive einer Holocaust-Überlebenden.
Deutschlandradio Kultur: Um sich selber aus der Opferrolle zu befreien, ist Humor, manchmal bitterer Humor wichtig. Der jüdische Witz ist ja wirklich legendär. Fällt Ihnen nach diesem Sommer 2012 noch ein Witz zum Thema ein oder ist Ihnen das Lachen vergangen?
Sergey Lagodinsky: Also, am Anfang haben viele gesagt, dass die ganze Diskussion ein Witz war. Ich habe das nicht so gesehen. Ich glaube, das ist schon eine Zäsur. Wir müssen uns überlegen, wie wir unser Verhältnis jetzt auf eine andere Basis stellen.
Ich glaube, wir können hier in Deutschland weiterhin lachen. Das Verhältnis ist nicht so dermaßen beschädigt, dass es nicht mehr geht. Wir sollen lachen. Oliver Polak macht es, ein jüdischer Comedian. Ich bin nicht immer einverstanden mit der Art der Witze, die er macht. Aber zum Beispiel Wladimir Kaminer ist ja auch ein weiterer, ein auch russischsprachiger, der da schreibt. Da gibt es auch viele andere Namen, die nicht erwähnt werden. Lena Gorelik aus München schreibt sehr interessante, sehr entspannte Bücher zu diesen Themen.
Insofern: Wir sollen weiter miteinander lachen, aber wir sollen nicht so tun, als gäbe es keine Themen, bei denen man auch mal weinen oder auch mal ernst gucken müsste.
Deutschlandradio Kultur: Wenn wir auf die politische Lage in Deutschland gucken, Sie waren Mitglied in der SPD, sie haben dort sogar den Arbeitskreis jüdischer Sozialdemokraten mit gegründet. Nachdem die Partei aber mit Thilo Sarrazin sehr zögerlich umgegangen ist, sind Sie unter Protest ausgetreten. Jetzt sind Sie bei den Grünen. Wo in der deutschen Politik können Juden zu Hause sein?
Sergey Lagodinsky: Ich glaube, Juden können in der deutschen Politik überall zu Hause sein, weil Juden genauso vielfältig sind wie die deutsche Politik.
Deutschlandradio Kultur: Trotzdem ist beispielsweise im Bundestag mit mehr als 600 Abgeordneten nicht mal eine Handvoll von Juden oder auch Muslimen, die sich zu ihrer Religion bekennen. Müssen diese beiden Gruppen ihre Religion in der deutschen Bundespolitik verleugnen?
Sergey Lagodinsky: Sie bekennen sich nicht im Bundestag zum Judentum, weil es einfach keine jüdischen Abgeordneten gibt. Es gibt Abgeordnete, die aus jüdischen Familien kommen, die sich aber nicht als Juden begreifen. Und das ist ihr gutes Recht. Ich glaube, dass jüdische Menschen genauso wie muslimische Menschen oder andere hier in Deutschland ihr Schicksal auch ein bisschen in die eigene Hand nehmen müssen. Das war auch mein Impetus, als ich in diesen Arbeitskreis in der SPD damals gegründet habe. Und das ist auch das, was mich bewegt auch weiter mitzumachen bei den Grünen.
Wir sind da. Wir sind angekommen. Diesen Spruch, "wir haben unsere Koffer ausgepackt", kann man mittlerweile nicht mehr hören, aber das ist so. Die Koffer sind ausgepackt und verstaut. Und das bedeutet, wir müssen mit anpacken. Wir sind keine Objekte der Politik und dieser Gesellschaft. Und dieser Emanzipationsprozess ist das, was mich interessiert. Mich interessiert es auch, aktiv mitzugestalten.
Deswegen ermutige ich alle Jüdinnen, Juden, Moslems, die hier wohnen, andere Minderheitsvertreter, aktiv in die Politik zu gehen, egal in welcher Partei. Wir haben Michel Friedman in der CDU. Wir hatten Ignaz Bubis, seligen Angedenkens, bei der FDP. Warum nicht bei den Grünen oder der SPD?
Deutschlandradio Kultur: Bei den Grünen ist ja die Besonderheit, dass es anscheinend eine große Gruppe gibt, die gegen eine Beschneidung von Jungen ist. Was machen Sie eigentlich, wenn diese Gruppe bei den Grünen die Mehrheit bekommen könnte?
Sergey Lagodinsky: Ich kämpfe weiter. Natürlich ist die Frage: Warum würde ich nicht aus der Partei austreten, wenn ich schon bei der SPD ausgetreten bin… Ich habe schon verstanden, wohin Ihre Frage zielt.
Aus der SPD bin ich nicht wegen Thilo Sarrazin ausgetreten, sondern weil ich insgesamt die Linie der Partei damals unglücklich fand, wie sie mit diesem Thema umgegangen ist, mit dem Thema Vielfalt. Da gab's vorher auch schon Anzeichen, mit denen ich einfach persönlich nicht einverstanden war.
Hier bei den Grünen gibt es eben das Thema Beschneidung. Ich verstehe das auch, dass ich da nicht in der Mehrheit bin. Ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich in der Minderheit bin. Aber es zeigt sich, dass diese Partei sich vielfältig positioniert. Und da habe ich zurzeit eine andere Strategie gewählt. Ich mit vielen Unterstützerinnen und Unterstützern, wir stellen einen Antrag zu der nächsten Bundesdelegiertenkonferenz, zu dem Parteitag im November, wo wir eben unsere Position auf diese Art und Weise kommunizieren möchten und auch dafür werben. Das ist ein gutes Beispiel dafür zu zeigen, dass die Grünen auch für Vielfalt stehen. Wie diese Vielfalt definiert wird, das wird entschieden in Hannover bei diesem Parteitag.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben jetzt in mehreren Aspekten beschrieben, Sie haben das Bild mit dem Koffer gebracht, Sie haben deutlich gemacht, wir müssen hier auch politisch anpacken, wir gehören hier dazu.
Cilly Kugelmann, die Programmdirektorin des Jüdischen Museums hier in Berlin, hat gesagt: "Die Selbstdefinition des Jüdischen über die Massenvernichtung ist ans Ende gekommen." Ist es das, was die jüngeren Juden, wie Sie, von der älteren Generation unterscheidet?
Sergey Lagodinsky: Ich glaube, es geht um den Stellenwert der Katastrophe, von Shoa, in unserem Selbstverständnis. Ganz verschwinden wird das auf keinen Fall. Insofern komme ich wieder zurück auf den Punkt, den ich schon erwähnt habe. Auch durch den Generationenwechsel, dadurch, dass zum Beispiel jetzt im Zentralrat oder in anderen Gremien verstärkt Leute etwas zu entscheiden haben, die keine Holocaust-Überlebenden sind, das wird aus meiner Sicht dieses Etwas, was zwischen uns steht, und dieses Etwas, was hinter uns steht, hinter uns allen, uns Deutschen, nicht wegmachen.
Aber das bedeutet nicht, dass wir uns dadurch zu 100 Prozent definieren wollen und müssen. Wir müssen damit umgehen. Und dieser Umgang muss nicht ständig sozusagen aus der Opfer-, aus der Objektperspektive heraus gestaltet werden. Man muss gestalterisch damit umgehen. Man muss auch zukunftsweisend damit umgehen, zum Beispiel wenn es darum geht, Solidarität mit anderen Minderheiten zu zeigen, zum Beispiel wenn es darum geht, dass wir die Verantwortung auch bei anderen politischen und gesellschaftlichen Themen hier übernehmen möchten - manchmal wegen des Holocaust, manchmal trotz des Holocaust, aber eben leider immer in diesem Kontext. Dieser Kontext ist einfach da.
Deutschlandradio Kultur: Ist denn der häufige Blick zurück auf den Holocaust und die manchmal fast bedingungslose Israel-Solidarität des Zentralrats der Juden vor allem deshalb so prägend, weil sonst diese Gemeinschaft im Grunde nicht mehr viel Kitt hätte, der sie verbindet?
Sergey Lagodinsky: Das ist natürlich auch unter anderem eine pragmatische Frage, eine fast schon strategische Frage für jede Gemeinschaft, was wählen wir, oder für jede Interessenvertretung oder Gemeinschaftsvertretung, was für Anknüpfungspunkte für die Identität wählen sie, damit diese Identität nicht auseinanderfällt.
Und es ist in der Tat so, dass die jüdische Gemeinschaft - und das sehe ich als Bereicherung, das sehe ich als Mehrwert - dermaßen vielfältig ist, dass es manchmal sehr schwierig ist, diese Menschen zusammenzuhalten. Deswegen wird sie, nicht nur in Deutschland, auch in den USA zum Beispiel, sehr häufig auf Holocaust-Erfahrung und Israel-Solidarität reduziert. Das sind für viele die zwei Hauptpunkte der jüdischen Identität.
Ich glaube, diese Hauptpunkte werden bleiben, aber wir müssen jetzt den nächsten Schritt wagen und sagen: Was kommt dazu? Und dieses "was kommt dazu?" darf auch nicht so eng verstanden werden, dass wir zu viele Leute auf dem Weg verlieren. Und ich glaube, dazu kommt Vielfalt und dazu kommt Freude und ein gewisser Optimismus, den wir auch für uns daraus schöpfen können, dass wir hier sind. Wir sind in einem Land, was sich unglaublich schnell verändert. Wir sind hier in einer Hauptstadt, die so viele Menschen anzieht, weil sie so vielfältig und interessant und dynamisch ist. Und das können wir für uns nutzen, um mit anzupacken, und uns auch anders definieren.
Deutschlandradio Kultur: Herr Lagodinsky, haben Sie vielen Dank für das Gespräch.
Sergey Lagodinsky: Vielen Dank für die Einladung.