"Wir rücken zusammen"
Viele Deutsche mit Migrationshintergrund, vor allem, wenn es sich um Moslems handelt, werden tagtäglich mit Vorurteilen und Anfeindungen konfrontiert. Hilal Sezgin, Autorin und Publizistin aus Frankfurt am Main, setzt sich dagegen zur Wehr. Für ihr "Manifest der Vielen" hat sie 30 Autorinnen und Autoren um sich versammelt, die ein Zeichen gegen Rassismus setzen wollen.
Joachim Scholl: Hilal Sezgin ist eine deutsche Philosophin mit türkischen Wurzeln, geboren in Frankfurt am Main, seit vielen Jahren als Publizistin und Autorin tätig, und sie hat es satt, immer darauf angesprochen zu werden: Wie ist das denn nun mit dem Islam bei dir? Wie ihr geht es noch etlichen anderen Autoren mit ähnlicher Herkunft, und mit ihnen zusammen hat Hilal Sezgin jetzt ein Buch veröffentlicht: das "Manifest der Vielen – Deutschland erfindet sich neu". Hilal Sezgin ist jetzt im Studio, ich grüße Sie!
Hilal Sezgin: Guten Tag, Herr Scholl!
Scholl: Deutschland erfindet sich neu – das ist natürlich die direkte Anspielung auf Thilo Sarrazins kontroversen Bestseller "Deutschland schafft sich ab". Angesichts des sensationellen Erfolgs von Sarrazins Buch und der enormen Debatte, die sich anschloss – war es für Sie an der Zeit, ein Zeichen dagegen zu setzen?
Sezgin: Ja, in der Tat, also die Zeit seit dem Erscheinen von Sarrazins Buch, also praktisch der letzte Herbst und auch der Winter, waren irgendwie schwer zu ertragen. Man hat ständig Sarrazins sogenannte Thesen im Fernsehen gehört, im Radio, in allen Zeitungen wurden sie hoch und runter genudelt, und das ist eine schwere Ausgangsbasis, weil man fängt beim Schlimmsten an. Wir in unserem Buch fangen gar nicht bei Sarrazins Inhalten eigentlich an, wir arbeiten uns nicht daran ab an diesen komischen Statistiken, die ja schon so oft widerlegt wurden, und wir wollten einfach zeigen: Ja, wir gehören zu Deutschland. Natürlich, es gibt irgendwie zwei Millionen Muslime in Deutschland sogar mit deutscher Staatsangehörigkeit, und es gibt weitere zwei Millionen Muslime, die hier dauerhaft leben. Wir gehören dazu, wir haben auch politische Ansichten, wir sind Teil der deutschen Gesellschaft, und wir wollten uns jetzt mal zu Wort melden, ohne in dieser üblichen Besetzung erst mal gegen diesen Rassismus ankämpfen zu müssen, sondern uns den Raum zu nehmen und zu sagen: Wie sehen wir Deutschland heute, wie sehen wir die Entwicklung, was wünschen wir uns für die Zukunft?
Scholl: In Ihrem Beitrag, Ihrem Essay, Frau Sezgin, zum Buch formulieren Sie ganz aggressiv: Deutschland schafft mich ab. Wie geht das Ihrem Empfinden nach zu, wie schafft Deutschland Sie ab?
Sezgin: Ja, in der Tat, man wird zunehmend oder immer wieder auf einen Teil der sogenannten Identität festgelegt, immer Muslim, Muslim, Muslim. Das trifft übrigens auch Leute, die gar nicht glauben selber. Ich bin ja jetzt noch in der glücklichen Lage, irgendwie gläubige Muslima zu sein, aber die Religion ist eben nur Teil von dem, was einen Menschen ausmacht. Man wird aber zunehmend darauf reduziert, und dann ist man sofort in dieser Schublade und muss dagegen ankämpfen, gegen all das, was unterstellt wird – Integrationsdefizite, Demokratieunfähigkeit, Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz und was dem Islam sonst alles vorgeworfen wird. Dagegen muss man sich abstrampeln. Das ist so ein bisschen gemeint: "schafft mich ab". Andererseits gibt es natürlich jetzt den neuen Trick, dann sagt man, na ja, Sie sind ja nicht gemeint, also sozusagen mir bescheinigt man dann, das ist so ein Persilschein, ich bin guter Muslim, dann sollen die anderen alle die schlimmen sein. Das ist natürlich auch keine Lösung, indem man einfach die Mehrheit beleidigt und jeden, der dagegen Einspruch erhebt, dann zur Ausnahme erklärt.
Scholl: Sie sprechen in diesem Zusammenhang von Muslimifizierung. Wie erleben Sie das konkret?
Sezgin: Also der soziologische Fachbegriff ist Muslimisierung, aber ich finde Muslimifizierung klingt irgendwie mehr nach Mumifizierung. Ich habe das Gefühl, das ist einfach so einengend und irgendwie rigide und sowas. Ja, so nehme ich es in der Tat wahr. Meine Güte, ich bin einfach irgendwie Deutsche, und wenn man irgendwie ein halbwegs linker oder sogar ein richtig linker Deutscher ist, dann sagt man auch nicht andauernd, ich bin deutsch, ich bin deutsch, ich bin deutsch, dann lebt man hier einfach und versucht, irgendwie so seinen Teil zur Öffentlichkeit oder zur Diskussion irgendwie beizutragen. Dann wird aber immer mehr dieser Identitätsdruck an einen herangetragen, also ständig muss man sich erklären, also auf irgendeiner ganz harmlosen Gartenparty muss man erklären irgendwie, was im Koran in Sure so und so gemeint ist. Ja, meine Güte, ich meine, die Leute kennen sich mit dem Koran gar nicht so aus, ich habe ihn nicht dabei, und es ist vielleicht eher an der Zeit, über Kartoffelsalat oder übers Wetter oder sowas zu reden. Also man wird reduziert, man muss ständig sich in Bezug auf bestimmte Probleme, die dem Islam zugemutet werden, erklären. Mich haben auch schon Freunde oder frühere Freunde spätabends angerufen und ich sollte mich dann zum Terrorismus irgendwie mal positionieren. Da habe ich gesagt, du meinst das nicht ernst, du meinst nicht wirklich, dass ich jetzt sagen muss, dass ich gegen Massenmord bin. Das finde ich schon eine gewaltige Unterstellung.
Scholl: Sie beschreiben die Situation einer Lesung in Ihrem Text in einer x-beliebigen Kleinstadt in Deutschland, und dann schreiben Sie: Ein schrecklicher Moment, wenn die Diskussion fürs Publikum freigegeben wird. Was passiert denn dann, was ist da so schrecklich?
Sezgin: Es ist eben meistens so: Ich habe natürlich auch tolle und interessante und vielfältige Leser und Zuhörer, aber es gibt halt dann doch immer so einige, und die eifrigsten, die melden sich dann immer sofort zu Wort, und dann kommen die eben mit ihrer geballten Packung antiislamischer Vorurteile. Es gibt immer Leute, die sagen: Ja, aber ich sehe es doch mit eigenen Augen, dass es immer mehr … und dann kommt sowas wie Kopftücher oder aggressive Jungen in den Straßen und sowas. Das ist einfach, sagen wir mal, ein Effekt davon, dass sich einfach antiislamische Vorurteile in der Gesellschaft so breitgemacht haben und schon so stark zum Konsens gehören, dass es den Leuten offenbar gar nicht mehr auffällt, was für eine Unverschämtheit das ist, und was man in allen Schichten übrigens findet, das sind ja jetzt nicht alles, wie man so sagt, ungebildete Leute, das sind auch ganz oft Lehrerinnen oder alle möglichen Leute auch aus akademischen Berufen. Ich trage ja kein Kopftuch, aber wenn man jetzt ein Kopftuch trägt, dann muss man gar nicht erst einen Vortrag halten oder eine Lesung halten, dann muss man einfach nur die Straße langgehen, dann wird man auch da schon angefeindet, teilweise wird hinter den Frauen hergespuckt und so. Also da ist es natürlich noch krasser, insofern sollte ich mich vielleicht gar nicht so laut beklagen.
Scholl: Das "Manifest der Vielen", die Philosophin und Publizistin Hilal Sezgin gehört dazu im gleichnamigen Buch, das sie herausgegeben hat, und Hilal Sezgin ist hier im Deutschlandradio Kultur mit uns im Gespräch. Einen Satz habe ich mir herausgeschrieben aus Ihrem Text, Frau Sezgin, weil er, wie ich finde, den Zusammenhang sehr treffend auf den Punkt bringt. Zitat: "Nicht jeder, der einen arabischen Namen trägt, kann aus dem Stand den Koran rezitieren oder interpretieren, ebenso wenig wie sich die neue Kollegin ostasiatischer Abstammung automatisch für den Reiskocher in der Kantine interessiert." Da lacht man und das leuchtet natürlich sofort ein, aber, Frau Sezgin, was ist gegen diesen Reflex, wie er offensichtlich in der deutschen Öffentlichkeit automatisch zuckt, was ist denn dagegen zu machen?
Sezgin: Ja, ich denke jetzt gerade wieder, also als Journalisten: Wir sind ja besonders in der Verantwortung, weil ich denke, viele von diesen Zuschreibungen sind gar nicht von der Politik im engeren Sinne ausgegangen, sondern geht darauf zurück, wie die Medien immer wieder berichten, ich sage tatsächlich pauschal die Medien, weil es sind fast alle und es ist auch nicht nur die "Bild", da können wir nicht sagen, es ist die blöde "Bild" mit ihren Schlagzeilen – nein, es sind auch die Qualitätsmedien, es sind die Qualitätsmedien mit ihrer Bebilderung von immer großen Minaretten gegen kleine Kirchtürme, was es in Deutschland überhaupt nicht gibt, von ständig demütigen, unterdrückten Frauen, Berichterstattung, Schlagzeilen, zugespitzte Fragen bei Talkshows und sowas, also da haben die Medien großen Anteil daran. Und ich denke, wir als Journalisten vor allem sollten uns fragen, ob wir nicht schon negative Unterstellungen eigentlich an unser Untersuchungsobjekt, also an den Islam, wenn wir berichten, herantragen und ständig mit uns führen, und das sollten wir zurückschrauben. Als Mediennutzer wiederum, also als Leserin oder Hörerin sollten wir uns das auch fragen, also wir sollten immer fragen: Was ist eigentlich die Ausgangsunterstellung? Ist da nicht schon eine negative Ausgangsunterstellung drin? Oder: Ist die Frage wirklich offen? Darauf kann man, glaube ich, als kritischer Leser oder Hörerin oder Zuschauerin auch selber achten.
Scholl: Das "Manifest der Vielen" setzt sich am Ende aus 30 Zeilen zusammen, es sind Sätze aus den jeweiligen Aufsätzen der Autoren. "Ich bin hier", lautet der erste Satz, und der zweite: "Ich suche nach etwas Drittem, das in uns allem steckt". Was wäre denn dieses Dritte für Sie, Frau Sezgin?
Sezgin: Ich finde den Satz sehr schön, den der Kollege geschrieben hat, und ja, normalerweise wird man gefragt zum Beispiel: Sind Sie mehr deutsch oder mehr türkisch? Das ist eine Frage, die für mich überhaupt keinen Sinn macht, weil ich erstens mich sowieso jetzt nicht als deutsch oder sowas identifiziere, auch nicht als Türkin oder auch nicht als Muslimin, und weil das auch nicht getrennte Teile sind. Und etwas Drittes würde gar nicht wirklich für was Drittes stehen, sondern einfach für so eine Offenheit, dass man einfach anerkennt: Es ist nicht "entweder oder", es ist nicht das beliebte Motiv, man sitzt zwischen den Stühlen, einem oder zweien, nein. Das ist alles nicht so getrennt, das ist viel flexibler. Dafür steht für mich dieses Dritte.
Scholl: Es ist ein sehr heterogenes und dadurch auch überraschendes Manifest durch diese 30 extrahierten Sätze, und einer heißt auch noch: "Auf diesen Satz habe ich 20 Jahre gewartet", ich weiß jetzt nicht mehr, aus welchem Aufsatz und von wem er stammt, aber was müsste gesagt werden, Frau Sezgin, dass Sie mal diesen Stoßseufzer tun und sagen, auf den Satz habe ich jetzt 20 Jahre gewartet?
Sezgin: Hm, das stimmt eigentlich sogar, also ich habe auch auf diesen Satz irgendwie gewartet, wenn nicht 20 Jahre, er stammt übrigens von Fereshta Ludin, das ist also diese Pionierin, die in den 90er-Jahren als Erste gegen das Kopftuchverbot – sie ist Lehrerin – geklagt hat, und er bezog sich auf den Satz von Christian Wulff: "Der Islam ist auch ein Teil Deutschlands", oder: "Ich bin auch Ihr Präsident". Und das ist ein Satz, das gebe ich schon zu, der hat mich auch zu Tränen gerührt, als Wulff den letzten Oktober gesagt hat. Insofern kann ich in diesem Punkt mitgehen. Was das Manifest angeht: Das ist so ein bisschen so ein Gag, dass wir am Ende dann noch aus jedem Text einen Satz genommen haben. Man hätte auch andere nehmen können, das ist so ein bisschen spielerisch. Ich finde, es sind ganz nette Sätze dabei herausgekommen, aber das sollte man jetzt nicht als großes politisches Programm lesen.
Scholl: Welcher Satz ist Ihrer?
Sezgin: Meiner ist glaube ich: "Wir rücken zusammen", das war eine komische Beobachtung, die ich gemacht habe. Ich habe das schon erzählt, ich habe mich jetzt früher gar nicht so klar verortet, jetzt deutsch so und so, deutsch-muslimisch, deutsch, irgendwas anderes oder so, aber in den letzten Jahren bin ich immer muslimischer geworden. Und ich werde ja immer häufiger als Muslimin angesprochen, muss mich immer häufiger als Muslimin erklären, und habe komischerweise, um da so ein bisschen auch Rückendeckung zu bekommen, immer mehr muslimische Freundinnen und Freunde. Also, ich habe jetzt in meinem Bekannten- und Freundeskreis so viele Musliminnen und Muslime, das habe ich früher gar nicht gehabt. Das kommt irgendwie dadurch, dass man Leute sucht, die es auch ein bisschen ähnlich so sehen wie man selber, die auch aufseufzen, wenn der "Spiegel" wieder irgendwie so ein Schwert über einer verschleierten Frau auf die Titelseite gehoben hat, dann leidet man so ein bisschen und man weiß, so andere, die so ähnlich ticken, die sehen es auch so. Ja, das meine ich: Wir rücken näher zusammen. Es ist ein Phänomen, das durch Ausgrenzung seitens der Mehrheitsgesellschaft und auch der Medienlandschaft dann in Gang gesetzt wird.
Scholl: 30 deutsche Intellektuelle mit internationalem Hintergrund, sie haben ein "Manifest der Vielen" veröffentlicht, "Deutschland erfindet sich neu". Hilal Sezgin gehört dazu, sie hat den Band herausgegeben, im Blumenbar Verlag erscheint er heute, mit 224 Seiten zum Preis von 12,90 Euro. Frau Sezgin, viel Erfolg wünschen wir Ihnen mit dieser Schrift, und herzlichen Dank für das Gespräch!
Sezgin: Danke sehr!
Hilal Sezgin: Guten Tag, Herr Scholl!
Scholl: Deutschland erfindet sich neu – das ist natürlich die direkte Anspielung auf Thilo Sarrazins kontroversen Bestseller "Deutschland schafft sich ab". Angesichts des sensationellen Erfolgs von Sarrazins Buch und der enormen Debatte, die sich anschloss – war es für Sie an der Zeit, ein Zeichen dagegen zu setzen?
Sezgin: Ja, in der Tat, also die Zeit seit dem Erscheinen von Sarrazins Buch, also praktisch der letzte Herbst und auch der Winter, waren irgendwie schwer zu ertragen. Man hat ständig Sarrazins sogenannte Thesen im Fernsehen gehört, im Radio, in allen Zeitungen wurden sie hoch und runter genudelt, und das ist eine schwere Ausgangsbasis, weil man fängt beim Schlimmsten an. Wir in unserem Buch fangen gar nicht bei Sarrazins Inhalten eigentlich an, wir arbeiten uns nicht daran ab an diesen komischen Statistiken, die ja schon so oft widerlegt wurden, und wir wollten einfach zeigen: Ja, wir gehören zu Deutschland. Natürlich, es gibt irgendwie zwei Millionen Muslime in Deutschland sogar mit deutscher Staatsangehörigkeit, und es gibt weitere zwei Millionen Muslime, die hier dauerhaft leben. Wir gehören dazu, wir haben auch politische Ansichten, wir sind Teil der deutschen Gesellschaft, und wir wollten uns jetzt mal zu Wort melden, ohne in dieser üblichen Besetzung erst mal gegen diesen Rassismus ankämpfen zu müssen, sondern uns den Raum zu nehmen und zu sagen: Wie sehen wir Deutschland heute, wie sehen wir die Entwicklung, was wünschen wir uns für die Zukunft?
Scholl: In Ihrem Beitrag, Ihrem Essay, Frau Sezgin, zum Buch formulieren Sie ganz aggressiv: Deutschland schafft mich ab. Wie geht das Ihrem Empfinden nach zu, wie schafft Deutschland Sie ab?
Sezgin: Ja, in der Tat, man wird zunehmend oder immer wieder auf einen Teil der sogenannten Identität festgelegt, immer Muslim, Muslim, Muslim. Das trifft übrigens auch Leute, die gar nicht glauben selber. Ich bin ja jetzt noch in der glücklichen Lage, irgendwie gläubige Muslima zu sein, aber die Religion ist eben nur Teil von dem, was einen Menschen ausmacht. Man wird aber zunehmend darauf reduziert, und dann ist man sofort in dieser Schublade und muss dagegen ankämpfen, gegen all das, was unterstellt wird – Integrationsdefizite, Demokratieunfähigkeit, Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz und was dem Islam sonst alles vorgeworfen wird. Dagegen muss man sich abstrampeln. Das ist so ein bisschen gemeint: "schafft mich ab". Andererseits gibt es natürlich jetzt den neuen Trick, dann sagt man, na ja, Sie sind ja nicht gemeint, also sozusagen mir bescheinigt man dann, das ist so ein Persilschein, ich bin guter Muslim, dann sollen die anderen alle die schlimmen sein. Das ist natürlich auch keine Lösung, indem man einfach die Mehrheit beleidigt und jeden, der dagegen Einspruch erhebt, dann zur Ausnahme erklärt.
Scholl: Sie sprechen in diesem Zusammenhang von Muslimifizierung. Wie erleben Sie das konkret?
Sezgin: Also der soziologische Fachbegriff ist Muslimisierung, aber ich finde Muslimifizierung klingt irgendwie mehr nach Mumifizierung. Ich habe das Gefühl, das ist einfach so einengend und irgendwie rigide und sowas. Ja, so nehme ich es in der Tat wahr. Meine Güte, ich bin einfach irgendwie Deutsche, und wenn man irgendwie ein halbwegs linker oder sogar ein richtig linker Deutscher ist, dann sagt man auch nicht andauernd, ich bin deutsch, ich bin deutsch, ich bin deutsch, dann lebt man hier einfach und versucht, irgendwie so seinen Teil zur Öffentlichkeit oder zur Diskussion irgendwie beizutragen. Dann wird aber immer mehr dieser Identitätsdruck an einen herangetragen, also ständig muss man sich erklären, also auf irgendeiner ganz harmlosen Gartenparty muss man erklären irgendwie, was im Koran in Sure so und so gemeint ist. Ja, meine Güte, ich meine, die Leute kennen sich mit dem Koran gar nicht so aus, ich habe ihn nicht dabei, und es ist vielleicht eher an der Zeit, über Kartoffelsalat oder übers Wetter oder sowas zu reden. Also man wird reduziert, man muss ständig sich in Bezug auf bestimmte Probleme, die dem Islam zugemutet werden, erklären. Mich haben auch schon Freunde oder frühere Freunde spätabends angerufen und ich sollte mich dann zum Terrorismus irgendwie mal positionieren. Da habe ich gesagt, du meinst das nicht ernst, du meinst nicht wirklich, dass ich jetzt sagen muss, dass ich gegen Massenmord bin. Das finde ich schon eine gewaltige Unterstellung.
Scholl: Sie beschreiben die Situation einer Lesung in Ihrem Text in einer x-beliebigen Kleinstadt in Deutschland, und dann schreiben Sie: Ein schrecklicher Moment, wenn die Diskussion fürs Publikum freigegeben wird. Was passiert denn dann, was ist da so schrecklich?
Sezgin: Es ist eben meistens so: Ich habe natürlich auch tolle und interessante und vielfältige Leser und Zuhörer, aber es gibt halt dann doch immer so einige, und die eifrigsten, die melden sich dann immer sofort zu Wort, und dann kommen die eben mit ihrer geballten Packung antiislamischer Vorurteile. Es gibt immer Leute, die sagen: Ja, aber ich sehe es doch mit eigenen Augen, dass es immer mehr … und dann kommt sowas wie Kopftücher oder aggressive Jungen in den Straßen und sowas. Das ist einfach, sagen wir mal, ein Effekt davon, dass sich einfach antiislamische Vorurteile in der Gesellschaft so breitgemacht haben und schon so stark zum Konsens gehören, dass es den Leuten offenbar gar nicht mehr auffällt, was für eine Unverschämtheit das ist, und was man in allen Schichten übrigens findet, das sind ja jetzt nicht alles, wie man so sagt, ungebildete Leute, das sind auch ganz oft Lehrerinnen oder alle möglichen Leute auch aus akademischen Berufen. Ich trage ja kein Kopftuch, aber wenn man jetzt ein Kopftuch trägt, dann muss man gar nicht erst einen Vortrag halten oder eine Lesung halten, dann muss man einfach nur die Straße langgehen, dann wird man auch da schon angefeindet, teilweise wird hinter den Frauen hergespuckt und so. Also da ist es natürlich noch krasser, insofern sollte ich mich vielleicht gar nicht so laut beklagen.
Scholl: Das "Manifest der Vielen", die Philosophin und Publizistin Hilal Sezgin gehört dazu im gleichnamigen Buch, das sie herausgegeben hat, und Hilal Sezgin ist hier im Deutschlandradio Kultur mit uns im Gespräch. Einen Satz habe ich mir herausgeschrieben aus Ihrem Text, Frau Sezgin, weil er, wie ich finde, den Zusammenhang sehr treffend auf den Punkt bringt. Zitat: "Nicht jeder, der einen arabischen Namen trägt, kann aus dem Stand den Koran rezitieren oder interpretieren, ebenso wenig wie sich die neue Kollegin ostasiatischer Abstammung automatisch für den Reiskocher in der Kantine interessiert." Da lacht man und das leuchtet natürlich sofort ein, aber, Frau Sezgin, was ist gegen diesen Reflex, wie er offensichtlich in der deutschen Öffentlichkeit automatisch zuckt, was ist denn dagegen zu machen?
Sezgin: Ja, ich denke jetzt gerade wieder, also als Journalisten: Wir sind ja besonders in der Verantwortung, weil ich denke, viele von diesen Zuschreibungen sind gar nicht von der Politik im engeren Sinne ausgegangen, sondern geht darauf zurück, wie die Medien immer wieder berichten, ich sage tatsächlich pauschal die Medien, weil es sind fast alle und es ist auch nicht nur die "Bild", da können wir nicht sagen, es ist die blöde "Bild" mit ihren Schlagzeilen – nein, es sind auch die Qualitätsmedien, es sind die Qualitätsmedien mit ihrer Bebilderung von immer großen Minaretten gegen kleine Kirchtürme, was es in Deutschland überhaupt nicht gibt, von ständig demütigen, unterdrückten Frauen, Berichterstattung, Schlagzeilen, zugespitzte Fragen bei Talkshows und sowas, also da haben die Medien großen Anteil daran. Und ich denke, wir als Journalisten vor allem sollten uns fragen, ob wir nicht schon negative Unterstellungen eigentlich an unser Untersuchungsobjekt, also an den Islam, wenn wir berichten, herantragen und ständig mit uns führen, und das sollten wir zurückschrauben. Als Mediennutzer wiederum, also als Leserin oder Hörerin sollten wir uns das auch fragen, also wir sollten immer fragen: Was ist eigentlich die Ausgangsunterstellung? Ist da nicht schon eine negative Ausgangsunterstellung drin? Oder: Ist die Frage wirklich offen? Darauf kann man, glaube ich, als kritischer Leser oder Hörerin oder Zuschauerin auch selber achten.
Scholl: Das "Manifest der Vielen" setzt sich am Ende aus 30 Zeilen zusammen, es sind Sätze aus den jeweiligen Aufsätzen der Autoren. "Ich bin hier", lautet der erste Satz, und der zweite: "Ich suche nach etwas Drittem, das in uns allem steckt". Was wäre denn dieses Dritte für Sie, Frau Sezgin?
Sezgin: Ich finde den Satz sehr schön, den der Kollege geschrieben hat, und ja, normalerweise wird man gefragt zum Beispiel: Sind Sie mehr deutsch oder mehr türkisch? Das ist eine Frage, die für mich überhaupt keinen Sinn macht, weil ich erstens mich sowieso jetzt nicht als deutsch oder sowas identifiziere, auch nicht als Türkin oder auch nicht als Muslimin, und weil das auch nicht getrennte Teile sind. Und etwas Drittes würde gar nicht wirklich für was Drittes stehen, sondern einfach für so eine Offenheit, dass man einfach anerkennt: Es ist nicht "entweder oder", es ist nicht das beliebte Motiv, man sitzt zwischen den Stühlen, einem oder zweien, nein. Das ist alles nicht so getrennt, das ist viel flexibler. Dafür steht für mich dieses Dritte.
Scholl: Es ist ein sehr heterogenes und dadurch auch überraschendes Manifest durch diese 30 extrahierten Sätze, und einer heißt auch noch: "Auf diesen Satz habe ich 20 Jahre gewartet", ich weiß jetzt nicht mehr, aus welchem Aufsatz und von wem er stammt, aber was müsste gesagt werden, Frau Sezgin, dass Sie mal diesen Stoßseufzer tun und sagen, auf den Satz habe ich jetzt 20 Jahre gewartet?
Sezgin: Hm, das stimmt eigentlich sogar, also ich habe auch auf diesen Satz irgendwie gewartet, wenn nicht 20 Jahre, er stammt übrigens von Fereshta Ludin, das ist also diese Pionierin, die in den 90er-Jahren als Erste gegen das Kopftuchverbot – sie ist Lehrerin – geklagt hat, und er bezog sich auf den Satz von Christian Wulff: "Der Islam ist auch ein Teil Deutschlands", oder: "Ich bin auch Ihr Präsident". Und das ist ein Satz, das gebe ich schon zu, der hat mich auch zu Tränen gerührt, als Wulff den letzten Oktober gesagt hat. Insofern kann ich in diesem Punkt mitgehen. Was das Manifest angeht: Das ist so ein bisschen so ein Gag, dass wir am Ende dann noch aus jedem Text einen Satz genommen haben. Man hätte auch andere nehmen können, das ist so ein bisschen spielerisch. Ich finde, es sind ganz nette Sätze dabei herausgekommen, aber das sollte man jetzt nicht als großes politisches Programm lesen.
Scholl: Welcher Satz ist Ihrer?
Sezgin: Meiner ist glaube ich: "Wir rücken zusammen", das war eine komische Beobachtung, die ich gemacht habe. Ich habe das schon erzählt, ich habe mich jetzt früher gar nicht so klar verortet, jetzt deutsch so und so, deutsch-muslimisch, deutsch, irgendwas anderes oder so, aber in den letzten Jahren bin ich immer muslimischer geworden. Und ich werde ja immer häufiger als Muslimin angesprochen, muss mich immer häufiger als Muslimin erklären, und habe komischerweise, um da so ein bisschen auch Rückendeckung zu bekommen, immer mehr muslimische Freundinnen und Freunde. Also, ich habe jetzt in meinem Bekannten- und Freundeskreis so viele Musliminnen und Muslime, das habe ich früher gar nicht gehabt. Das kommt irgendwie dadurch, dass man Leute sucht, die es auch ein bisschen ähnlich so sehen wie man selber, die auch aufseufzen, wenn der "Spiegel" wieder irgendwie so ein Schwert über einer verschleierten Frau auf die Titelseite gehoben hat, dann leidet man so ein bisschen und man weiß, so andere, die so ähnlich ticken, die sehen es auch so. Ja, das meine ich: Wir rücken näher zusammen. Es ist ein Phänomen, das durch Ausgrenzung seitens der Mehrheitsgesellschaft und auch der Medienlandschaft dann in Gang gesetzt wird.
Scholl: 30 deutsche Intellektuelle mit internationalem Hintergrund, sie haben ein "Manifest der Vielen" veröffentlicht, "Deutschland erfindet sich neu". Hilal Sezgin gehört dazu, sie hat den Band herausgegeben, im Blumenbar Verlag erscheint er heute, mit 224 Seiten zum Preis von 12,90 Euro. Frau Sezgin, viel Erfolg wünschen wir Ihnen mit dieser Schrift, und herzlichen Dank für das Gespräch!
Sezgin: Danke sehr!