Film über Reemtsma-Entführung

Schicksalsgemeinschaft wider Willen

10:39 Minuten
Abendliches Stimmungsbild von einer Mutter, die ihren Sohn auf einer Wiese tröstend umarmt.
Eine Absage an spekulative True-Crime-Formate: "Wir sind dann wohl die Angehörigen" von Hans-Christian Schmid. © Pandora Film
Hans-Christian Schmid im Gespräch mit Patrick Wellinski |
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1996 wird der Hamburger Mäzen Jan Philipp Reemtsma entführt. Sein damals 13 Jahre alter Sohn hat dieses Trauma in einem Buch verarbeitet. Jetzt hat Hans-Christian Schmid das Buch verfilmt: Ihn reizte die besondere Perspektive auf den Fall.
1996 wird Jan Philipp Reemtsma entführt. Er wird 33 Tage festgehalten und nach der Zahlung eines Lösegelds in Millionenhöhe wieder freigelassen. Viele kennen die Geschichte: Der Hamburger Mäzen und Sozialforscher hat sie in seinem Buch „Im Keller“ beschrieben.
Die Geschichte seines Sohnes ist hingegen weniger bekannt: Johann Scheerer war damals 13 Jahre alt. Die Entführung seines Vaters stürzte ihn in eine tiefe Krise. Diese Erfahrung hat er in seinem Buch „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ verarbeitet. Jetzt kommt dessen Verfilmung in die Kinos. Wir haben mit Regisseur Hans-Christian Schmid gesprochen.

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Patrick Wellinski: Herr Schmid, was hat Sie an dieser Familiengeschichte gereizt?
Hans Christian Schmid: Es war einfach die ungewöhnliche Perspektive: Der Blick auf eine Entführung aus der Sicht des 13-jährigen Sohnes des Entführten. Sicher hätte man die Geschichte auch anders erzählen können. Es gibt ja auch ein Buch von Jan Philipp Reemtsma, in dem er seine Perspektive schildert. Aber ich fand gerade diesen Aspekt sehr spannend: dass da ein Kind miterlebt, was da passiert, und dass wir bei den Familienangehörigen sind, die man erst in zweiter Linie mit dem Begriff Entführungsopfer verbinden würde.

Alleine mit der Belastung

Wellinski: Was prägt diese Perspektive des Kindes? Ich erinnere mich, dass in dem Buch an einer Stelle steht, dass Vater Reemtsma zu seinem Sohn sagt: „Jeder bleibt mit seiner Geschichte allein.“ Ich hatte beim Ansehen des Films das Gefühl, das dieser Junge ab einem gewissen Moment sehr einsam ist.
Schmid: Ich glaube, Johann war sehr einsam in dieser Zeit, weil es niemanden gab, mit dem er seine Ängste und Gedanken teilen konnte. Am ehesten sicherlich noch mit seiner Mutter, die aber natürlich auch stark beansprucht war von all dem, was passiert. Ähnlich wie im Buch gibt es ja auch im Film Leute im Haus, die Betreuer der Polizei, den Freund aus Frankfurt. Aber letztlich kann ihm niemand so richtig helfen. Und ich glaube, was belastend hinzukommt, ist, dass er nicht von sich aus die Möglichkeit hat zu agieren, dass er im Grunde zur Beobachterrolle verdammt ist. Da geht dann eben sein Gedankenstrom los, was alles sein könnte mit seinem Vater und ob er ihn jemals wiedersieht.
Wellinski: Das ist ja ein Junge mit vielen Freunden. Er spielt in einer Band, liebt Gitarrenmusik. Das ist ein wichtiger Punkt in seinem Leben. Sie fangen das wunderbar ein und es tut einem ja selber fast schon körperlich weh, wenn man sieht, wie ihm das durch diese Tat plötzlich so entrissen wird. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass diese Leidenschaft zur Musik etwas ist, was diesem Jungen zumindest in der Filmfigur, wie Sie sie erzählen, einen Ankerpunkt bietet, vielleicht etwas, was ihm auch durch diese Zeit aus sich heraus hilft?
Schmid: Ja, das ist in Johanns Leben auch wichtig geblieben. Er ist ja Musikproduzent in Hamburg. Und ich glaube auch, dass die Musik ihm am ehesten helfen konnte - ein großes Wort, aber das ist ja auch der Versuch, ihn mit dieser Gitarre über den momentanen Verlust des Vaters hinweg zu trösten. Was natürlich auch nicht richtig funktionieren kann. Ich glaube, es ist, wenn überhaupt, dann die Möglichkeit für eine kleine Flucht zwischendurch, ähnlich vielleicht wie die Videos, die er manchmal aus der Videothek des Vaters sieht.

Ausharren in der Ungewissheit

Wellinski: In dem Moment, als die Familie von der Entführung entfährt, ist es ja so, dass die Polizei im Haus mit einzieht. Da hatte ich das Gefühl: Eigentlich sind es zwei Entführungen. Zum einen ist der Vater weg, zum anderen wird auch die Familie in so eine Art Lockdown geschickt. Die Post wird abgefangen, das Telefon wird abgehört. Sie sind quasi fremdbestimmt.
Schmid: Ja, das spielte eine wichtige Rolle, dass von heute auf morgen in dem Haus eine Schicksalsgemeinschaft zueinander finden musste, dass die Polizei die Regeln definiert hat. Wir drehten ja während der Coronazeit, da herrschte in Hamburg Ausgangssperre - natürlich haben wir das miteinander assoziiert. Gleichzeitig war es nicht untersagt, das Haus zu verlassen. Es war nur immer die Polizei dabei und man war natürlich besonders vorsichtig.
Porträtaufnahme von Hans-Christian Schmid, der ernst in die Kamera blickt.
Der Regisseur Hans-Christian Schmid.© Pandora Filmverleih / Gerald von Foris
Wir zeigen im Film ja auch keine polizeilichen Ermittlungen. Das heißt, es bleibt ein wenig im Unklaren, was sich auf der Straße vor dem Haus eigentlich abspielt. Stehen da Polizisten in Zivil und gucken? Stehen da vielleicht aber auch Entführer und gucken, ob nicht Polizei im Haus ist? Ich glaube, das alles hat die Situation so ungewiss gemacht.
Was ich auch interessant finde: Johann hat gesagt, er habe sich dort immer auf eine Art geborgen gefühlt. Ich glaube, das liegt an dieser merkwürdigen Gemeinschaft. Er hat ja auch mal versucht, in die Schule zu gehen. Aber ich denke, dort war die Kluft zwischen dem, was ihn beschäftigt, und dem, was die anderen beschäftigt, schon zu groß, sodass er immer wieder schnell zurück ins Haus ging.

Absage ans True-Crime-Format

Wellinski: Weil es wahrscheinlich das Schicksal ist, das einen stärker verbindet, selbst den Anwalt der Familie, der dann zu einer Bezugsperson wird. Wenn wir jetzt so über den Film sprechen - Polizei, Entführung, Fahndung, Lösegeld -, hat man vielleicht im ersten Moment eine klassische Dramaturgie im Kopf, mit Musik und Parallelmontagen. Die Entführung selbst ist aber gar nicht im Bild präsent. Wie schwer fiel es Ihnen, auf diese verführerischen dramaturgischen Mittel dann vielleicht auch zu verzichten?
Schmid: Das fiel mir gar nicht so schwer. Diese Entscheidung fällt ja schon in der Drehbuchentwicklung, und wir sind so sehr von True-Crime-Formaten und -Krimis umgeben, dass wir gesagt haben: Wenn wir diese Geschichte erzählen, dann auf keinen Fall so. Das stand wirklich unter dem Vorzeichen eines Anti-Thrillers. Aber ich finde, gleichzeitig ist da schon ein ziemlich deutlicher Spannungsbogen. Ich merke, dass es ausreicht, wenn man sich auf die zwischenmenschliche Dynamik, auf die Anrufe der Täter und was die auslösen, konzentriert. Man muss nicht immer noch zum nächstgrößeren Suspense greifen oder mit der Kamera noch irgendwie über die Elbe fliegen.

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Wellinski: Trotzdem ist der Film sehr effektiv, meiner Meinung auch, weil Sie hier interessanterweise wie schon in anderen Filmen eine Schmid'sche Familienaufstellung leisten. Diese Familie Reemtsma-Scheerer wirkt von außen schon seltsam, das wird auch häufiger angesprochen, etwa von den Ermittlern: Warum wohnt der Vater denn in einem Haus gegenüber? Man kriegt immer gespiegelt: Was seid ihr eigentlich für eine Familie? Was ist das eigentlich für eine Familie?
Schmid: Die Mitglieder der Familie, die ich kennengelernt habe, gehen meines Erachtens überhaupt nicht mit ihrem Reichtum hausieren. Das ist ja auch die Ironie des Schicksals, dass in dem Haushalt auf Sicherheitsvorkehrungen überhaupt kein Wert gelegt wurde. Dort gibt es eine große Freiheitsliebe, eine Liebe zu Büchern. Johanns Vater ist ja auch nicht jemand, der sich ein zweites Haus leistet, um sich mit Luxusgütern zu umgeben. Er hat da seine Bücher drinstehen. Das fand ich etwas Besonderes.

Manche Panne war gewollt

Wellinski: Eine weitere wichtige Rolle nehmen die Polizisten ein, die erzwungen irgendwann auch Teil dieser Familie werden. Wie die Polizei ermittelte, stand damals in der Kritik, und nach der Sichtung des Films hatte auch ich ehrlich gesagt den Eindruck, dass die nicht so richtig gut wegkommen. Wie wichtig war es Ihnen, auch das zu zeigen, also diese Grenzen, auf die diese Ermittler stoßen?
Schmid: Das war ganz wichtig im Film. Es ist eine andere Ebene als in Johanns Buch, der als 13-Jähriger vieles von dem, was da geschah, gar nicht mitbekommen konnte. Daher haben wir uns auch für den Film entschieden, Johanns Perspektive zumindest zeitweise zu verlassen. Dann begleiten wir seine Mutter und den Anwalt auf einer Lösegeldfahrt und zeigen auch die Konsequenzen dieser verspäteten Lösegeldfahrt. In Johanns Buch wirkt das auf mich meist wie eine Aneinanderreihung von Pannen, die der Polizei unterlaufen.
An einem Wohnzimmertisch sitzen Familie und Polizeiermittler beisammen und besprechen die Lage.
Szene aus dem Film "Wir sind dann wohl die Angehörigen": Die Polizei wird Teil der Familie und ihres Alltags.© Pandora Film
Tatsächlich war das aber zum Teil so gewollt. Man wollte die Geldboten später losschicken, um dort die eigenen Kräfte schon positionieren zu können. Das wurde nicht kommuniziert. Man ließ die Familie darüber im Ungewissen, was letztlich ja auch dazu geführt hat, dass die Polizei das Haus verlassen musste. Ich hätte es schade gefunden, wenn ich all das in einem Kinofilm nicht miterzählen hätte können und auf diese Lösegeldüberfahrten, auch die zweite nach Luxemburg, verzichtet hätte. Wobei ich unterscheide zwischen den Betreuern im Haus, die Johann, glaube ich, ins Herz geschlossen hat. Die hatten einen wirklich schwierigen Job zu erfüllen: einerseits das Vertrauen zu gewinnen, dafür zu sorgen, dass sie im Haus übernachten durften und wie willkommene Gäste mitessen, mitkochen, mit „Harald Schmidt“ gucken durften, und zum anderen mussten sie den Angehörigen immer die Entscheidungen der Einsatzleitung vermitteln, die oft nicht nachvollziehbar waren.

Erinnerungen an "Dagobert" und Gladbeck

Wellinski: Es gibt einen Moment, in dem einer sagt, dass er schon bei der "Dagobert"-Erpressergeschichte dabei war, die ja wirklich eine Folge von unglaublichen Pannen war. Ich hatte den Eindruck, dass der Film in dem Moment einen Marker setzt, dass diese Pannen quasi schon vorweggenommen werden. Vielleicht hat man noch nicht so weit gelernt aus dem Fall Dagobert, der auch gar nicht so lange zurückliegt, als der Fall Reemtsma geschah.
Schmid: Ja, Dagobert war gerade eben passiert, auch das Geiseldrama von Gladbeck lag nicht lange zurück. Ich glaube, das Geiseldrama von Gladbeck hat dazu geführt, dass die Vereinbarung mit der Presse eingehalten werden konnte und man sich bis zum Ende der Entführung an dieses Stillschweigen gehalten. Aber ich glaube, trotz der Pannen im Fall Dagobert - Schwenn deutet ja süffisant an, „da ist mein Kollege auf einer Bananenschale ausgerutscht“ - hat dessen Festnahme letztlich das Selbstbewusstsein der Hamburger Polizei sehr gestärkt. Ich glaube, man hielt sich schon für sehr, sehr fähig und hatte da auch einen gewissen Stolz. Wohl auch deswegen war der Ehrgeiz so groß, auch in diesem Fall die Täter zu fassen.
"Wir sind dann wohl die Angehörigen", ab 3. November 2022 im Kino.
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