"Wir sind hier, weil wir provozieren"
Kunst und Leben in eins zu setzen – dieses idealistische Prinzip verkörpert das Duo Gilbert & George seit über 40 Jahren. Jetzt sind die beiden Exzentriker mit einer spektakulären Ausstellung in den Hamburger Deichtorhallen zu Gast.
Der Union Jack ist allgegenwärtig in dieser bislang umfangreichsten Serie von Gilbert & George: die tragen auf ihren Bildern sogar Anzüge in den blau-weiß-roten Farben, selbst eine fotografierte Straßenkreuzung kann kraft digitaler Bearbeitung von dem Union Jack bedeckt sein. Mehr als poppiges Bilddekor ist er allemal - wofür aber steht er genau: für nationalen Stolz oder eher für Hybris? Gilbert:
"Wir glauben mehr und mehr, dass er die Frage der Zugehörigkeit aufgreift. Als unsere toten Soldaten aus Afghanistan zurückgebracht wurden, lag der Union Jack auf den Särgen."
Und diese Szenen von der Überführung habe das Fernsehen nicht gezeigt, fügt George fassungslos hinzu - und läßt erkennen, dass mit der neuen Serie ein konkretes Anliegen verknüpft ist:
"Wir werden in der Lage sein, den Union Jack als Symbol von zwei Gruppen zurückzuerobern, die ihn stehlen wollten. Die eine Gruppe ist die extreme Rechte, Nationalisten, die der Überzeugung sind, dies sei ihre Fahne. Und die andere, das ist die Intelligenz, die den Union Jack für etwas ganz Böses hält, für ein Zeichen des Imperialismus. Wir möchten ihn von beiden Gruppen als Teil des Lebens zurückhaben. Und er ist natürlich auch eine touristische Attraktion, populär
bei jungen Leuten, woher die auch nach London kommen, ob aus Argentinien oder Frankreich."
Nun ist hier aber von "Jack Freak Pictures” die Rede, und dieses Wörtchen "Freak” sollte man ernst nehmen, denn der Besucher wohnt in Hamburg einer grellbunten Monstershow bei. Hatten die Londoner Künstler, die auf ihren Bildern nach wie vor ihre eigenen Darsteller sind, früher schon keine Scheu vor verrückten Posen und entstellten Mienen, so wird die Steigerung ins Monströse nun noch einmal vorangetrieben, der Computer macht es möglich. Oft schweben die Köpfe der beiden wie Relikte eines Experiments über die Bildfläche, als Kugeln oder zusammen gequetschte Formen, die nur noch vergrößerte Augen aufweisen. Oder gleich mehrere Köpfe sind zusammengewachsen - oder sie verfügen über einen Mund oben und einen unten, zur Abwechslung auch mal über mehrere Augenpaare. Hereinspaziert zur Show der Freaks!
Der Variantenreichtum der "Jack Freak Pictures” ist ein kleines visuelles Wunder. Denn die abstrusen Figuren und der Union Jack werden mit immer neuen Bildelementen kombiniert: auch mit traditionellen Vereinsmedaillen, die man Sportlern verleiht, mit Landschaften oder mit Stadtplänen und Straßennamen, wie sie bei den urbanen Briten häufiger auftauchen. Und manches Werk erinnert allein schon wegen seiner Leuchtkraft an alte Kirchenfenster. Wobei sich religiöse Anspielungen in Grenzen halten. Eine Jesus-Figur kann zwar mal mit dem Union Jack in Berührung kommen, aber da hat es doch schon ganz andere Provokationen im Ouevre der akkurat gekleideten Herren gegeben: Exkremente zum Beispiel, die ein Kruzifix formen. Und ein Schock sollten früher wohl auch die gern ausgestellten sexuellen Vorlieben sein.
Hier ist es das monströse Menschenbild im ganzen, das Manchen beunruhigen wird. Momente des Amüsements und des Unbehagens wechseln einander ab. Man könnte die Freaks verstehen als Warnung vor einer aus den Fugen geratenen Gesellschaft, einer modernen Welt, die immer wieder ins Grauen umzuschlagen droht:
George: "Wir selber sind Kinder des Krieges, und es war damals klar, daß das Leben besser werden musste. Dann kamen die Sechziger und bescherten uns mit Sex und ungewohnter Musik ein ganz neues Leben. Aber jetzt gibt es Kräfte in der Welt, die die Uhr zurückdrehen möchten."
Gilbert: " Hauptsächlich mithilfe der Religion, nicht durch den Union Jack. Und diese Gruppen sind wirklich gefährlich, denn sie möchten uns in etwas verwandeln, was wir nicht sind. Sie wollen uns unsere Freiheit nehmen, für die wir viele Jahre lang gekämpft haben."
Mehr als vierzig Jahre an künstlerischer Produktivität liegen jetzt hinter den beiden Gentlemen. Als lebende Skulpturen begannen sie, zeichneten und fotografierten Szenen in ihrem Viertel und hängten zunächst nur Einzelfotos an die Wände - bis ihre Motive eines Tages zu großen, bunten Collagen zusammenwuchsen. Die gelten heute als eine Art Vorgeschichte des neuen Zeitalters, denn die digitale Welt hat ihr visuelles Repertoire erheblich erweitert. Wobei die ständige Effektsuche und das "Alles ist möglich!" sicher auch Gefahren bergen, vielleicht markieren die beeindruckenden "Jack Freak Pictures” schon eine Grenze zum ästhetischen Overkill:
Gilbert: "Man muß beachtet werden. Eine Kunst, die nicht wahrgenommen wird, sich nicht von anderer unterscheidet und keine Gedanken provoziert, ist vollkommen bedeutungslos. Man würde uns dann auch nicht ausstellen, wir wären gar nicht hier. Wir sind hier, weil wir provozieren. Und sind davon überzeugt, dass die Kreativität dazu da ist, die Moral der Welt zu verändern. Wir selber sind Teil dieser Entwicklung. Nicht die Geistlichen, nicht einmal die Politiker – die kreativen Menschen sind es, die eine andere Zukunft wollen."
Ihre Produktivität ist ungebrochen, eine ganz andere Serie mit mehr als 200 London-Bildern ist längst in Arbeit, und George liest von einem Zettel die Titel der nächsten 20 oder 30 Bildprojekte vor. Kaum etwas verstimmt die Künstler mehr, als ständig unterwegs sein zu müssen, statt zu Hause dem geregelten Tagesablauf nachgehen und den Bilderstrom umsetzen zu können.
Ein Schauplatz wie die große Deichtorhalle, wo die 119 "Freak” - Bilder zu einer massierten Wirkung zusammenfinden, den Ort unter Strom setzen, entschädigt sie allerdings für all die Reisestrapazen. Dieser Ausstellungsraum sei wie geschaffen für ihr Werk, sagen sie und wirken zu Recht zufrieden.
"Wir glauben mehr und mehr, dass er die Frage der Zugehörigkeit aufgreift. Als unsere toten Soldaten aus Afghanistan zurückgebracht wurden, lag der Union Jack auf den Särgen."
Und diese Szenen von der Überführung habe das Fernsehen nicht gezeigt, fügt George fassungslos hinzu - und läßt erkennen, dass mit der neuen Serie ein konkretes Anliegen verknüpft ist:
"Wir werden in der Lage sein, den Union Jack als Symbol von zwei Gruppen zurückzuerobern, die ihn stehlen wollten. Die eine Gruppe ist die extreme Rechte, Nationalisten, die der Überzeugung sind, dies sei ihre Fahne. Und die andere, das ist die Intelligenz, die den Union Jack für etwas ganz Böses hält, für ein Zeichen des Imperialismus. Wir möchten ihn von beiden Gruppen als Teil des Lebens zurückhaben. Und er ist natürlich auch eine touristische Attraktion, populär
bei jungen Leuten, woher die auch nach London kommen, ob aus Argentinien oder Frankreich."
Nun ist hier aber von "Jack Freak Pictures” die Rede, und dieses Wörtchen "Freak” sollte man ernst nehmen, denn der Besucher wohnt in Hamburg einer grellbunten Monstershow bei. Hatten die Londoner Künstler, die auf ihren Bildern nach wie vor ihre eigenen Darsteller sind, früher schon keine Scheu vor verrückten Posen und entstellten Mienen, so wird die Steigerung ins Monströse nun noch einmal vorangetrieben, der Computer macht es möglich. Oft schweben die Köpfe der beiden wie Relikte eines Experiments über die Bildfläche, als Kugeln oder zusammen gequetschte Formen, die nur noch vergrößerte Augen aufweisen. Oder gleich mehrere Köpfe sind zusammengewachsen - oder sie verfügen über einen Mund oben und einen unten, zur Abwechslung auch mal über mehrere Augenpaare. Hereinspaziert zur Show der Freaks!
Der Variantenreichtum der "Jack Freak Pictures” ist ein kleines visuelles Wunder. Denn die abstrusen Figuren und der Union Jack werden mit immer neuen Bildelementen kombiniert: auch mit traditionellen Vereinsmedaillen, die man Sportlern verleiht, mit Landschaften oder mit Stadtplänen und Straßennamen, wie sie bei den urbanen Briten häufiger auftauchen. Und manches Werk erinnert allein schon wegen seiner Leuchtkraft an alte Kirchenfenster. Wobei sich religiöse Anspielungen in Grenzen halten. Eine Jesus-Figur kann zwar mal mit dem Union Jack in Berührung kommen, aber da hat es doch schon ganz andere Provokationen im Ouevre der akkurat gekleideten Herren gegeben: Exkremente zum Beispiel, die ein Kruzifix formen. Und ein Schock sollten früher wohl auch die gern ausgestellten sexuellen Vorlieben sein.
Hier ist es das monströse Menschenbild im ganzen, das Manchen beunruhigen wird. Momente des Amüsements und des Unbehagens wechseln einander ab. Man könnte die Freaks verstehen als Warnung vor einer aus den Fugen geratenen Gesellschaft, einer modernen Welt, die immer wieder ins Grauen umzuschlagen droht:
George: "Wir selber sind Kinder des Krieges, und es war damals klar, daß das Leben besser werden musste. Dann kamen die Sechziger und bescherten uns mit Sex und ungewohnter Musik ein ganz neues Leben. Aber jetzt gibt es Kräfte in der Welt, die die Uhr zurückdrehen möchten."
Gilbert: " Hauptsächlich mithilfe der Religion, nicht durch den Union Jack. Und diese Gruppen sind wirklich gefährlich, denn sie möchten uns in etwas verwandeln, was wir nicht sind. Sie wollen uns unsere Freiheit nehmen, für die wir viele Jahre lang gekämpft haben."
Mehr als vierzig Jahre an künstlerischer Produktivität liegen jetzt hinter den beiden Gentlemen. Als lebende Skulpturen begannen sie, zeichneten und fotografierten Szenen in ihrem Viertel und hängten zunächst nur Einzelfotos an die Wände - bis ihre Motive eines Tages zu großen, bunten Collagen zusammenwuchsen. Die gelten heute als eine Art Vorgeschichte des neuen Zeitalters, denn die digitale Welt hat ihr visuelles Repertoire erheblich erweitert. Wobei die ständige Effektsuche und das "Alles ist möglich!" sicher auch Gefahren bergen, vielleicht markieren die beeindruckenden "Jack Freak Pictures” schon eine Grenze zum ästhetischen Overkill:
Gilbert: "Man muß beachtet werden. Eine Kunst, die nicht wahrgenommen wird, sich nicht von anderer unterscheidet und keine Gedanken provoziert, ist vollkommen bedeutungslos. Man würde uns dann auch nicht ausstellen, wir wären gar nicht hier. Wir sind hier, weil wir provozieren. Und sind davon überzeugt, dass die Kreativität dazu da ist, die Moral der Welt zu verändern. Wir selber sind Teil dieser Entwicklung. Nicht die Geistlichen, nicht einmal die Politiker – die kreativen Menschen sind es, die eine andere Zukunft wollen."
Ihre Produktivität ist ungebrochen, eine ganz andere Serie mit mehr als 200 London-Bildern ist längst in Arbeit, und George liest von einem Zettel die Titel der nächsten 20 oder 30 Bildprojekte vor. Kaum etwas verstimmt die Künstler mehr, als ständig unterwegs sein zu müssen, statt zu Hause dem geregelten Tagesablauf nachgehen und den Bilderstrom umsetzen zu können.
Ein Schauplatz wie die große Deichtorhalle, wo die 119 "Freak” - Bilder zu einer massierten Wirkung zusammenfinden, den Ort unter Strom setzen, entschädigt sie allerdings für all die Reisestrapazen. Dieser Ausstellungsraum sei wie geschaffen für ihr Werk, sagen sie und wirken zu Recht zufrieden.