"Wir sind im Krieg"
Es ist eine unheilige Allianz: Der Kreml gewährt Russlands Klerus umfassende Privilegien, der wiederum zeigt sich dafür äußerst dankbar. Während Präsident Putin die wiedergeborene Orthodoxie zum Staatsideologieersatz aufbaut, machen sich in der Kirche fundamentalistische Haltungen breit.
"Orthodoxie oder Tod!" steht auf den Hemden, die ein Dutzend kräftiger junger Männer tragen. Sie mischen eine kleine regimekritische Demonstration auf. Der Einsatzleiter der Polizei grinst, als die Männer mit ihrem Gebetsgesang den Protest übertönen.
Alle Gegendemonstranten tragen Schwarz. Schwarze Stiefel, schwarze Hosen, schwarze Kappen mit weißen Runen und Hakenkreuzen. Christliche Kreuze haben sie auch dabei, sie halten sie mit beiden Händen hoch. Die "Gemeinschaft Orthodoxer Bannerträger" führt einen, wie sie sagen:
"'Heiligen Krieg" für die "Verbreitung des orthodoxen Glaubens, der Wiederherstellung der Autokratie, der Wiedergeburt des russischen Nationalbewusstseins und Reichspatriotismus."
Seit zwei Jahrzehnten agiert die Gruppierung am äußeren Rand der russischen Orthodoxie. Heute, seit der Kreml verstärkt auf Nationalpatriotismus und Autokratie setzt, scheint ihre Stunde gekommen.
Die Bannerträger greifen die Demonstranten an, zuerst verbal.
"Stehenbleiben! Maul halten, sonst wirst du dafür bezahlen!"
"Ihr seid orthodoxe Faschisten", rufen Demonstrantinnen. Und: "Faschismus kommt nicht durch!"
"Sodomie kommt nicht durch!", antworten die Bannerträger mit ihrem beliebten Kampfruf. Wenn es nach ihnen geht, soll es den Protestlern so ergehen wie den angeblich homosexuellen Einwohnern von biblischem Sodom: Sie sollen ausgerottet werden. "Schwuchteln!", beschimpfen die Bannerträger ihre Gegner, deren Einstellung und Lebensstil sie als Perversion abtun. Der Polizisten schauen demonstrativ weg, als ein Schwarzgekleideter einer Frau seine Faust vors Gesicht hält:
"Wir werden euch moralisch vernichten, kaltmachen, erwürgen! Ja, wir werden genau das mit euch tun!"
Erst jetzt geht die Polizei dazwischen. Die Bannerträger drohen auf ihrer Webseite mit Pogromen gegen jüdische Gottesfeinde. Sie verprügeln Andersdenkende, vorzugweise Frauen. Sie zeigen verbrannte Porträts der Sängerin Madonna oder mit einem angespitzten Pfahl durchstochene Bilder aus einem erotischen Schwulenmagazin.
Heute, wo Putins Macht infrage gestellt wird, bekommen die orthodoxen Schläger zunehmend Unterstützung der weltlichen und kirchlichen Obrigkeit. Der Moskauer Priester Alexey Uminskiy ist einer der wenigen Kleriker, die daran öffentliche Kritik wagen:
"Sind sie denn nicht, mit Verlaub, eine völlige Absurdität? Wir sollten diese absurden Erscheinungen beim Namen nennen. Müssen wir etwa akzeptieren, dass wir derartige Bannerträger bei uns in der Kirche haben, die sich als Christen bezeichnen? Ist das denn noch Kirche? Oder ist das ein Wahnwitz?"
In der russisch-orthodoxen Kirche gibt es nur eine Handvoll Kirchengemeinden, die als liberal gelten. Alexey Uminskiys Pfarrbezirk liegt im Zentrum Moskaus. In seine Kirche kommen überdurchschnittlich viele Akademiker. Abgesehen davon wirken die Betenden beim Sonntagsgottesdienst wie in jeder anderen der 17 Tausend Kirchen Russlands auch: viele ältere Frauen, Familien mit Kindern, bärtige Männer und junge Pärchen. Vater Alexey im weiß-goldenen Gewand zelebriert den Gottesdienst. Mit seinem langen grauen Haar und ungewöhnlich kurz gestutzten Bart wirkt er wie ein mittelalterlicher Gelehrter.
"In Russland ist es meistens so: Du hörst ein Väterchen irgendwas sagen, und meistens ist das einfach zum Weglaufen. Unser Priester ist hingegen ein wirklich scharfsinniger Mensch."
Sergey Akhunov ist seit fünf Jahren Mitglied in Uminskiys Gemeinde. In seiner Jugend war der etwas wortkarge Mittvierziger ein politischer Rocker. Auch später, als Christ, verlor er nicht seinen kritischen Geist.
"Russlands Unglück begann lange vor Putin. Putin begünstigt ein System, das bereits da war: Das System der Obrigkeitshörigkeit, bei dem beispielsweise einem Richter der Wunsch seiner Chefs wichtiger ist als das Gesetz. Dieses System frisst uns alle auf. Aber auch in unserer Gemeinde gibt es natürlich Leute, die glauben, dass in diesem Land nichts Schlimmes geschieht, dass Putin alles richtig macht. Aber auf wundersame Weise geben wir uns trotzdem die Hand. Es gibt Wichtigeres, was uns verbindet."
Nach dem Sonntagsgottesdienst versammeln sich die Gläubigen zu Gespräch und Essen im Gemeinderaum. Etwa fünfzig Leute trinken Tee, essen Rote-Bete-Salat mit Buchweizenbrei und diskutieren über die Stellung der Frau in der Bibel. Adams Rippe, aus der die erste Frau geschaffen würde, sei kein Knochen, sagt ein junger Vikar. Ja, stimmt ihm Uminskiy zu, die Frau sei kein Stück Knochen.
"Knochen oder Rippe - dieses Wort steht in der Bibel eigentlich für 'Seite' oder 'Hälfte'. Ähnlich wie das französische Wort 'Côte' außer Rippe noch Ufer bedeutet. Zum Beispiel Côte d'Azur, Ihr wisst schon."
Erklärt Uminskiy, der acht Jahre als Französischlehrer gearbeitet hatte, bevor er Priester wurde. Seine Gemeindemitglieder sind zwar keine mittelosen Menschen, aber die Französische Riviera kennen die meisten nur aus Filmen. Moskauer, die dort ihren Urlaub verbringen, gehen in andere Kirchen.
Unter den hier Versammelten ist keine Frauenstimme zu hören, obwohl sie mehr als die Hälfte der Versammelten ausmachen. Manchmal stellen sie Fragen, aber die Antworten kommen von den Klerikern der Gemeinde, einer von ihnen Theologieprofessor.
In der Frage der Geschlechtergerechtigkeit, mit der sich viele christliche Kirchen bis heute schwer tun, ist die russische Orthodoxie ähnlich konservativ wie die katholische Kirche. Frauen sind vom Priesteramt ausgeschlossen, aber Pfarrer dürfen heiraten. Der Schwangerschaftsabbruch gilt ebenfalls als Sünde, wird aber gebilligt, wenn das Leben der Mutter bedroht ist. Empfängnisverhütung wird generell verurteilt, doch innerhalb einer Familie akzeptiert. Gleichgeschlechtliche Beziehungen lehnt die russische Kirche jedoch noch vehementer ab als der Vatikan. Die Kirchenspitze verweigert Menschen anderer sexueller Orientierung volle Bürgerrechte, und sie distanziert sich nicht von den homophoben Gewalttätern aus der "Gemeinschaft Orthodoxer Bannerträger".
Auch der russische Nationalismus, den die Bannerträger auf ihre Fahnen schreiben, findet in der Kirche Verfechter. Sogar manche Kleriker hegen Großmachtfantasien, sagt Alexey Uminskiy.
"Äußere Formen des kirchlichen Lebens werden wichtig - die Nationale Idee, der Patriotismus, das mächtige Reich. Mit Christus zu leben ist unbequem, also treten diese Äußerlichkeiten jetzt in den Vordergrund. Man glaubt sogar, sie sind so wichtig, dass man sein Leben für sie opfern kann. In Wahrheit aber trennen uns diese Vorstellungen nur. Einer denkt so und der andere ganz anderes, aber Christus ist für alle da. Er vereinigt die Rechten und die Linken, Menschen unterschiedlicher Hautfarbe und politischer Gesinnung. Unter unseren Heiligen haben wir Monarchisten, und wir haben heilige Anarchisten."
Bis heute hat sich das Gros der russischen Gläubigen aus den politischen Kämpfen rausgehalten. Die Kirchenspitze rückt aber politisch verstärkt nach rechts. So rügte der offizielle Sprecher des Patriarchen Wsewolod Chaplin den liberalern Alexey Uminskiy mit scharfen Worten:
"Vater Alexey Uminskiy erlaubt sich, die Bannerträger als Antisemiten zu beschimpfen. Aber diese Organisation ist von der Kirche offiziell akzeptiert. Sie wird nach dem Segen des Heiligen Patriarchen Kyrill in der Liste des Rates orthodoxer Gesellschaften geführt. Wir sind im Krieg, und unsere Vorhut wird als antisemitisch beschimpft. So eine Schande!"
Berührungsängste mit dem Antisemitismus hat die russisch-orthodoxe Kirche nicht. Eine ihrer Heiligenfiguren ist das Opfer eines vermeintlichen Ritualmordes durch Juden im 17. Jahrhundert. Sein katholisches Pendant wurde noch 1965 aus dem offiziellen Märtyrerkalender gestrichen. Patriarch Kyrill dagegen "verbeugte sich", wie es in der offiziellen Mitteilung über seinen Besuch des Heiligengrabes stand, "vor der heiligen Gebeinen des Märtyrers", der "von einem Juden entführt und bestialisch ermordet" wurde.
Im Mittelalter ließen sich Priester oft mit Naturalien bezahlen. Für Alexey Uminskiy, der von seinem Pfarrergehalt lebt und sich einen Mittelklasse-Toyota leisten kann, sind solche Mitbringsel nicht mehr als nostalgische Erinnerungen an goldene alte Zeiten, als die Kirche arm und eigenständig war. Denn in späteren Jahrhunderten hatten die Zaren sie nach und nach verstaatlicht, bis Peter der Große die Kirche zu einem Quasi-Ministerium für Staatsreligion machte. Statt des Patriarchen stand nun ein Zarenbeamter, ein Oberprokurator, der Kirche vor.
"Die russische Kirche hat eine drückende Erfahrung hinter sich. Jahrhundertelang war sie Werkzeug des Staates. Unter Peter dem Großen verlor sie ihre Eigenständigkeit und ihren Patriarchen. Dann folgten die furchtbaren Repressionen der Sowjetmacht. Die Geschichte lehrt uns, dass sich die Kirche vom Staat fernhalten sollte."
Als die Bolschewiki den Zarenstaat zerstörten, gingen sie auch gegen die Kirche vor, die ideologische Stütze des alten Regimes. Nach der Machtübernahme wurden Tausende Priester ermordet. Später wurden Geistliche zur Zusammenarbeit mit der Partei gezwungen. Der KGB führte höhere Kleriker als Informanten oder ließ KGB-Agenten in hohe Kirchenämter einsetzen. Bis heute will sich die Kirche davon nicht öffentlich davon distanzieren. Sie versucht nicht einmal die Anschuldigung zu widerlegen, Patriarch Kyrill habe ebenfalls für die Staatssicherheit gearbeitet und den Agentennamen "Michailow" getragen. Stattdessen lässt sich die Kirche erneut in den Dienst des Kremls nehmen.
"Es breitet sich diese Einstellung aus: Endlich, endlich hört der Staat auf, die Kirche zu verfolgen. Der Staat eröffnet der Kirche so viele Möglichkeiten. Also geht es doch nicht, dass wir diesem Staat nicht danken."
Laut russischem Grundgesetz sind Staat und Kirche getrennt, dennoch geht die Einbindung der Kirche in Staat und Gesellschaft rasant voran. Präsident Putin betont immer wieder, dass es in Russland zwar viele Völker und Konfessionen gibt, dass aber die meisten Bürger russisch-orthodox sind. Ob das stimmt, ist das Grunddilemma der Kirchenpolitik, sagt Alexey Uminskiy.
Entweder müssen wir einsehen, dass wir nur wenige sind. Das würde aber heißen, dass unsere Gesellschaft nicht hauptsächlich christlich ist. Dass wir unseren jetzigen Diskurs ändern müssen, und uns nur mit uns selbst beschäftigen. Aber das können wir gerade jetzt nicht akzeptieren, weil wir so große, so konstruktive Vorhaben angepackt haben:
"Das Schulfach 'Grundlagen der orthodoxen Kultur'; Armeepriester, die jungen Soldaten helfen können; Priester in Gefängnissen, in Krankenhäusern. Andererseits fürchte ich, dass eine Kirche, die ihre Position in der Gesellschaft stärken will, ein großes Risiko eingeht. Sie kann zur Geisel des Staates werden."
80 Prozent der Russen bezeichnen sich als orthodoxe Christen, doch ein Drittel glaubt nicht an Gott. Kaum jemand geht in die Kirche. Aber die Patriarchie besteht darauf, dass die meisten Russen orthodox sind. Sie degradieren das Christentum zu einer Staatsideologie. Eine Rolle, die für Putins Vorgänger im Kreml der Marxismus-Leninismus erfüllte.
Nach seiner Wiederwahl hat Präsident Putin das traditionsreiche Kloster Walaam im Nordwesten Russlands besucht. Gläubige baten Putin, sie zu segnen. Und sie bedankten sich. Der Staat erfüllt der Kirche viele große und kleine Wünsche.
Luftlandetruppen bekommen aufblasbare Gummikirchen zum Abwerfen bei Fallschirmeinsätzen. Die Kirche forderte und bekam Immobilien zurück, die nach der Revolution von 1917 enteignet wurden. In den Museen ausgestellte Kulturschätze werden der Kirche zurückgegeben, die sie oft nicht sachgemäß aufbewahren kann.
Das Staatsfernsehen berichtet ausführlich über Putins Kirchenbesuche. Moskau baut 200 neue Kirchen, trotz fehlender Kirchgänger und Proteste der Anwohner, wenn dafür Grünanlagen zugebaut werden. Der Patriarch hätte gerne sogar 600 neue Kirchen.
Wladimir Putin braucht die Kirche nur als Ersatz für eine "nationale Idee", eine Staatsideologie, die seine Macht sichern soll. An Weihnachten und Ostern zeigt das Staatsfernsehen live den andächtigen "Leader der Nation" Wladimir Wladimirowitsch Putin beim Gottesdienst. Wer gegen diesen Mann ist, ist auch gegen das Christentum.
Seit Beginn der Massenproteste gegen Wahlmanipulationen in 2011 spaltet sich die russische Gesellschaft immer mehr: Putin-Wähler und Kirche auf der einen Seite, Regimekritiker auf der anderen.
Am Anfang der Proteste sah es noch anderes auch. Viele Kleriker haben sich dem Diktat des Kremls widersetzt. Auch Alexey Uminskiy war damals bereit, auf die Straße zu gehen.
"Die Kirche muss und kann den richtigen Ton finden, um den Staat zu entlarven. Nicht einfach nur rufen, 'Ich will nichts mit ihnen zu tun haben, Wladimir Wladimirowitsch!' Nein, wir sollten vernünftig mit ihm reden: 'Sie sollten an das aussterbende Volk Ihres Landes denken, statt überall immer neue Präsidentenpaläste zu bauen. Bauen Sie lieber Häuser für die Menschen. Und tun Sie doch endlich etwas mit der Polizei, die auf das eigene Volk schießt!' In unserem Grundsatzpapier zur Sozialpolitik, das übrigens unser Patriarch Kyrill verfasst hat, steht ausdrücklich geschrieben: Wenn der Staat unmenschlich handelt, kann die Kirche das Volk zum Ungehorsam aufrufen. Das wäre wirkungsvoller als jede Revolution."
Patriarch Kyrill hatte sich nach der ersten Massendemonstration als Vermittler angeboten. Das sollte ihm aber, wie manche Beobachter damals gemunkelt hatten, großen Ärger mit Putin eingebracht haben. Jedenfalls vollführte der Patriarch kurz darauf eine radikale Kehrtwende.
Bei einem Treffen mit Putin sagte Kyrill in die Fernsehkameras, Putins Errungenschaften bei der Überwindung der Krise der 90er-Jahre seien ein "Wunder Gottes".
Patriarch Kyrill glaube an Putin, statt an Gott, sang zwei Wochen später die Künstlerinnengruppe Pussy Riot. Zwei weitere Wochen später durfte Kyrill dem Präsidenten zur Wiederwahl gratulieren. Die Fronten haben sich verfestigt.
"Als ich sie zum ersten Mal sah, war ich zutiefst angeekelt. Mir war, als sähe ich Kakerlaken vor mir, oder Ratten."
Sergey Akhunov aus der Kirchengemeinde von Alexey Uminskiy sitzt im Cafe Coffee Bean vor seinem Notebook. Hier hatte er damals den Clip von Pussy Riot einmal angeklickt und gleich wieder ausgemacht.
"Aber jetzt kann ich sie dahin gehend unterstützen, dass sie nicht ins Gefängnis gehören. Dafür gibt es einfach kein Gesetz. Wenn es so weiter geht, würden sie einen x-beliebigen von uns einsperren. Plötzlich wurde mir klar, dass ich auf ihrer Seite bin. So ein Paradox."
Sergey Akhunov war bei allen Protestdemos dabei. Er ist Komponist für Klassik und Pop. Als Profi, sagt Akhunov, könne er mit der Musik von Pussy Riot nichts anfangen.
In der Presse und im Internet erscheinen immer neue Negativschlagzeilen über die Kirche: Betrunkener Priester am Steuer des BMW-Sportwagens verursacht schweren Unfall. Patriarch Kirill trägt eine Uhr für 30.000 Euro und fährt eine Limousine mit Blaulicht und Bodyguards, die ihm der Kreml zur Verfügung stellt. Orthodoxe Schläger reißen Passanten die T-Shirts vom Leib, weil darauf Pussy Riot abgebildet sind. Diagnose: Orthodoxie des Großhirns.
Als OGH abgekürzt, verbreitet sich diese Schmähung durchs russische Internet. Fühlt sich der Komponist und Kirchengänger Sergey Akhunov angegriffen?
"Nein, nicht im Geringsten. Im Gegenteil, es sind Dinge ans Licht gekommen, sehr schlimme Dinge, aber jetzt können wir endlich etwas dagegen tun. Gegen Obskurantismus und gegen Ideologien, die sich in der Orthodoxie ausbreiten, obwohl sie mit der Kirche nichts zu tun haben, geschweige denn mit Christus. Es ist überhaupt ein Wunder, dass ich in diese Kirche gehe, in die russisch-orthodoxe Kirche. Das ist noch ein Beweis, dass es dort Gott gibt. Denn mir liegt das alles so fern, all diese Bannerträger, diese ideologischen Dogmen. Weil ich eigentlich ein anti-religiöser Mensch bin."
Alle Gegendemonstranten tragen Schwarz. Schwarze Stiefel, schwarze Hosen, schwarze Kappen mit weißen Runen und Hakenkreuzen. Christliche Kreuze haben sie auch dabei, sie halten sie mit beiden Händen hoch. Die "Gemeinschaft Orthodoxer Bannerträger" führt einen, wie sie sagen:
"'Heiligen Krieg" für die "Verbreitung des orthodoxen Glaubens, der Wiederherstellung der Autokratie, der Wiedergeburt des russischen Nationalbewusstseins und Reichspatriotismus."
Seit zwei Jahrzehnten agiert die Gruppierung am äußeren Rand der russischen Orthodoxie. Heute, seit der Kreml verstärkt auf Nationalpatriotismus und Autokratie setzt, scheint ihre Stunde gekommen.
Die Bannerträger greifen die Demonstranten an, zuerst verbal.
"Stehenbleiben! Maul halten, sonst wirst du dafür bezahlen!"
"Ihr seid orthodoxe Faschisten", rufen Demonstrantinnen. Und: "Faschismus kommt nicht durch!"
"Sodomie kommt nicht durch!", antworten die Bannerträger mit ihrem beliebten Kampfruf. Wenn es nach ihnen geht, soll es den Protestlern so ergehen wie den angeblich homosexuellen Einwohnern von biblischem Sodom: Sie sollen ausgerottet werden. "Schwuchteln!", beschimpfen die Bannerträger ihre Gegner, deren Einstellung und Lebensstil sie als Perversion abtun. Der Polizisten schauen demonstrativ weg, als ein Schwarzgekleideter einer Frau seine Faust vors Gesicht hält:
"Wir werden euch moralisch vernichten, kaltmachen, erwürgen! Ja, wir werden genau das mit euch tun!"
Erst jetzt geht die Polizei dazwischen. Die Bannerträger drohen auf ihrer Webseite mit Pogromen gegen jüdische Gottesfeinde. Sie verprügeln Andersdenkende, vorzugweise Frauen. Sie zeigen verbrannte Porträts der Sängerin Madonna oder mit einem angespitzten Pfahl durchstochene Bilder aus einem erotischen Schwulenmagazin.
Heute, wo Putins Macht infrage gestellt wird, bekommen die orthodoxen Schläger zunehmend Unterstützung der weltlichen und kirchlichen Obrigkeit. Der Moskauer Priester Alexey Uminskiy ist einer der wenigen Kleriker, die daran öffentliche Kritik wagen:
"Sind sie denn nicht, mit Verlaub, eine völlige Absurdität? Wir sollten diese absurden Erscheinungen beim Namen nennen. Müssen wir etwa akzeptieren, dass wir derartige Bannerträger bei uns in der Kirche haben, die sich als Christen bezeichnen? Ist das denn noch Kirche? Oder ist das ein Wahnwitz?"
In der russisch-orthodoxen Kirche gibt es nur eine Handvoll Kirchengemeinden, die als liberal gelten. Alexey Uminskiys Pfarrbezirk liegt im Zentrum Moskaus. In seine Kirche kommen überdurchschnittlich viele Akademiker. Abgesehen davon wirken die Betenden beim Sonntagsgottesdienst wie in jeder anderen der 17 Tausend Kirchen Russlands auch: viele ältere Frauen, Familien mit Kindern, bärtige Männer und junge Pärchen. Vater Alexey im weiß-goldenen Gewand zelebriert den Gottesdienst. Mit seinem langen grauen Haar und ungewöhnlich kurz gestutzten Bart wirkt er wie ein mittelalterlicher Gelehrter.
"In Russland ist es meistens so: Du hörst ein Väterchen irgendwas sagen, und meistens ist das einfach zum Weglaufen. Unser Priester ist hingegen ein wirklich scharfsinniger Mensch."
Sergey Akhunov ist seit fünf Jahren Mitglied in Uminskiys Gemeinde. In seiner Jugend war der etwas wortkarge Mittvierziger ein politischer Rocker. Auch später, als Christ, verlor er nicht seinen kritischen Geist.
"Russlands Unglück begann lange vor Putin. Putin begünstigt ein System, das bereits da war: Das System der Obrigkeitshörigkeit, bei dem beispielsweise einem Richter der Wunsch seiner Chefs wichtiger ist als das Gesetz. Dieses System frisst uns alle auf. Aber auch in unserer Gemeinde gibt es natürlich Leute, die glauben, dass in diesem Land nichts Schlimmes geschieht, dass Putin alles richtig macht. Aber auf wundersame Weise geben wir uns trotzdem die Hand. Es gibt Wichtigeres, was uns verbindet."
Nach dem Sonntagsgottesdienst versammeln sich die Gläubigen zu Gespräch und Essen im Gemeinderaum. Etwa fünfzig Leute trinken Tee, essen Rote-Bete-Salat mit Buchweizenbrei und diskutieren über die Stellung der Frau in der Bibel. Adams Rippe, aus der die erste Frau geschaffen würde, sei kein Knochen, sagt ein junger Vikar. Ja, stimmt ihm Uminskiy zu, die Frau sei kein Stück Knochen.
"Knochen oder Rippe - dieses Wort steht in der Bibel eigentlich für 'Seite' oder 'Hälfte'. Ähnlich wie das französische Wort 'Côte' außer Rippe noch Ufer bedeutet. Zum Beispiel Côte d'Azur, Ihr wisst schon."
Erklärt Uminskiy, der acht Jahre als Französischlehrer gearbeitet hatte, bevor er Priester wurde. Seine Gemeindemitglieder sind zwar keine mittelosen Menschen, aber die Französische Riviera kennen die meisten nur aus Filmen. Moskauer, die dort ihren Urlaub verbringen, gehen in andere Kirchen.
Unter den hier Versammelten ist keine Frauenstimme zu hören, obwohl sie mehr als die Hälfte der Versammelten ausmachen. Manchmal stellen sie Fragen, aber die Antworten kommen von den Klerikern der Gemeinde, einer von ihnen Theologieprofessor.
In der Frage der Geschlechtergerechtigkeit, mit der sich viele christliche Kirchen bis heute schwer tun, ist die russische Orthodoxie ähnlich konservativ wie die katholische Kirche. Frauen sind vom Priesteramt ausgeschlossen, aber Pfarrer dürfen heiraten. Der Schwangerschaftsabbruch gilt ebenfalls als Sünde, wird aber gebilligt, wenn das Leben der Mutter bedroht ist. Empfängnisverhütung wird generell verurteilt, doch innerhalb einer Familie akzeptiert. Gleichgeschlechtliche Beziehungen lehnt die russische Kirche jedoch noch vehementer ab als der Vatikan. Die Kirchenspitze verweigert Menschen anderer sexueller Orientierung volle Bürgerrechte, und sie distanziert sich nicht von den homophoben Gewalttätern aus der "Gemeinschaft Orthodoxer Bannerträger".
Auch der russische Nationalismus, den die Bannerträger auf ihre Fahnen schreiben, findet in der Kirche Verfechter. Sogar manche Kleriker hegen Großmachtfantasien, sagt Alexey Uminskiy.
"Äußere Formen des kirchlichen Lebens werden wichtig - die Nationale Idee, der Patriotismus, das mächtige Reich. Mit Christus zu leben ist unbequem, also treten diese Äußerlichkeiten jetzt in den Vordergrund. Man glaubt sogar, sie sind so wichtig, dass man sein Leben für sie opfern kann. In Wahrheit aber trennen uns diese Vorstellungen nur. Einer denkt so und der andere ganz anderes, aber Christus ist für alle da. Er vereinigt die Rechten und die Linken, Menschen unterschiedlicher Hautfarbe und politischer Gesinnung. Unter unseren Heiligen haben wir Monarchisten, und wir haben heilige Anarchisten."
Bis heute hat sich das Gros der russischen Gläubigen aus den politischen Kämpfen rausgehalten. Die Kirchenspitze rückt aber politisch verstärkt nach rechts. So rügte der offizielle Sprecher des Patriarchen Wsewolod Chaplin den liberalern Alexey Uminskiy mit scharfen Worten:
"Vater Alexey Uminskiy erlaubt sich, die Bannerträger als Antisemiten zu beschimpfen. Aber diese Organisation ist von der Kirche offiziell akzeptiert. Sie wird nach dem Segen des Heiligen Patriarchen Kyrill in der Liste des Rates orthodoxer Gesellschaften geführt. Wir sind im Krieg, und unsere Vorhut wird als antisemitisch beschimpft. So eine Schande!"
Berührungsängste mit dem Antisemitismus hat die russisch-orthodoxe Kirche nicht. Eine ihrer Heiligenfiguren ist das Opfer eines vermeintlichen Ritualmordes durch Juden im 17. Jahrhundert. Sein katholisches Pendant wurde noch 1965 aus dem offiziellen Märtyrerkalender gestrichen. Patriarch Kyrill dagegen "verbeugte sich", wie es in der offiziellen Mitteilung über seinen Besuch des Heiligengrabes stand, "vor der heiligen Gebeinen des Märtyrers", der "von einem Juden entführt und bestialisch ermordet" wurde.
Im Mittelalter ließen sich Priester oft mit Naturalien bezahlen. Für Alexey Uminskiy, der von seinem Pfarrergehalt lebt und sich einen Mittelklasse-Toyota leisten kann, sind solche Mitbringsel nicht mehr als nostalgische Erinnerungen an goldene alte Zeiten, als die Kirche arm und eigenständig war. Denn in späteren Jahrhunderten hatten die Zaren sie nach und nach verstaatlicht, bis Peter der Große die Kirche zu einem Quasi-Ministerium für Staatsreligion machte. Statt des Patriarchen stand nun ein Zarenbeamter, ein Oberprokurator, der Kirche vor.
"Die russische Kirche hat eine drückende Erfahrung hinter sich. Jahrhundertelang war sie Werkzeug des Staates. Unter Peter dem Großen verlor sie ihre Eigenständigkeit und ihren Patriarchen. Dann folgten die furchtbaren Repressionen der Sowjetmacht. Die Geschichte lehrt uns, dass sich die Kirche vom Staat fernhalten sollte."
Als die Bolschewiki den Zarenstaat zerstörten, gingen sie auch gegen die Kirche vor, die ideologische Stütze des alten Regimes. Nach der Machtübernahme wurden Tausende Priester ermordet. Später wurden Geistliche zur Zusammenarbeit mit der Partei gezwungen. Der KGB führte höhere Kleriker als Informanten oder ließ KGB-Agenten in hohe Kirchenämter einsetzen. Bis heute will sich die Kirche davon nicht öffentlich davon distanzieren. Sie versucht nicht einmal die Anschuldigung zu widerlegen, Patriarch Kyrill habe ebenfalls für die Staatssicherheit gearbeitet und den Agentennamen "Michailow" getragen. Stattdessen lässt sich die Kirche erneut in den Dienst des Kremls nehmen.
"Es breitet sich diese Einstellung aus: Endlich, endlich hört der Staat auf, die Kirche zu verfolgen. Der Staat eröffnet der Kirche so viele Möglichkeiten. Also geht es doch nicht, dass wir diesem Staat nicht danken."
Laut russischem Grundgesetz sind Staat und Kirche getrennt, dennoch geht die Einbindung der Kirche in Staat und Gesellschaft rasant voran. Präsident Putin betont immer wieder, dass es in Russland zwar viele Völker und Konfessionen gibt, dass aber die meisten Bürger russisch-orthodox sind. Ob das stimmt, ist das Grunddilemma der Kirchenpolitik, sagt Alexey Uminskiy.
Entweder müssen wir einsehen, dass wir nur wenige sind. Das würde aber heißen, dass unsere Gesellschaft nicht hauptsächlich christlich ist. Dass wir unseren jetzigen Diskurs ändern müssen, und uns nur mit uns selbst beschäftigen. Aber das können wir gerade jetzt nicht akzeptieren, weil wir so große, so konstruktive Vorhaben angepackt haben:
"Das Schulfach 'Grundlagen der orthodoxen Kultur'; Armeepriester, die jungen Soldaten helfen können; Priester in Gefängnissen, in Krankenhäusern. Andererseits fürchte ich, dass eine Kirche, die ihre Position in der Gesellschaft stärken will, ein großes Risiko eingeht. Sie kann zur Geisel des Staates werden."
80 Prozent der Russen bezeichnen sich als orthodoxe Christen, doch ein Drittel glaubt nicht an Gott. Kaum jemand geht in die Kirche. Aber die Patriarchie besteht darauf, dass die meisten Russen orthodox sind. Sie degradieren das Christentum zu einer Staatsideologie. Eine Rolle, die für Putins Vorgänger im Kreml der Marxismus-Leninismus erfüllte.
Nach seiner Wiederwahl hat Präsident Putin das traditionsreiche Kloster Walaam im Nordwesten Russlands besucht. Gläubige baten Putin, sie zu segnen. Und sie bedankten sich. Der Staat erfüllt der Kirche viele große und kleine Wünsche.
Luftlandetruppen bekommen aufblasbare Gummikirchen zum Abwerfen bei Fallschirmeinsätzen. Die Kirche forderte und bekam Immobilien zurück, die nach der Revolution von 1917 enteignet wurden. In den Museen ausgestellte Kulturschätze werden der Kirche zurückgegeben, die sie oft nicht sachgemäß aufbewahren kann.
Das Staatsfernsehen berichtet ausführlich über Putins Kirchenbesuche. Moskau baut 200 neue Kirchen, trotz fehlender Kirchgänger und Proteste der Anwohner, wenn dafür Grünanlagen zugebaut werden. Der Patriarch hätte gerne sogar 600 neue Kirchen.
Wladimir Putin braucht die Kirche nur als Ersatz für eine "nationale Idee", eine Staatsideologie, die seine Macht sichern soll. An Weihnachten und Ostern zeigt das Staatsfernsehen live den andächtigen "Leader der Nation" Wladimir Wladimirowitsch Putin beim Gottesdienst. Wer gegen diesen Mann ist, ist auch gegen das Christentum.
Seit Beginn der Massenproteste gegen Wahlmanipulationen in 2011 spaltet sich die russische Gesellschaft immer mehr: Putin-Wähler und Kirche auf der einen Seite, Regimekritiker auf der anderen.
Am Anfang der Proteste sah es noch anderes auch. Viele Kleriker haben sich dem Diktat des Kremls widersetzt. Auch Alexey Uminskiy war damals bereit, auf die Straße zu gehen.
"Die Kirche muss und kann den richtigen Ton finden, um den Staat zu entlarven. Nicht einfach nur rufen, 'Ich will nichts mit ihnen zu tun haben, Wladimir Wladimirowitsch!' Nein, wir sollten vernünftig mit ihm reden: 'Sie sollten an das aussterbende Volk Ihres Landes denken, statt überall immer neue Präsidentenpaläste zu bauen. Bauen Sie lieber Häuser für die Menschen. Und tun Sie doch endlich etwas mit der Polizei, die auf das eigene Volk schießt!' In unserem Grundsatzpapier zur Sozialpolitik, das übrigens unser Patriarch Kyrill verfasst hat, steht ausdrücklich geschrieben: Wenn der Staat unmenschlich handelt, kann die Kirche das Volk zum Ungehorsam aufrufen. Das wäre wirkungsvoller als jede Revolution."
Patriarch Kyrill hatte sich nach der ersten Massendemonstration als Vermittler angeboten. Das sollte ihm aber, wie manche Beobachter damals gemunkelt hatten, großen Ärger mit Putin eingebracht haben. Jedenfalls vollführte der Patriarch kurz darauf eine radikale Kehrtwende.
Bei einem Treffen mit Putin sagte Kyrill in die Fernsehkameras, Putins Errungenschaften bei der Überwindung der Krise der 90er-Jahre seien ein "Wunder Gottes".
Patriarch Kyrill glaube an Putin, statt an Gott, sang zwei Wochen später die Künstlerinnengruppe Pussy Riot. Zwei weitere Wochen später durfte Kyrill dem Präsidenten zur Wiederwahl gratulieren. Die Fronten haben sich verfestigt.
"Als ich sie zum ersten Mal sah, war ich zutiefst angeekelt. Mir war, als sähe ich Kakerlaken vor mir, oder Ratten."
Sergey Akhunov aus der Kirchengemeinde von Alexey Uminskiy sitzt im Cafe Coffee Bean vor seinem Notebook. Hier hatte er damals den Clip von Pussy Riot einmal angeklickt und gleich wieder ausgemacht.
"Aber jetzt kann ich sie dahin gehend unterstützen, dass sie nicht ins Gefängnis gehören. Dafür gibt es einfach kein Gesetz. Wenn es so weiter geht, würden sie einen x-beliebigen von uns einsperren. Plötzlich wurde mir klar, dass ich auf ihrer Seite bin. So ein Paradox."
Sergey Akhunov war bei allen Protestdemos dabei. Er ist Komponist für Klassik und Pop. Als Profi, sagt Akhunov, könne er mit der Musik von Pussy Riot nichts anfangen.
In der Presse und im Internet erscheinen immer neue Negativschlagzeilen über die Kirche: Betrunkener Priester am Steuer des BMW-Sportwagens verursacht schweren Unfall. Patriarch Kirill trägt eine Uhr für 30.000 Euro und fährt eine Limousine mit Blaulicht und Bodyguards, die ihm der Kreml zur Verfügung stellt. Orthodoxe Schläger reißen Passanten die T-Shirts vom Leib, weil darauf Pussy Riot abgebildet sind. Diagnose: Orthodoxie des Großhirns.
Als OGH abgekürzt, verbreitet sich diese Schmähung durchs russische Internet. Fühlt sich der Komponist und Kirchengänger Sergey Akhunov angegriffen?
"Nein, nicht im Geringsten. Im Gegenteil, es sind Dinge ans Licht gekommen, sehr schlimme Dinge, aber jetzt können wir endlich etwas dagegen tun. Gegen Obskurantismus und gegen Ideologien, die sich in der Orthodoxie ausbreiten, obwohl sie mit der Kirche nichts zu tun haben, geschweige denn mit Christus. Es ist überhaupt ein Wunder, dass ich in diese Kirche gehe, in die russisch-orthodoxe Kirche. Das ist noch ein Beweis, dass es dort Gott gibt. Denn mir liegt das alles so fern, all diese Bannerträger, diese ideologischen Dogmen. Weil ich eigentlich ein anti-religiöser Mensch bin."