"Wir sind Nobelpreisträger"

Von Gerd Brendel |
In einem Kreuzberger Club, in dem sonst HipHop aufgelegt wird, feierten deutsche und türkische Fans "ihren" Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk mit einer Lesung seiner Werke. Er ist für sie eine Identifikationsfigur, ein Intellektueller, der in seiner Heimat nicht nur erfolgreich islamischen Fundamentalisten die Stirn bietet, sondern auch rechten Nationalisten.
Im Kreuzberger "Lido", wo sonst HipHop-DJs auflegen, lesen an diesem Nachmittag deutsch-türkische Schauspieler und Schriftstellerkollegen Orhan Pamuks Istanbul-Erinnerungen und Ausschnitte aus seinem letzten Roman "Schnee". Als Tayfun Bademsoy aus dem ersten Kapitel mit der winterlichen Busfahrt durch Anatolien liest, dreht sich ganz langsam die Diskokugel unter der Decke und wirft Glitzerpunkte wie bunte Schneeflocken an die Wand.

Tomas Fitzel von der Kreuzberger Kultur-Initiative "urban dialogues" hat die Lesung organisiert:

"Es sind ja hier Die Idee war, ein Publikum zu kriegen, dass über das übliche Lese- und Szene-Publikum hinausgeht."

Seine Begeisterung für den Autor, führte ihn an Orte, die dem Kreuzberger mindestens so fremd waren, wie Pamuks bürgerlichen Helden das anatolische Landleben.

"Auch 'ne Erfahrung für mich, in finstere Männercafés reinzugehen, in die ich sonst keinen Fuß reinsetzen würde, und zu fragen, ja ich hab hier ein Plakat für Orhan Pamuk,. kann ich das bei ihnen aufhängen, und da merkte man, dass die Leute ein differenziertes Bild zu Pamuk haben, als in der Medienwahrnehmung ist."

Die Männer mit den Bärten, sie sind dann aber doch in der Minderheit im "Lido", einem Kreuzberger Club, mitten in der neuen Ausgehmeile des Bezirks rund um die Schlesische Straße. Stattdessen deutsch-deutsche und deutsch-türkische "urbane Bohemians", Altlinke, Studenten und Kiezprominenz: Der türkische Apotheker vom Kottbusser Tor, eine türkischstämmige DJane vom nahen SO36, der Grünen-Stadtrat Özcan Mutlu und sein Parteifreund und Neu-Kreuzberger Cem Özdemir.

"Ich hab einen Nobelpreisträger im Freundeskreis, was mich sehr stolz macht. Orhan Pamuk steht für eine neue Türkei. Er ist der erste Schriftsteller, in dessen Biographie nicht steht: Er war im Gefängnis von dann und dann, praktisch jeder große Schriftsteller hat in seiner Biographie drin stehen: Gefängnis, Flucht, Vertreibung. Und er ist der erste, bei dem das nicht drinsteht."

An diesem Nachmittag wird nicht nur ein Schriftsteller geehrt, sondern auch eine Identifikationsfigur, ein Intellektueller, der in seiner Heimat nicht nur erfolgreich islamischen Fundamentalisten die Stirn bietet, sondern auch rechten Nationalisten. Deren Wut bekam Özdemir am eigenen Leib zu spüren während des Gerichtsverfahrens gegen den Nobelpreisträger wegen "untürkischer Umtriebe".

"Was ich nicht vergessen werde, ist die Situation, als wir aus dem Gerichtssaal raus sind. Orhan Pamuk schnell in ein Auto verschwunden ist, ich leider nicht schnell genug. Da stand ich mit einem Mal in einem Pulk von Leuten, die wenig freundliche Absichten hatten, richtig zugeschlagen haben. Da hab ich erstmal kapiert, was es heißt, wenn man eben für seine Gedanken und seine Bücher Angst haben muss, dass man eins auf die Fresse bekommt."

"Ich liebe Orhan Pamuk. Ich liebe Istanbul. Mich hat die Nachricht vom Nobelpreis sehr glücklich gemacht. Ich hoffe, dass mehr Leute Mut bekommen, Dinge anzusprechen, die nicht in Ordnung sind, wie die Armenienfrage zum Beispiel."

Auch die türkischstämmige Schauspielerin Ilknur Bahadir bewundert den Schrifsteller. Für die deutsche Hörbuch-Fassung von Pamuks letztem Roman "Schnee" schlüpfte sie in die Rolle der Ipek, der großen Liebe des Romanhelden: "K". Auf dem Podium las sie Passagen aus dem Werk: Das Gefühl der Heimatlosigkeit seiner Hauptfiguren kennt Bahadir aus eigener Erfahrung.

"Ich denke, fühle, träume auf Deutsch, aber ich habe mit Abschluss des Studiums gemerkt, dass ich doch nicht dazu gehöre, denn ich bekomme die Arbeitsplätze, die mir zustehen würden, nicht aufgrund meines Namens und meiner Herkunft."

Den einen nicht deutsch, den anderen nicht türkisch genug: So erleben viele bürgerliche türkische Deutsche oft ihre Gesellschaft zwischen anatolischer Parallelwelt und deutschem Mainstream. Aber wenigstens an diesem Nachmittag gibt es ein gemeinsames Heimatland für alle: Die Welt der Bücher von Orhan Pamuk und vor allem sein mit Geschichte und Melancholie getränktes Istanbul. Das "Wir sind Nobelpreisträger" der Moderatorin: Es wurde heftig beklatscht.