"Wir stehen als Israelis vor ganz großen Fragen"

Moderation: Holger Hettinger |
Viele israelische Künstler und Literaten sehen ihr Land vom Westen missverstanden – und gleichzeitig existenziell von den Nachbarn bedroht. Der Publizist Daniel Dagan spricht über den Tod des Sohnes des Schriftstellers David Grossman, die Ohnmacht in Zeiten des Krieges und darüber, ob die Friedensmission UNIFIL daran etwas ändern kann.
Hettinger: Vor einem Monat hat der israelische Schriftsteller David Grossman in einem offenen Brief gefordert, die israelischen Angriffe auf den Libanon einzustellen. Wenige Tage später ist Grossmans Sohn Uri im Libanon als Soldat gefallen. Deswegen hat David Grossman auch seine Teilnahme am "Literaturfest Berlin" abgesagt, das heute beginnt. Der Tod von Uri Grossman, kurz nachdem sein Vater den Aufruf zum Waffenstillstand unterzeichnet hat, das Leben schreibt tragische Geschichten. Inwieweit das symptomatisch ist für die Lage der Intellektuellen in Israel besprechen wir jetzt mit dem Publizisten Daniel Dagan. Er ist Korrespondent unter anderem der "Jerusalem Post" und er berichtet für den israelischen Rundfunk. Herr Dagan, David Grossman hat nach dem Tod seines Sohnes ein Beileidsschreiben bekommen von Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Dieser Brief ist von Israels Intellektuellen sehr stark beachtet worden. Was stand da drin?

Dagan: Das kann man gar nicht wiedergeben. Das darf man nicht. Das war ein privates Schreiben, handgeschrieben von Herrn Steinmeier. Es war eine sehr schöne Geste. Es hat die Menschen sehr bewegt, diejenigen, die das gesehen haben, das sind nur sehr wenige. Herr Steinmeier hat übrigens in Deutsch geschrieben, nicht in Englisch. Deutsch ist eine Sprache, die Herr Grossman nicht spricht und nicht verstehen kann. Es lag auch eine Übersetzung ins Hebräische vor und ich weiß, dass er sehr bewegt war. Er hat es gezeigt, er hat den Brief einigen Kollegen, einigen Freunden gezeigt und er fand dort nur private Anteilnahme, keine politische Aussagen. Die politischen Aussagen muss man anderen Anlässen überlassen.

Hettinger: Worte des Trostes, Worte des Zuspruchs in einer Situation, die nicht einfach ist. Warum ist David Grossman dieses Schreiben so nahe gegangen?

Dagan: Er hat Herrn Steinmeier wenige Tage davor noch gesehen, in Israel. Ich glaube Herr Steinmeier, der Außenminister, kam nach Israel drei mal während dieses Krieges. Er hat dadurch schon sein Engagement zeigen wollen. Ich glaube, es ist ihm auch gelungen, die Herzen der Israelis zu treffen, und er wollte, das war der Wunsch des deutschen Außenministers, auch Herrn Grossman treffen und alleine schon diese Geste, diese Tatsache, dass er eine intellektuelle Stimme in Israel hören wollte. Übrigens Herr Grossman war nicht gegen diesen Krieg, also er war nicht gegen die militärische Reaktion auf die Provokation der Hisbollah. Er hat anfänglich das unterstützt. Nur zwei Tage vor dem Tod seines Sohnes Uri, der 20 Jahre alt war, er sollte seinen Geburtstag feiern in wenigen Tagen, dann hat er gesagt, jetzt müssen wir stoppen. Das war zwei Tage vor der Unterzeichnung der Waffenruhe.

Hettinger: Das war dieses Schreiben, in dem er gesagt hat, wir haben die Ziele militärisch erreicht, jetzt ist es genug.

Dagan: Genau und es war auch sehr persönlich irgendwie. Er ist übrigens in den Norden Israels gegangen mit anderen Schriftstellern. Hat Bunker besucht, hat Menschen besucht, hat vorgelesen aus seinen Werken. Ein Werk, das letzte Werk, was er geschrieben hat, was in Israel jetzt auch sehr viel Aufmerksamkeit findet, heißt "Jemand mit dem ich rennen kann". Ich weiß nicht, ob es ins Deutsche übersetzt worden ist. Das ist meine eigene Übersetzung, und das wurde jetzt auch verfilmt und übrigens am Grab seines Sohnes hat er gesagt: "Jetzt wird mir das fehlen, jemand mit dem ich am Morgen rennen kann. Das habe ich immer wieder gerne gemacht mit meinem Sohn Uri." Und er hat am Grab seines Sohnes auch gesagt: " Wir als Familie haben den Krieg schon verloren. Der Staat Israel und die Völker der Region müssen noch ihre Bilanz ziehen."
Es war eine ganz schreckliche Stimmung da am Grab. Es waren Tausende, die gekommen sind: Viele Israelis, viele Künstler, viele Politiker, viele Leute, die sich einfach interessieren für diese Werke. Und diese Worte haben die Menschen sehr, sehr bewegt. Es ist in der Tat, wie Sie gesagt haben diese Endzeitstimmung. Wir stehen vor ganz großen Fragen als Israelis. Haben wir überhaupt einen Platz in dieser Region, wo die Nachbarvölker uns letztlich nicht akzeptieren, weil gerade dieser Krieg es demonstriert hat? Bei diesem Krieg ging es nicht um Territorium. Alle territorialen Probleme zwischen Israel und dem Libanon sind geregelt, so sagt die UNO, so bestätigt die UNO. Es ist ein ideologischer Krieg gewesen. Es ist ein Krieg, der geführt wird, um Israel letztlich zu eliminieren, und die Frage ist: Können wir uns in dieser Umgebung, können wir einen Platz finden? Können wir akzeptiert werden von den Völkern der Region?

Hettinger: Nun ist ja die derzeitige Situation ein, nun sagen wir mal, brüchiger Waffenstillstand, ganz sicher kein Frieden, wobei sich jetzt doch die UN-Friedensmission UNIFIL ganz deutlich abzeichnet. Wie gehen die Intellektuellen in Israel damit um?

Dagan: Indem sie sagen, unsere Konzepte müssen überdacht werden. Wir haben bisher gedacht, wir können uns selber verteidigen. Wir müssen uns verlassen auf unsere Stärke. Wir müssen gleichzeitig natürlich den…

Hettinger: … war ja auch so ein Mythos. Die Kraft der israelischen Armee…

Dagan: …Ein Mythos Israel wird sich immer selber verteidigen. Niemand wird diese Dreckarbeit für uns leisten müssen oder leisten. Und jetzt kommen gerade auch die Deutschen und sie werden gut, herzlich empfangen von den Israelis. Die Israelis sagen, ja gerne auch Deutsche, wenn sie sich beteiligen wollen, wenn sie dazu bereit sind, dass sie sich in irgendeiner Form – Seeblockade vielleicht verhängen oder dieses Embargo einfach in die Tat umsetzen, was von der UNO beschlossen worden ist.

Hettinger: Aber Sie verstehen schon das Bauchweh vieler Menschen in Deutschland, bei dem Gedanken daran, dass deutsche Soldaten an der Grenze zum Libanon auf israelischem Territorium womöglich stehen?

Dagan: Selbstverständlich. Aber es wurde doch eine gute Lösung gefunden, indem die Deutschen erstmal nur Seeeinheiten schicken sollten oder logistische Aufgaben oder andere Aufgaben und nicht direkt an die Grenze. Das ist eine Nebensache im Moment. Es geht vor allem darum, ob ein neues Konzept her muss. Zum Beispiel ein israelischer Schriftsteller der hier unbekannt ist, orientalischer Abstammung, hat geschrieben: Vielleicht ist das Ganze falsch. Vielleicht beruht dieser Staat auf einer falschen Grundlage. Vielleicht sollen wir doch geschützt werden von den Muslimen und akzeptieren, dass wir keine eigene jüdische Souveränität in dieser Region haben können. Solche Gedanken gibt es auch.

Hettinger: Ist es nicht auch eine positive Erfahrung, wenn man sagt, man ist… dieser Alleinverteidigungsanspruch in allen Ehren, aber auch das Erlebnis, dass man gemeinsam an diesem Frieden bastelt, dass das noch einmal ein Gefühl der Integration in Israel bewirkt?

Dagan: Frieden auf welcher Basis? Das ist immer die Frage. Und wenn die Basis jüdische Souveränität ist im Lande Israel, was die Araber Palästina nennen, das ist die große Frage aus arabischer, muslimischer Sicht, zumindest aus extremistischer muslimischer Sicht, was heute leider gang und gäbe ist, das ist nicht so akzeptabel. Und deswegen die große Frage. Und Grossman hat es auch wieder zum Ausdruck gebracht in seiner Rede und anderen Schriften. Er hat gesagt: "Wir leben in einer Katastrophenregion. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht unsere Werte aufgeben. Das Wichtigste ist natürlich das Leben selbst. Das Leben muss geschützt werden." Und er hat jetzt auf tragische Weise das Leben seines Sohnes verloren. Das ist sehr, sehr stark. Das ist sehr dramatisch! Und die Worte, die er ausgesprochen hat, um so eine Situation zu beschreiben, haben sich bewahrheitet für ihn persönlich.

Hettinger: Ich habe in der "Neuen Zürcher Zeitung" einen Satz gefunden: "Die israelische Politik hat erkennbare Schwierigkeiten, den Menschen neue Hoffnung für die Lösung des Konflikts mit den Palästinensern zu machen." Herr Dagan, können die Künstler, können die Intellektuellen hier einen Vorschlag machen?

Dagan: Sie müssen es! Ohne Hoffnung kann man nicht mehr leben. Herr Grossman beschreibt, wie er die Nachricht bekommen hat von dem Tod seines Sohnes. Es kam ein Offizier aus seiner Einheit, aus der Einheit von seinem Sohn. Das war nachts. Er hat ihm gesagt, das ist leider passiert. Und dann hat er mehrere Stunden gewartet, bis er die Tochter Michal, seine eigene Tochter, also die Schwester von Uri geweckt hat, und ihr diese Mitteilung gemacht hat. Und dann hat sie gesagt: Ja aber, aber Vater, das Leben geht weiter, ich werde weiterhin Gitarre spielen, ich werde weiterhin musizieren und andere schöne Dinge machen und wir werden unsere Familie behalten. Und er hat gesagt, natürlich, selbstverständlich, was sonst. Und diese Hoffnung müssen die Intellektuellen geben.

Hettinger: Welche politischen Modelle haben die Intellektuellen denn anzubieten, jetzt über die Erfahrung der alltäglichen Kontinuität hinaus?

Dagan: Ganz unterschiedliche. Ich meine, die politischen Auseinandersetzungen sind auch unter den Intellektuellen sehr, sehr heftig in Israel, sehr intensiv: zwei Juden, drei Meinungen. Man kann keine einheitliche Form finden. Und Grossman steht links. Er wurde unterstützt auch von Schriftstellern und Intellektuellen, die ganz andere Ansichten vertreten. Es ist dieses Menschliche, das jetzt die Menschen verbindet, und die grundsätzlichen Fragen der Existenz, wobei man sieht, das sind nicht nur kleine territoriale Probleme, die können gelöst werden, auch wenn sie schwierig zu lösen sind. Das ist die ideologische Überzeugung und die religiöse Überzeugung, dass Israel als jüdischer Staat keinen Platz dort hat. Und wie geht man mit diesem schwierigen Problem um?

Hettinger: Das ist aber eine sehr pessimistische Sicht der Dinge?

Dagan: Gut, wenn man den Iran sieht und die Hisbollah, die Aktivitäten der Hisbollah im Libanon, kann man sehen als ein Vorposten des Irans und man kann sehen die Radikalisierung in der arabischen und in der muslimischen Welt darüber hinaus, dann muss man leider sagen, das ist zumindest ein wichtiger Teil der Realität, damit muss man umgehen.

Hettinger: Endzeitstimmung bei den israelischen Intellektuellen. Das war der Publizist Daniel Dagan, Korrespondent unter anderem für die "Jerusalem Post" und für den israelischen Rundfunk.