"Wir suchen bei Nahrung nicht mehr Genuss, sondern Sicherheit"

Gunther Hirschfelder im Gespräch mit Katrin Heise |
Immer mehr Menschen, die gar nicht die entsprechende Unverträglichkeit aufweisen, kaufen Lebensmittel ohne Laktose oder Gluten. Der Kulturwissenschaftler Gunther Hirschfelder deutet dies als "Übersprungshandlung", die gegen die allgemeine Krisenstimmung wappnen soll.
Katrin Heise: Es ist wirklich auffällig, wie viele Lebensmittel im ganz normalen Supermarkt plötzlich den Aufdruck "laktosefrei" oder "glutenfrei" tragen. Früher gab's die eigentlich nur mehr oder weniger im Reformhaus zu kaufen. Aber selbst der Berliner Starkoch Tim Raue kocht inzwischen so. Immer mehr Menschen greifen also zu laktose- und glutenfreien Lebensmitteln, darunter viele, die gar keine Milchzuckerallergie haben oder auch normales Brot gut vertragen würden. Warum diese Kaufentscheidung, darüber hat auch der Kulturwissenschaftler Gunther Hirschfelder nachgedacht. Sein Spezialinteresse gilt nämlich der Ernährung und Ernährungstrends. Er hat darüber Bücher geschrieben und lehrt an der Universität Regensburg. Ich grüße Sie, Herr Hirschfelder, schönen guten Morgen!

Gunther Hirschfelder: Ja, schönen guten Morgen!

Heise: Laktosefreie Milchprodukte, glutenfreies Gebäck – das hat ja seine Berechtigung. Wer braucht diese Produkte eigentlich und warum?

Hirschfelder: Na ja, einmal liegt dem eine physiologische Komponente zugrunde, das heißt, es gibt Menschen, die haben eine Laktose-Intoleranz, die vertragen keinen Milchzucker, und es gibt Menschen, die haben eine Glutenallergie, das heißt, gegen bestimmte Inhaltsstoffe in Getreideprodukten, da reagieren sie hoch allergisch und werden krank und schwer krank. Und insofern haben diese Dinge unter Umständen durchaus ihre Berechtigung.

Heise: Wie verbreitet sind diese Unverträglichkeiten, wie stellt man die fest? Muss die ein Arzt feststellen?

Hirschfelder: Es gibt für die Laktose-Intoleranz einen relativ einfachen Atemtest, den kann man problemlos durchführen. Das sieht bei der Glutenunverträglichkeit schon wesentlich komplizierter aus, da muss eine Darmbiopsie vorgenommen werden, im Dünndarm. Die Zahlenangaben, die schwanken aus den entsprechenden Wissenschaften. Die Laktose-Intoleranz ist in Mitteleuropa in einer Größenordnung von maximal zehn Prozent verbreitet, andere Angaben liegen etwas höher. In Asien ist das Ganze noch mal eine ganze Ecke höher, weil es eben einen anderen, lang gewachsenen kulturellen Umgang mit Milch und Milchprodukten gibt. Bei der Glutenunverträglichkeit sieht das ganz anders aus, da kann man von einer Größenordnung von nur 0,3 Prozent der Bevölkerung ausgehen, immer plus minus, also, das sind Schätzwerte. Erstaunlich vor diesem Hintergrund aber doch die breite Thematisierungskonjunktur, die vor allem Gluten erfährt.

Heise: Das wird ja teilweise auch selbst diagnostiziert, man hat viel Blähungen und schließt daraus, man verträgt das oft nicht. Ist es eigentlich tatsächlich so, dass man sich und seine Kinder vorbeugend sozusagen schützen kann?

Hirschfelder: Das kann ich als Kulturwissenschaftler natürlich schwer sagen, aber kulturwissenschaftlich ist dieser Befund eben besonders interessant. Na ja, schützen, man kann sich vor allem schützen, dann wird man auch gegen nichts immun. Leben besteht eben darin, sich in eine Kultur zu enkulturieren und mit Schmutz und mit Dingen, mit denen man nicht gut umgehen kann, eben umzugehen, damit der Körper widerstandsfähig wird. Das ist die eine Sache. Was im Einzelfall medizinisch indiziert ist, das kann nur der Arzt sagen und natürlich nicht ein Kulturwissenschaftler.

Heise: Darauf kommen wir, denke ich, auch noch mal zu sprechen, auf das, was Sie eben gesagt haben, dieser Sicherheitsgedanke, der da so eine Rolle spielt, vielleicht ist es das ja auch. Warum, würde ich nämlich gerne mal wissen, warum kaufen viele, die eigentlich nicht unbedingt davon ausgehen müssen, dass sie so eine Unverträglichkeit haben, warum kaufen die trotzdem diese ganz speziellen Lebensmittel?

Hirschfelder: Ja, da müssen wir uns die Gesamtsituation von Ernährung in, ja, in diesen modernen Industrieländern insgesamt anschauen und da eben besonders im deutschsprachigen Raum: Wir haben hier keine Qualitätskrise, Lebensmittel sind hervorragend überwacht und wir haben ein breites Spektrum an Kontrollmechanismen, das dazu führt, dass man sich heute im historischen Vergleich in Deutschland fast optimal ernähren kann. Und weltgeschichtlich betrachtet ging es uns noch nie so gut. Gleichzeitig war die Angst noch nie so groß. Das heißt, wir haben eine Vertrauenskrise, aber keine Qualitätskrise.

Heise: Eine Vertrauenskrise. Und da glauben dann verunsicherte Käufer, dass sie, ja, vielleicht mit glutenfreien Lebensmitteln reinere Lebensmittel kaufen?

Hirschfelder: Ja, möglicherweise. Da müsste man erst mal empirische Untersuchungen anstellen. Was man aber ganz definitiv sagen kann, ist, dass wir seit den späten 1960er-Jahren, vermehrt seit den 1970er-Jahren Misstrauen gegenüber der Umwelt haben, Misstrauen gegenüber unserer Nahrung haben. Wir haben uns lange darüber geärgert, dass wir nicht satt genug werden, heute ärgern wir uns darüber, dass wir zu satt werden. Wir haben lange als Gesellschaft alles gegessen, was irgendwo verfügbar ist, und dann kommen die Jahre um 1970. Da gibt es den Bericht des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums, da gibt es die Angst vor einer verhungernden Welt und da gibt es die Ölkrise, eine große Zivilisationsmüdigkeit setzt ein, der Fortschrittsglaube wird infrage gestellt.

Und diese Dinge führen dazu, dass wir ganz kritisch auf unsere Umwelt schauen, gerade in Europa, gerade in Mitteleuropa, gerade im deutschsprachigen Raum. Als Konsequenz sind wir unseren Nahrungsmitteln gegenüber immer misstrauischer geworden, wir schauen genau hin. Und heute haben wir dann inzwischen eine Situation, dass wir Dinge als besonders wertig wahrnehmen und qualitativ als gut wahrnehmen, die uns nicht schaden. Auf den Geschmack achten wir gar nicht. Wir haben also sozusagen in der Wahrnehmung eine Ökotrophologisierung des Essverhaltens. Wir screenen Lebensmittel so, wie wir einen Beipackzettel in einer Apotheke lesen und denken, wenn es mich nicht tötet, dann muss es gut sein.

Heise: Lebensmittelkrise oder Vertrauenskrise auf dem Lebensmittelmarkt, ich spreche darüber mit dem Kulturwissenschaftler Gunther Hirschfelder. Herr Hirschfelder, also eine mögliche Gefahrenquelle in der Nahrung ausschließen, das wäre das, worüber wir jetzt eben gesprochen haben. Kann es auch sein, dass man mit dieser Art von Ernährung ein Mehr an Gesundheit anstrebt, also sozusagen, was den Allergiker krank macht, das kann auch für den Nichtallergiker nicht gut sein, also lasse ich das weg und werde dadurch gesünder oder bin von Anfang an gesünder?

Hirschfelder: Ja, Lebensmittelqualität, Lebensqualität und Sicherheit sind in ein Konkurrenzverhältnis getreten. Wir suchen heute bei der Nahrung nicht mehr die Lebensqualität und den Genuss, sondern wir suchen die Sicherheit. Und wir haben eben insgesamt ein Unsicherheitsgefühl in unserer Gesellschaft. Und was wir hier beobachten können bei dem Boom von laktosefreier und glutenfreien Nahrungsmitteln, das ist eine Ersatzreaktion, eine Übersprungsreaktion. Wir wähnen uns am Ende der Zeit, wir haben eine Finanzkrise, wir haben eine Global-warming-Krise, wir leben in einem permanenten Krisenzeitalter oder Bewusstsein, das die Medien natürlich anstacheln, indem sie ja von der Negativschlagzeile leben.

Wir können dieser Dinge überhaupt nicht Herr werden und wir konzentrieren uns auf Bereiche, die wir irgendwo steuern können. Und das ist eben beim Gang ins Geschäft, da kann ich entscheiden. Ich nehme ein Lebensmittel, von dem ich den Eindruck habe, es baut in meinem Leben eine zusätzliche Sicherheitskomponente ein. Dass die dann gar nichts nützt, das ist etwas ganz anderes, aber es gibt eben ein gutes Gefühl – ein Placebo-Effekt.

Heise: Und lässt es uns nicht auch noch auf etwas anderes gucken, nämlich dass wir das Gefühl haben, wir können unserem Körper und auch unsere Psyche, wenn nicht nur kontrollieren, auch aufbauen oder irgendwie verändern, indem wir bestimmte Dinge zu uns nehmen, bestimmte Dinge nicht zu uns nehmen, also ablehnen? Also, heißt das, dass wir durch unsere Nahrung auch versuchen, uns seelisch, psychisch und nicht nur physisch irgendwie zu verbessern?

Hirschfelder: Ja, auf jeden Fall. Das sind im Prinzip Produkte, die hier eben eine zusätzliche Sicherheit vermitteln, die überhaupt nicht in der Stofflichkeit dieser Lebensmittel begründet ist. Wir haben den Eindruck, dass wir unser Leben absichern müssen, da nehmen wir alle Haken und alle Mittel, die wir haben, ob es eine Lebensversicherung ist oder eine Sterbeversicherung, die wir vielleicht gar nicht brauchen und die als Finanzinstrument unsicher ist. Dann nehmen wir Functional-food-Produkte zu uns, von denen wir denken, dass die irgendwas mit uns machen.

Und dieses Mit-uns-Machen bedeutet ja, wir leben auch in einer Zeit, in der ich einen gesunden Körper und eine gesunde Psyche brauche, um in diesem gefühlt unsicheren Lebensumfeld überhaupt langfristig überleben zu können. Es sind also Strategien zur Krisenbewältigung, es sind Strategien zum Überlebenskampf in einer als unsicher erlebten Gesellschaft. Und das sind entscheidende Gründe, die dazu führen, dass diese Dinge auch gekauft werden, wenn sie physiologisch eben keinen Sinn machen.

Heise: Das ist ja nun nicht ganz was vollkommen Neues. Angefangen hat das doch beispielsweise, als diese ganzen probiotischen Joghurts auf den Plan traten, oder noch davor mit Nahrungsergänzungsmitteln oder zusätzlich zugeführten Vitaminpräparaten, oder?

Hirschfelder: Na ja, das beginnt im Prinzip im steinzeitlichen Schamanentum, setzt sich fort in der antiken Diätetik, die ja im Prinzip auch nichts anderes tut, als dass sie versucht, eben den Menschen mehr Sicherheit in einem ganzheitlichen Konzept zu vermitteln. Der mittelalterliche Aberglaube, der verbietet, bestimmte Dinge zu essen oder zu trinken, der tut eigentlich auch nichts anderes, auch die religiösen Schweigevorschriften, die jüdischen Kaschrutgesetze oder die christlichen Fastenvorschriften kann man in dieser Hinsicht interpretieren. Insofern haben wir es fast schon mit einer anthropologischen Grundkonstante zu tun.

Heise: Wo wird das hinlaufen, was glauben Sie?

Hirschfelder: Ja, die Dinge erleben Thematisierungskonjunkturen, es ist aber ein ganz klarer Trend erkennbar: Wir können Lebensmittel immer schlechter einschätzen, wir nehmen Dinge durch ihre Marke wahr, wir nehmen Dinge durch ihre Verpackung wahr. Wir trauen den Lebensmitteln nicht, weil wir nicht gelernt haben, richtig hinzuschmecken und hinzufühlen und hinzuriechen. Und je weniger wir Kompetenz haben für Lebensmittel, desto stärker werden wir anfällig für solche Thematisierungskonjunkturen. Wohin das führt, das ist die Frage. Wir haben eine gesellschaftliche Schere, dass auf der einen Seite immer mehr Menschen Experten sind und andere abschalten.

Das heißt, die nivellierte Mittelstandsgesellschaft haben wir verlassen. Und der Trend, der lässt sich umkehren: Wenn wir das Thema Essen und Trinken stärker in die Schulen und Kindergärten reinbringen, wenn wir es ganzheitlich betrachten, wenn wir Kindern beibringen, Dinge eben auch zu erfühlen und zu erschmecken und nicht nur zu erlesen, dann können wir wieder dazu kommen, dass wir als Gesellschaft einen gelernten handwerklichen, analogen Zugang zu Essen und Trinken haben. Und dann fallen wir nicht mehr auf solche, ja, auch Markttricks herein.

Heise: Den Trend zum gluten- und laktosefreien Lebensmittel für all diejenigen, die es eigentlich gar nicht nötig haben, den nahmen wir unter die Lupe. Professor Gunther Hirschfelder, Kulturwissenschaftler mit Spezialgebiet Ernährung, ich danke Ihnen schön für diese Aufklärung, Herr Hirschfelder!

Hirschfelder: Gerne!

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Gunther Hirschfelder
Gunther Hirschfelder© dpa / picture alliance / Petra Esser-Hirschfelder
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