In die Tragödie gestolpert
Martina Gedeck ist für Julian Pölsler eine der besten deutschen Schauspielerinnen. In seiner zweiten Haushofer-Verfilmung spielt sie erneut die Hauptrolle. Wiederum erzählt Pölsler eine Geschichte von unüberwindbaren Wänden und großen Herausforderungen.
Patrick Wellinski: Es war vor sechs Jahren ein wahrer Überraschungserfolg, als der österreichische Regisseur Julian Pölsler den als unverfilmbar geltenden Roman "Die Wand" von Marlen Haushofer mit Martina Gedeck in einer sehr konzentrierten Form ins Kino brachte. Nächste Woche erscheint eine weitere Haushofer-Verfilmung von Julian Pölsler in unseren Kinos. In "Wir töten Stella" spielt Martina Gedeck Anna, eine Hausfrau und Mutter, die den Tod einer jungen Frau verarbeitet, die sie in ihrer Familie zuvor aufgenommen hat.
Herr Pölsler, "Wir töten Stella" ist der zweite Haushofer-Text, den Sie jetzt verfilmen. Sie planen sogar eine ganze Trilogie, war zu lesen. Was ist es denn an den Romanen beziehungsweise an den Erzählungen von Marlen Haushofer, das Sie so sehr beschäftigt?
Julian Pölsler: Das ist eine gute Frage. Wissen Sie, die stelle ich mir selbst sehr oft. Aber die Texte sind auf mich zugekommen, dass ich manchmal das Gefühl habe, nicht ich suche sie mir aus, sondern die Texte suchen sich mich aus. Und ich finde es einfach faszinierend, welche Sprache Marlen Haushofer im Stande ist zu sprechen in ihren Erzählungen. Und das hat mich so fasziniert, dass ich dachte, man müsste diese Sprache auf eine große Plattform stellen, und dazu geeignet ist der Kinofilm.
Die Freiräume der Erzählung mit präzisen Bildern gefüllt
Wellinski: Sie müssen sich ja als Regisseur ein visuelles Konzept für diese Sprache überlegen. Das ist gar nicht so leicht, gerade bei dieser sehr klaren, sehr präzisen von Marlen Haushofer. Können Sie uns vielleicht erzählen, wie Sie an dem visuellen Konzept für "Die Wand", aber vor allem jetzt für "Wir töten Stella" gearbeitet haben?
Pölsler: Ich finde ja, dass Haushofer gerade in "Die Wand" ein genaues visuelles Konzept vorgibt. Sie schreibt genau, was die Heldin macht, in welcher Umgebung sie ist, und präzisiert dann ihre Gedanken in diesen Texten, die ich dann in das Drehbuch von "Die Wand" übernommen habe als Off-Stimme. Bei "Wir töten Stella" war es etwas komplizierter, aber zugleich auch einfacher, weil es mehr äußere Handlung gibt, und diese äußere Handlung, die zwischen diesen präzisen Texten Freiräume lässt, die habe ich dann versucht mit Bildern zu füllen.
Wellinski: Wie würden Sie den Kern von "Wir töten Stelle", der Erzählung, aber letztendlich auch Ihres Films beschreiben? Es geht ja um eine Hausfrau und Mutter, die sich mit einer Tatsache auseinandersetzen muss, dem Tod eines Mädchens, das sie zu sich aufgenommen hat, die titelgebende Stella. Es gibt viele Szenen in Ihrem Film, wo Anna, gespielt von Martina Gedeck, aus dem Fenster guckt. Und ich hatte das Gefühl, dass das vielleicht schon ein Weg zum Kern der Geschichte ist, ein Blick in etwas, in einen Abgrund vielleicht.
Pölsler: Exakt. Darum, glaube ich, ging es Haushofer schon bei der "Wand", aber auch bei "Wir töten Stella". In der Entstehungsgeschichte ist ja "Wir töten Stella" vorher geschrieben worden, fünf Jahre vor "Die Wand". Aber man erkennt ganz deutlich Parallelen sowohl stilistischer Natur als auch, was die Hauptfigur und ihre Nöte betrifft. Für mich ist die Geschichte von "Wir töten Stella", dass diese junge Frau zu Tode kommt und die Frau, die sie aufgenommen hat in ihrem Haus, bezichtigt sich und ihre Familie, sie getötet zu haben, ist für mich nur das Äußere. Innerlich, glaube ich, geht es wie immer bei Haushofer um das Thema des Ausbruchs, der Flucht, des Versuchs, eine anscheinend undurchdringliche Wand zu durchbrechen.
Keine Problematik der 50er
Wellinski: Das haben Sie schon in "Die Wand" sehr schön gezeigt, eine unsichtbare Wand im wahrsten Sinne des Wortes. Es gibt nun in "Wir töten Stella" Szenen, die dahin auch referieren, die rekurrieren, in denen Sie sich selbst zitieren, könnte man fast sagen. Anna rennt in einer Art Albtraumsequenz gegen eine Wand. War Ihnen das wichtig, so auch quasi einen visuellen Bezug zu Ihrem Vorgängerfilm zu bilden?
Pölsler: Ja, das war mir insofern wichtig, weil ich glaube, dass auch Haushofer das so gesehen und geschrieben hat. Für sie ist es dieselbe Frau, und ihre Versuche, eine Wand zu durchbrechen, sind halt anders geartet, denn in der "Wand" ist sie ja allein, es sind keine Menschen um sie herum, und sie muss mit dieser Situation zurechtkommen. In "Wir töten Stella" hat sie zwar eine Familie, einen Mann und zwei Kinder um sich, aber man spürt, sie ist genauso allein wie die Frau in "Die Wand".
Wellinski: Wie würden Sie eigentlich diese Grunddynamik beschreiben, in dem Moment, wenn Anna Stella aufnimmt? Bin ich da sehr nahe, wenn ich sage, Anna fühlt sich im ersten Moment von dieser unschuldigen, jungen Stella bedroht?
Pölsler: Ja, da haben Sie den Film sehr aufmerksam angeschaut. Es gibt ja beim ersten Aufeinandertreffen der beiden Frauen einen Blickkontakt, und dort ist diese Bedrohung sehr stark zu spüren. Aber wissen Sie, ich gehe ja über das hinaus. Ich sage ja teilweise, wenn ich Haushofers Novelle lese, spüre ich, da ist etwas, wo ich sagen würde, Stella ist der junge Anteil von Anna. Das ist eigentlich sie selbst. Sie selbst, die in die Tragödie gestolpert ist. Und das Spannende ist, dass sie als erfahrene Frau genauso in eine Tragödie stolpert. Die Frage ist eben, können wir die Wände, die uns umgeben, durchbrechen, und wenn ja, wie?
Wellinski: Das ist sehr interessant. In dem Moment ist ja auch Ihre Anna, die Sie kreiert haben aus der Haushofer-Vorlage, auch eine ziemlich moderne Figur. Wir dürfen ja nicht vergessen, dass die Anna aus der Erzählung von 1958 stammt und daher auch in einem sehr spezifischen zeitgenössischen Korsett steckt.
Pölsler: Ja. Aber es war mir wichtig, zu zeigen, dass diese Problematik und diese Frauen es auch heute noch gibt. Auch wenn das manche Frauen nicht wahrhaben wollen, aber mir bestätigen gerade die Reaktionen nach den Filmvorführungen sehr stark, dass es diese Frauen sehr wohl noch gibt. Und ich glaube, dass dieses In-die-Jetztzeit-holen des Stoffs ihn spannender gemacht hat, weil wenn man ihn in den 50er-, 60er-Jahren belassen hätte, dann wäre sicher die Diskussion entstanden, ach ja, das war mal so, das ist schlimm. Für mich ist aber die Diskussion: Ist das nicht jetzt auch noch so? Sehr, sehr spannend und interessant. Bei "Die Wand" war es immer spannend zu hören, wie die Leute nach der Filmvorführung sich selbst gefragt haben, was ist diese Wand. Und hier ist es die Diskussion, was leitet diese Frau, und gibt es diese Frauen heutzutage noch, und diese Diskussion finde ich spannend.
Hinweise auf den dritten Teil eingewoben
Wellinski: Sie arbeiten ja auch wieder mit Martina Gedeck zusammen. Warum war Ihnen das wichtig, dass sie auch jetzt "Wir töten Stella" noch da ist?
Pölsler: Haushofer hat drei Romane geschrieben, die inhaltlich zusammengehören, in denen sie eine Ich-Erzählerin berichten lässt. Das eine ist "Wir töten Stella", das zweite ist "Die Wand" und das dritte ist "Die Mansarde", an der ich auch arbeite. Martina Gedeck ist ja eine großartige Schauspielerin, die zu den besten des deutschsprachigen Raums für mich gehört, und es lag auf der Hand, auch den zweiten Teil mit ihr zu drehen. Sie wird auch im dritten Teil der Trilogie wieder die Hauptrolle spielen. Ich hoffe halt, dass sie die Hauptrolle übernimmt. Aber ich bin guter Dinge, weil wir haben während der Dreharbeiten zu "Wir töten Stella" bereits über "Die Mansarde" gesprochen. Und es gibt im Film ja auch schon einige Hinweise auf den dritten Teil der Trilogie. Martina Gedeck ist für mich einfach ein Junktim in dieser Trilogie von Haushofer.
Wellinski: Und wir freuen uns dann eines Tages auf die komplette Trilogie. Der österreichische Regisseur Julian Pölsler war mein Gast. Sein Spielfilm "Wir töten Stella" kommt Donnerstag in die deutschen Kinos. Vielen Dank für Ihre Zeit, für den Film, und ich wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg.
Pölsler: Vielen, vielen Dank, Grüße nach Deutschland!
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