Deutsches Selbstbewusstsein
2014 wird neue Herausforderungen bringen, innen- wie außenpolitisch. Wenn die Deutschen ihre Rolle in Europa finden wollen, sollten sie ihr "verklemmtes Nationalgefühl" überwinden, meint die Psychologin Astrid von Friesen.
Der große Soziologe Norbert Elias beschäftigte sich mit der Entstehung des Charakters und der Mentalität einer Nation. Im Gegensatz zu den Franzosen und Engländern, die einen kontinuierlichen Weg in einen modernen Staat und zu einem gesunden Nationalstolz vollbrachten, ist Deutschland seit Jahrhunderten gezeichnet von Brüchen, traumatischen Konflikten, Übergriffen und einer labilen nationalen Identität.
Uns fällt es schwer, stolz zu unserem Land zu stehen und dies in der Gegenwart von Fremden offen zu zeigen. Diese Tendenzen wurden nochmals verstärkt durch die beiden verlorenen Weltkriege, den Faschismus und die deutsche Teilung.
Die Wiedervereinigung ist der erste gelungene Versuch einer Integration, worüber wir fraglos stolz sein können. Doch obwohl wir mittlerweile einen Präsidenten aus Mecklenburg und eine Kanzlerin aus Brandenburg haben, und Hunderttausende bei der Fußballweltmeisterschaft 2006 erstmalig voller Begeisterung die deutschen Fähnchen schwenkten, wirkt das historisch fehlende Selbstvertrauen immer noch nach.
Verkümmertes Nationalgefühl führt zu geistiger Enge
Ein verkümmertes, verklemmtes Nationalgefühl führt zu Angst und deswegen zu geistiger Enge, emotionaler Unsicherheit und einem Nicht-Erwachsen-Sein, nicht nur auf der individuellen, sondern auch auf der Ebene einer Nation. Abzulesen daran, dass wir immer die Musterschüler Amerikas bzw. der Sowjetunion waren, sein mussten und es bis heute noch sind. Die NSA-Affäre zeigt uns gerade wieder, wie wir unsicher zwischen Empörung und Einlenken schwanken.
Auch hat unsere politische Führung immer noch Angst, gegen den Mainstream zu handeln und die politische Entwicklung in Europa vorzugeben. Angst in die Führungsrolle zu gehen, da unsere traumatischen Erfahrungen mit diversen missbräuchlichen Führern bis heute prägend sind. Lieber im Tandem mit den Franzosen: Aus Angst auch vor zu viel Neid und Rivalität, die ausbrechen würden. Und böse Reflexe sind ja auch sofort, zum Beispiel in Griechenland, hochgekocht.
Wenn Führungsrollen übernommen werden, dann im Schutz der EU oder der UNO – sozusagen als elterliches Rückgrat vor dem Neid der "Geschwisterhorde". Doch Führung – das lässt sich nun wirklich von den USA lernen – ist nicht ohne Anfeindungen zu haben. Vor ihr auszuweichen, ist nicht unbedingt Ausweis von Stärke, Einsicht oder Diplomatie.
Deutsche können auf vieles stolz sein
Im Gegenteil: Wir haben den Vorteil, anders als die Amerikaner, Franzosen und Engländer, kein gewichtiges koloniales Erbe zu verdauen und deswegen zu meinen, überall Weltpolizei spielen zu müssen. Und für uns spricht zu wissen, was es heißt, sich über lange Zeit kritisch mit eigener Schuld an Kriegen, Diktatur und Verfolgung auseinanderzusetzen, zu wissen, dass uns die Folgen bis mindestens in die vierte Generation anhängen werden.
Stolz können wir nicht nur auf die friedliche Revolution von 1989 sein, auch darauf, dass wir - anders als die Franzosen und Engländer - keinen zentralistischen Staat mit gebündelter Macht in den Hauptstädten aufgebaut haben. Auch auf die wachen Bürgerinitiativen, unsere tief in der Mitte wurzelnde Zivilgesellschaft, die so manchen politischen Größenwahn korrigieren; ebenso auf die bei uns entwickelte Soziale Marktwirtschaft mit starken und kooperativen Gewerkschaften.
Eine erwachsene deutsche Identität, frei von Chauvinismus oder Verklemmung, würde sich offen zu eigenen Erfahrungen, Positionen und Interessen bekennen, aber eben nicht auftrumpfen, sondern sich selbst verpflichten, von anderen nur zu verlangen, was wir selbst zu leisten bereit sind.
Astrid von Friesen, Jahrgang 1953, ist Journalistin, Erziehungswissenschaftlerin, sowie Gestalt- und Trauma-Therapeutin in Dresden. Sie unterrichtet an der Uni Freiberg, macht Lehrerfortbildung und Supervision. Außerdem schreibt sie, zuletzt: „Schuld sind immer die anderen! Die Nachwehen des Feminismus: frustrierte Frauen und schweigende Männer“ (Ellert & Richter Verlag Hamburg).