"Wir wollten doch immer alle älter werden"

Gertrud Backes im Gespräch mit André Hatting |
Nach Einschätzung der Soziologin Gertrud Backes hat die Bundesregierung bislang nicht angemessen auf die steigende Zahl älterer Menschen reagiert. Auch seien noch zu wenig Unternehmen auf die Zahl älterer Arbeitnehmer eingestellt, sagte sie anlässlich des Kongresses "Tag der Demografie".
André Hatting: Deutschland wird kleiner, ärmer und älter. Jede neue Untersuchung zur Bevölkerungsentwicklung bestätigt das. Wirksame Gegenmaßnahmen - bislang Fehlanzeige. Jetzt plant die Bundesregierung eine Demografie-Strategie, das Kabinett will sie morgen vorstellen, eingerahmt von einem Kongress in Berlin zum selben Thema.

Nach alldem, was bislang durchgesickert ist, wollen Merkel und Co. die Geburtenrate erhöhen, und das vor allem bei Akademikerinnen. Am Telefon begrüße ich jetzt Gertrud Backes, sie ist Inhaberin des Lehrstuhls für Altern und Gesellschaft und Direktorin des gleichnamigen Zentrums an der Universität Vechta. Guten Morgen, Frau Backes!

Gertrud Backes: Ja, guten Morgen!

Hatting: Geburtenrate erhöhen, das ist nicht neu. Schon das Elterngeld ging ja in diese Richtung – die Gesellschaft werden wir so mittelfristig nicht verjüngen. Das ist Fakt. Vermissen Sie eigentlich eine Strategie, die auf die rasant wachsende Zahl älterer Menschen eingeht?

Backes: Aus meiner Sicht ist diese Frage nicht ganz treffend gestellt, denn das Thema beziehungsweise das Problem ist aus wissenschaftlicher Sicht nicht die rasant wachsende Strategie älterer Menschen alleine, sondern wenn überhaupt, dann die rasant wachsende Zahl älterer Menschen im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Entwicklungen, und auf beides wird nicht angemessen reagiert.

Also wir haben nicht das Problem, dass wir mehr ältere Menschen haben – wie können wir das überhaupt als Problem bezeichnen, wir wollten doch alle immer älter werden –, wir haben auch nicht das Problem, dass wir weniger jüngere Menschen haben, sondern wir haben eine gesellschaftlich erstmalige, einmalige bisher, völlig unbekannte extreme Herausforderung durch diese Veränderung in der demografischen Struktur und müssen darauf mit allen gesellschaftlichen Mitteln, auf allen Ebenen, allen Institutionen und so weiter reagieren.

Da ist so was wie Betreuungsgeld aus meiner Sicht ziemlich fern einer angemessenen Reaktion, und auch die Diskussion um Geburtenrate bewegt sich, wenn überhaupt, dann an einem einzigen Symptom, und man kann gar nicht davon sprechen, dass wir bisher irgendwie angemessen auf diese Strategie reagieren mit den Punkten, die sie angedeutet haben und die im Moment diskutiert werden.

Hatting: Sie machen klar, dass der Kontext viel größer ist, dass das Problem viel komplexer ist. Ich erlaube mir trotzdem noch mal, einen Punkt herauszugreifen. Bislang hat die Bundesregierung – haben die Bundesregierungen – darauf reagiert, dass Menschen immer älter werden, dass sie das Renteneintrittsalter erhöht haben auf 67. Wäre das ein Punkt, der zu einer vernünftigen Strategie gehört oder ist das auch der falsche Ansatz?

Backes: Wenn wir das Renteneintrittsalter im Moment auf 67 erhöhen, dann ist es Fakt, faktisch und praktisch in der Konsequenz nichts anderes als eine Sparpolitik, weil es gehen damit kaum weniger Menschen erst mit 67 in Rente, sondern es findet eine Einsparpolitik statt, indem die Menschen nach wie vor früher in Rente gehen, aber weniger Rente haben.

Im Endeffekt ist die Entwicklung der Lebensarbeitszeit und damit auch des Beginns des sogenannten Rentenalters schon ein Thema, aber man darf es nicht so punktuell betrachten, indem man sagt, man muss jetzt das Rentenalter höher setzen. Man muss generell an der Einbindung der Menschen in Arbeit und an der Verteilung von Arbeit über den Lebenslauf arbeiten.

Das heißt, man muss sich fragen: Wie viel Zeit ist es sinnvoll, dass jüngere Menschen in welchen Lebensabschnitten arbeiten, Sozialversicherungspflichtig arbeiten? Wie viel Zeit ist es sinnvoll, dass ältere Menschen und auch alte Menschen sozialversicherungspflichtig beispielsweise arbeiten oder auch in anderen Kontexten arbeiten? Das heißt, die Frage, wie verteilen wir die Arbeit zwischen den Generationen, und wie verteilen wir den Beitrag zur gesellschaftlichen Produktivität, zur Versorgung von Menschen in unterschiedlichen Lebenslagen, diese Frage muss generell neu gestellt werden, und da ist eben das Thema Rente mit 67 nichts anderes als ein Versuch, an einem Punkt symptomatisch zu arbeiten, der im Moment in die falsche Richtung geht.

Hatting: Sie haben, Frau Backes, gerade angesprochen, dass es darauf ankomme, die Arbeit eben zwischen den Generationen sinnvoller zu verteilen, die Arbeitsquanten, wenn man so will. Wie sieht das denn in der Arbeitswelt aus? Wären denn die Arbeitgeber darauf vorbereitet, vermehrt ältere Menschen einzustellen? Sie selber haben dazu ja geforscht mit mehreren Projekten.

Backes: Im Moment, wenn, dann ganz wenig. Man kann jetzt nicht sagen, kein Arbeitgeber ist vorbereitet, es gibt durchaus Arbeitgeber, die sich Gedanken machen – auch schon vor Jahrzehnten war das der Fall –, denen klar ist, dass auch ältere Arbeitnehmer, oder gerade ältere Arbeitnehmer, Arbeitnehmerinnen, durch sehr hohe Produktivität gekennzeichnet sein können, wenn man es zulässt, dass zum Beispiel Erfahrungswerte dabei eine Rolle spielen.

Aber das ist die Minderheit, denn im Augenblick herrscht im Erwerbsleben, wenn man jetzt Durchschnitte sieht, wenn man Mehrheiten sieht, eher der verstärkte Zug in Richtung junge Arbeitskräfte, junge Arbeitnehmer zu gehen, wo man zunächst mal weniger in Aufrechterhaltung der Arbeitskraft, der Gesundheit, der Produktivität investieren muss, aber nach einiger Zeit dann eben genau vor dem Problem steht, was machen wir, wenn wir Arbeitskraft über den Lebenslauf oder über Jahrzehnte erhalten wollen, produktiv halten wollen, dabei die Menschen gesund halten wollen und damit auch die Chancen erhöhen wollen, dass längere Lebensarbeitszeiten möglich sind.

Im Augenblick ist noch viel zu wenig darauf eingestellt, im Erwerbsleben besteht nach wie vor so was wie Aversion gegen Alter oder Ageism, wenn man es neudeutsch ausdrücken will, also eine Art Altenfeindlichkeit, die aber nicht daher kommt, dass jetzt Einzelne was gegen ältere Menschen hätten, sondern die was damit zu tun haben, dass man sich generell nicht damit auseinandersetzt, welche Produktivität, welche Chancen im verlängerten Leben liegen, wenn wir die Lebens- und Arbeitsbedingungen so gestalten, dass entsprechende Einbindung möglich ist.

Hatting: Frau Backes, Sie haben jetzt klargemacht, dass das Thema sehr komplex ist, dass es viele Baustellen gibt, und dass die Bundesregierung nicht unbedingt an den richtigen grade arbeitet. Wenn Sie einen Aspekt herausgreifen müssten, bei dem wir jetzt, und zwar wirklich jetzt, anfangen müssten, welcher ist das?

Backes: Das ist eine generelle Verteilung, eine generelle Änderung der Arbeitszeiten und der gesundheitlichen Bedingungen über das Erwerbsleben. Also Erwerbsleben so gestalten, dass wir länger produktiv sein können, das heißt auch schon, Bildungsvoraussetzungen anders gestalten. Das bedeutet, nicht lange Vorbereitungszeit, lange Zeit danach, und in der Mitte des Lebens, in den Jahrzehnten 30 bis 60, in erster Linie Konzentration auf Erwerbsleben, sondern jeweils Konzentration auf Erwerbsarbeit und Familie, das sei Kinder, das sei Pflege älterer, kranker Menschen, muss anders aufgeteilt werden. Das heißt im Endeffekt nachdenken über eine gesündere Gestaltung der Arbeitsbedingungen, der Erwerbsarbeitsbedingungen und über - also zwei Punkte - und über eine andere Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Familie.

Hatting: Vielleicht hat ja ein Vertreter der Bundesregierung zugehört. Anlässlich der Demografie-Strategie des Kabinetts sprach ich mit Gertrud Backes. Sie leitet das Zentrum für Altern und Gesellschaft an der Universität Vechta. Vielen Dank für das Gespräch, Frau Backes!

Backes: Gerne!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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