"Wir wurden verschrien als Kanzler-Museum"
Die Vorstellungen über Vergangenes sind nicht in Stein gemeißelt, sie wandeln sich ständig. Nach diesem Motto betreibt Museumsmann Alexander Koch das Haus der Deutschen Geschichte in Berlin. Er will vor allem eines: zum Nachdenen anregen.
Ulrike Timm: 25 Jahre alt wird das Deutsche Historische Museum in diesen Tagen. Als es gegründet wurde – ein Lieblingskind des damaligen Kanzlers Kohl –, als es gegründet wurde, da war die Welt gerade noch ziemlich klar aufgeteilt: Es gab zwei Deutschlands in einem Europa in einer Welt, die schon auf einem globalen Wege war, sich aber lange noch nicht so stark als eine globale Welt verstand. Eine gemeinsame europäische Währung, eine gemeinsame europäische Krise, eine wirtschaftlich so verwobene Welt, dass ein angestoßener Dominostein irgendwo am vermeintlichen Rand ganze globale Räume erschüttert, das gab es so noch nicht. Insofern hat sich in den letzten 25 Jahren viel verändert, in der Welt wie fürs Deutsche Historische Museum, auch in der Geschichtsbetrachtung. Darüber wollen wir nun sprechen mit dem Präsidenten des Deutschen Historischen Museums, mit Alexander Koch, schönen guten Tag!
Alexander Koch: Guten Tag!
Timm: Herr Koch, Sie haben sich sozusagen ein Geburtstagssymposium geschenkt - Thema "Nationale Geschichte, Stifterin von Identität oder Auslaufmodell", Fragezeichen. Muss ein Museumsdirektor wie Sie nicht quasi auf der Nationalgeschichte als Stifterin von Identität bestehen?
Koch: Geschichtswissenschaftler, aber auch historische Museen tun immer gut daran, dass sie ihre eigenen Standpunkte hinterfragen. Geschichtsbilder sind laufend, ständig im Wandel, das machen Geschichtsbilder aus. Und so wie unser Deutschland-Begriff, unser Europa-Begriff ständig Veränderungen unterworfen ist, so ist eben auch unser Geschichtsbild etwas, das wächst, das sich wandelt.
Und genau diese Dynamik, dieses Prozesshafte ist, denke ich, wichtiger denn je, denn es macht deutlich, dass eine solche Einrichtung keinen Selbstzweck verfolgt, sondern dass sie den Gästen, die unser Haus aufsuchen, etwas an die Hand geben möchten, dass wir sie aber auch auffordern, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Es geht uns letzten Endes um die Vermittlung, ja, überhaupt die Herausbildung eines Geschichtsbewusstseins.
Timm: Dann schauen wir uns das mal an! Wenn ein nationaler Staat global handelt, wie beeinflusst sich das und wie sieht man das dann später als Besucher bei Ihnen?
Koch: Sie haben es in der Einführung kurz angesprochen, ein Haus reflektiert seine eigene Geschichte, seine eigene Gründungsgeschichte. Wir wurden verschrien als Kanzler-Museum, als Kohl-Museum. Es gab prominente Historiker, Journalisten, auch Politiker, die der Gründungsidee dieses Museums mit deutlichen Worten entgegentraten.
Interessanterweise traf ich gestern einen prominenten Zeithistoriker, der damals Beiträge dazu lieferte, ein solches Museum verhindern zu wollen. Und er sagte, heute hat er einen ganz anderen Standpunkt, er ist froh, dass es uns gibt. Das heißt, dass die kleine Idee, die damals reifte, gewachsen ist. Aber sie ist deshalb gewachsen und heute so erfolgreich, weil sie sich gewandelt hat und weiter wandeln wird in eben einer veränderten Welt, in einer anderen Gesellschaft unter den Aspekten des demografischen Wandels, unter dem Aspekt, dass das, was wir als Deutschland, und auch das, was wir als Europa begreifen, nicht etwas ist, das vom Himmel fällt, sondern immer auch etwas ist, das eine Errungenschaft ist, für die es sich lohnt zu kämpfen, für die wir aber auch den Aspekt der Weiterentwicklung integral aufnehmen müssen.
Und das bedeutet natürlich auch für den Besucher, dass wir keine in Stein gemeißelte Geschichtsvorstellungen vermitteln, sondern wir regen an zum Nachdenken.
Timm: Lassen Sie uns noch mal bei dem Begriff bleiben: Deutsches Historisches Museum. Heute sagt man das ganz selbstverständlich, auch ganz egal, wie man es politisch betrachtet. Ich weiß noch, 87, Deutsches Historisches Museum … - die Betonung war bei vielen: So was darf man doch nicht sagen! Wie hat sich das gewandelt, wie sieht man das bei Ihnen, diesen unterschiedlichen Begriff?
Koch: Wir müssen uns vorstellen, in den 80er-Jahren: Die Geschichtswissenschaft in Deutschland war geprägt vom Historikerstreit.
Timm: Die Diskussion um die Rolle …
Koch: Die Diskussion, genau, um die Frage, …
Timm: … der Politik im Zweiten Weltkrieg.
Koch: … eine Frage der Verhältnismäßigkeit, die Frage des historischen Vergleichens. Damit einher aber auch die Frage: Darf Deutschland als Nation sich ein solches Museum erlauben, in einem Land mit einer ausgeprägten Kulturhoheit der Länder? Es gab Länder, die gegen die Gründung dieser Einrichtung waren. In hartem Ringen mit den Ländern gelang die Gründung.
Sie müssen noch mal den Blick zurückwenden: Die Zeit der 80er-Jahre, die aus soziologischer Sicht auch gerne als Zeit der zweiten Moderne betrachtet wird, war eine Zeit, in der hier und dort schon spürbar wurde, dass sich die politischen Verhältnisse ändern mussten und ändern konnten. Denken Sie an die Entwicklung in Polen, denken Sie an die Entwicklung in Tschechien.
Der Fall der Mauer, auch die Wiedervereinigung kam für viele urplötzlich. Aber seither hat sich die Situation weiter verändert, und in diesen letzten 25 Jahren sind weltweit in vielen Ländern nationale Geschichtseinrichtungen entstanden, neu gegründet worden. Ich will damit nur kurz andeuten, dass es ein Modell ist, das erfolgsträchtig ist, das wahrgenommen wird auch im internationalen Bereich. Und das unabhängig ist von jedweder politischen Instrumentalisierung. Das macht ein solches Haus so unerschöpflich.
Timm: Wir sprechen mit dem Präsidenten des Deutschen Historischen Museums, mit Alexander Koch. Sie machen ja Ausstellungen, die sich auch so einem gewandelten Geschichtsbegriff zuwenden, die weniger auf Daten und Fakten beruhen als zum Beispiel auf Mythen. Eine Ausstellung hieß "Unter Bäumen". Ja, ist das von dem verwandelten Geschichtsbegriff mitgestaltet?
Koch: Insofern, als wir ganz diskursiv mit Mythen umgehen. Mythen sind Vorstellungen, die in den Köpfen entstehen. Der deutsche Wald, die deutschen Klassiker, die deutschen Märchen.
Es geht uns im Museum immer darum, auch solche Mythen, solche Vorstellungen zu brechen, zu dekonstruieren, aber auch deutlich zu machen, dass das, was Geschichtsbilder ausmacht, eben Konstruktionen sind, Interpretationen, und wir immer wieder gut daran tun, diese Dinge auch gegen den Strich zu bürsten, zu hinterfragen selbstkritisch.
Wir hatten in diesem Jahr anlässlich des 300. Geburtstags von Friedrich dem Großen eine sehr erfolgreiche Ausstellung unter dem Titel "Friedrich der Große, verehrt, verklärt, verdammt". In dieser Ausstellung reflektierten wir die unterschiedlichen Vereinnahmungen des Preußenkönigs bis in die Gegenwart hinein. Und es ist natürlich so, dass wir, unsere heutige Gesellschaft, munter am Mythos Friedrichs des Großen weiterstricken! Auch das müssen wir anerkennen! Und das auch dem Publikum gegenüber zu signalisieren.
Ja, selbst diese Feierlichkeiten zum 300. Geburtstag tragen dazu bei, die Medienberichterstattungen, das, was ich jetzt gerade Ihnen gegenüber erzähle, trägt dazu bei, dass solche Vorstellungen fortgeschrieben werden! Nichtsdestowichtiger sehen wir uns natürlich auch als Anwalt einer kritischen Überprüfung solcher Mythen!
Timm: Man muss ja auch gar nicht so weit zurückgehen, um zu gucken, dass man sich die gleichen Jahre ganz unterschiedlich angucken kann. Sie sind nach der Wiedervereinigung mit dem Deutschen Historischen Museum ins Zeughaus gezogen, ins damalige Ostberlin. Inwieweit sind Sie auch ein deutsch-deutsches Museum?
Koch: Selbstverständlich, das sind wir. Wir sind ein Spiegelbild der deutsch-deutschen Wiedervereinigung und mit der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 haben wir das Museum für Deutsche Geschichte, das MfDG übernommen, damit eine große Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Sammlungen, die Gebäude. Und das ist natürlich auch ein Prozess des Zusammenwachsens. Das DHM, das Deutsche Historische Museum war bis dato eine kleine Einrichtung, ein Schnellboot. Dann kam ein Riesentanker hinzu. Und heute kann man wirklich sagen, wir …
Timm: … sind Sie ein Gesamtboot ohne Beiboot!
Koch: Das will ich nicht sagen, wir haben auch weiterhin Schnellboote. Denn aus der Geschichte dieses Hauses heraus gingen ja andere erfolgreiche Einrichtungen hervor, das Alliierten-Museum, das Deutsch-Russische Museum und jüngst beispielsweise auch die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung.
Timm: Bis heute hat man manchmal den Eindruck, es gibt immer noch deutsch-deutsche Elemente im Gesamtdeutschen. Also, seien es Nachwehen der Wiedervereinigung, seien es schlicht, ja, unterschiedliche Erfahrungen, die man sich immer wieder neu einander erzählen muss. Wie nehmen Sie das auf im Deutschen Historischen Museum?
Koch: Indem wir unterschiedliche Perspektiven auf das gleiche Thema richten, indem wir verschiedene Stimmen zu Wort kommen lassen. Es gibt eben unterschiedliche Sichtweisen auf den Palast der Republik beispielsweise, auf das Staatsratsgebäude, auf das Zeughaus und dergleichen mehr.
Es geschieht über unterschiedliche Perspektiven. Aber nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern um deutlich zu machen, dass Geschichte sehr viel zu tun hat mit Wahrnehmung. Und Wahrnehmungen hat etwas zu tun mit dem Individuum. Und damit sind wir natürlich auch am Kern dessen, was Geschichte bedeutet: Es sind Vorstellungen in unseren Köpfen über Vergangenes.
Und das bedeutet natürlich auch, dass wir in unserem Museum unterschiedliche Perspektiven auf ein und das gleiche Objekt, auf ein und das gleiche Thema zu Wort kommen lassen wollen und müssen. Das ist bei Friedrich dem Großen genau so wie bei einer Plastik von Lenin, die wir mit einer Selbstverständlichkeit bei uns im Foyer präsentieren. Lenin ist von der deutschen Geschichte nicht zu trennen, er hat seinen Platz bei uns!
Timm: Alexander Koch, der Präsident des Deutschen Historischen Museums, das in diesen Tagen 25 Jahre alt wird und sich zum Geburtstag ein Symposium schenkt, "Nationale Geschichte – Stifterin von Identität oder Auslaufmodell?" So heißt die Frage, die heute Abend ab 19:00 Uhr dort diskutiert wird und die sich auch in unserem Programm widerspiegelt, in gut einer Woche in der "Werkstatt" ab 0:05 Uhr können Sie einen Zusammenschnitt dieser Veranstaltung hören! Herr Koch, ich danke Ihnen!
Koch: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Alexander Koch: Guten Tag!
Timm: Herr Koch, Sie haben sich sozusagen ein Geburtstagssymposium geschenkt - Thema "Nationale Geschichte, Stifterin von Identität oder Auslaufmodell", Fragezeichen. Muss ein Museumsdirektor wie Sie nicht quasi auf der Nationalgeschichte als Stifterin von Identität bestehen?
Koch: Geschichtswissenschaftler, aber auch historische Museen tun immer gut daran, dass sie ihre eigenen Standpunkte hinterfragen. Geschichtsbilder sind laufend, ständig im Wandel, das machen Geschichtsbilder aus. Und so wie unser Deutschland-Begriff, unser Europa-Begriff ständig Veränderungen unterworfen ist, so ist eben auch unser Geschichtsbild etwas, das wächst, das sich wandelt.
Und genau diese Dynamik, dieses Prozesshafte ist, denke ich, wichtiger denn je, denn es macht deutlich, dass eine solche Einrichtung keinen Selbstzweck verfolgt, sondern dass sie den Gästen, die unser Haus aufsuchen, etwas an die Hand geben möchten, dass wir sie aber auch auffordern, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Es geht uns letzten Endes um die Vermittlung, ja, überhaupt die Herausbildung eines Geschichtsbewusstseins.
Timm: Dann schauen wir uns das mal an! Wenn ein nationaler Staat global handelt, wie beeinflusst sich das und wie sieht man das dann später als Besucher bei Ihnen?
Koch: Sie haben es in der Einführung kurz angesprochen, ein Haus reflektiert seine eigene Geschichte, seine eigene Gründungsgeschichte. Wir wurden verschrien als Kanzler-Museum, als Kohl-Museum. Es gab prominente Historiker, Journalisten, auch Politiker, die der Gründungsidee dieses Museums mit deutlichen Worten entgegentraten.
Interessanterweise traf ich gestern einen prominenten Zeithistoriker, der damals Beiträge dazu lieferte, ein solches Museum verhindern zu wollen. Und er sagte, heute hat er einen ganz anderen Standpunkt, er ist froh, dass es uns gibt. Das heißt, dass die kleine Idee, die damals reifte, gewachsen ist. Aber sie ist deshalb gewachsen und heute so erfolgreich, weil sie sich gewandelt hat und weiter wandeln wird in eben einer veränderten Welt, in einer anderen Gesellschaft unter den Aspekten des demografischen Wandels, unter dem Aspekt, dass das, was wir als Deutschland, und auch das, was wir als Europa begreifen, nicht etwas ist, das vom Himmel fällt, sondern immer auch etwas ist, das eine Errungenschaft ist, für die es sich lohnt zu kämpfen, für die wir aber auch den Aspekt der Weiterentwicklung integral aufnehmen müssen.
Und das bedeutet natürlich auch für den Besucher, dass wir keine in Stein gemeißelte Geschichtsvorstellungen vermitteln, sondern wir regen an zum Nachdenken.
Timm: Lassen Sie uns noch mal bei dem Begriff bleiben: Deutsches Historisches Museum. Heute sagt man das ganz selbstverständlich, auch ganz egal, wie man es politisch betrachtet. Ich weiß noch, 87, Deutsches Historisches Museum … - die Betonung war bei vielen: So was darf man doch nicht sagen! Wie hat sich das gewandelt, wie sieht man das bei Ihnen, diesen unterschiedlichen Begriff?
Koch: Wir müssen uns vorstellen, in den 80er-Jahren: Die Geschichtswissenschaft in Deutschland war geprägt vom Historikerstreit.
Timm: Die Diskussion um die Rolle …
Koch: Die Diskussion, genau, um die Frage, …
Timm: … der Politik im Zweiten Weltkrieg.
Koch: … eine Frage der Verhältnismäßigkeit, die Frage des historischen Vergleichens. Damit einher aber auch die Frage: Darf Deutschland als Nation sich ein solches Museum erlauben, in einem Land mit einer ausgeprägten Kulturhoheit der Länder? Es gab Länder, die gegen die Gründung dieser Einrichtung waren. In hartem Ringen mit den Ländern gelang die Gründung.
Sie müssen noch mal den Blick zurückwenden: Die Zeit der 80er-Jahre, die aus soziologischer Sicht auch gerne als Zeit der zweiten Moderne betrachtet wird, war eine Zeit, in der hier und dort schon spürbar wurde, dass sich die politischen Verhältnisse ändern mussten und ändern konnten. Denken Sie an die Entwicklung in Polen, denken Sie an die Entwicklung in Tschechien.
Der Fall der Mauer, auch die Wiedervereinigung kam für viele urplötzlich. Aber seither hat sich die Situation weiter verändert, und in diesen letzten 25 Jahren sind weltweit in vielen Ländern nationale Geschichtseinrichtungen entstanden, neu gegründet worden. Ich will damit nur kurz andeuten, dass es ein Modell ist, das erfolgsträchtig ist, das wahrgenommen wird auch im internationalen Bereich. Und das unabhängig ist von jedweder politischen Instrumentalisierung. Das macht ein solches Haus so unerschöpflich.
Timm: Wir sprechen mit dem Präsidenten des Deutschen Historischen Museums, mit Alexander Koch. Sie machen ja Ausstellungen, die sich auch so einem gewandelten Geschichtsbegriff zuwenden, die weniger auf Daten und Fakten beruhen als zum Beispiel auf Mythen. Eine Ausstellung hieß "Unter Bäumen". Ja, ist das von dem verwandelten Geschichtsbegriff mitgestaltet?
Koch: Insofern, als wir ganz diskursiv mit Mythen umgehen. Mythen sind Vorstellungen, die in den Köpfen entstehen. Der deutsche Wald, die deutschen Klassiker, die deutschen Märchen.
Es geht uns im Museum immer darum, auch solche Mythen, solche Vorstellungen zu brechen, zu dekonstruieren, aber auch deutlich zu machen, dass das, was Geschichtsbilder ausmacht, eben Konstruktionen sind, Interpretationen, und wir immer wieder gut daran tun, diese Dinge auch gegen den Strich zu bürsten, zu hinterfragen selbstkritisch.
Wir hatten in diesem Jahr anlässlich des 300. Geburtstags von Friedrich dem Großen eine sehr erfolgreiche Ausstellung unter dem Titel "Friedrich der Große, verehrt, verklärt, verdammt". In dieser Ausstellung reflektierten wir die unterschiedlichen Vereinnahmungen des Preußenkönigs bis in die Gegenwart hinein. Und es ist natürlich so, dass wir, unsere heutige Gesellschaft, munter am Mythos Friedrichs des Großen weiterstricken! Auch das müssen wir anerkennen! Und das auch dem Publikum gegenüber zu signalisieren.
Ja, selbst diese Feierlichkeiten zum 300. Geburtstag tragen dazu bei, die Medienberichterstattungen, das, was ich jetzt gerade Ihnen gegenüber erzähle, trägt dazu bei, dass solche Vorstellungen fortgeschrieben werden! Nichtsdestowichtiger sehen wir uns natürlich auch als Anwalt einer kritischen Überprüfung solcher Mythen!
Timm: Man muss ja auch gar nicht so weit zurückgehen, um zu gucken, dass man sich die gleichen Jahre ganz unterschiedlich angucken kann. Sie sind nach der Wiedervereinigung mit dem Deutschen Historischen Museum ins Zeughaus gezogen, ins damalige Ostberlin. Inwieweit sind Sie auch ein deutsch-deutsches Museum?
Koch: Selbstverständlich, das sind wir. Wir sind ein Spiegelbild der deutsch-deutschen Wiedervereinigung und mit der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 haben wir das Museum für Deutsche Geschichte, das MfDG übernommen, damit eine große Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Sammlungen, die Gebäude. Und das ist natürlich auch ein Prozess des Zusammenwachsens. Das DHM, das Deutsche Historische Museum war bis dato eine kleine Einrichtung, ein Schnellboot. Dann kam ein Riesentanker hinzu. Und heute kann man wirklich sagen, wir …
Timm: … sind Sie ein Gesamtboot ohne Beiboot!
Koch: Das will ich nicht sagen, wir haben auch weiterhin Schnellboote. Denn aus der Geschichte dieses Hauses heraus gingen ja andere erfolgreiche Einrichtungen hervor, das Alliierten-Museum, das Deutsch-Russische Museum und jüngst beispielsweise auch die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung.
Timm: Bis heute hat man manchmal den Eindruck, es gibt immer noch deutsch-deutsche Elemente im Gesamtdeutschen. Also, seien es Nachwehen der Wiedervereinigung, seien es schlicht, ja, unterschiedliche Erfahrungen, die man sich immer wieder neu einander erzählen muss. Wie nehmen Sie das auf im Deutschen Historischen Museum?
Koch: Indem wir unterschiedliche Perspektiven auf das gleiche Thema richten, indem wir verschiedene Stimmen zu Wort kommen lassen. Es gibt eben unterschiedliche Sichtweisen auf den Palast der Republik beispielsweise, auf das Staatsratsgebäude, auf das Zeughaus und dergleichen mehr.
Es geschieht über unterschiedliche Perspektiven. Aber nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern um deutlich zu machen, dass Geschichte sehr viel zu tun hat mit Wahrnehmung. Und Wahrnehmungen hat etwas zu tun mit dem Individuum. Und damit sind wir natürlich auch am Kern dessen, was Geschichte bedeutet: Es sind Vorstellungen in unseren Köpfen über Vergangenes.
Und das bedeutet natürlich auch, dass wir in unserem Museum unterschiedliche Perspektiven auf ein und das gleiche Objekt, auf ein und das gleiche Thema zu Wort kommen lassen wollen und müssen. Das ist bei Friedrich dem Großen genau so wie bei einer Plastik von Lenin, die wir mit einer Selbstverständlichkeit bei uns im Foyer präsentieren. Lenin ist von der deutschen Geschichte nicht zu trennen, er hat seinen Platz bei uns!
Timm: Alexander Koch, der Präsident des Deutschen Historischen Museums, das in diesen Tagen 25 Jahre alt wird und sich zum Geburtstag ein Symposium schenkt, "Nationale Geschichte – Stifterin von Identität oder Auslaufmodell?" So heißt die Frage, die heute Abend ab 19:00 Uhr dort diskutiert wird und die sich auch in unserem Programm widerspiegelt, in gut einer Woche in der "Werkstatt" ab 0:05 Uhr können Sie einen Zusammenschnitt dieser Veranstaltung hören! Herr Koch, ich danke Ihnen!
Koch: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.