Wirklich besser als ihr Ruf?

Von Konrad Adam · 08.07.2010
Die Umstände, unter denen der neue Bundespräsident gewählt worden ist, haben die Übermacht der Parteien beileibe nicht zum ersten- und leider wohl auch nicht zum letzten Mal erkennen lassen. Die Parteien können sich dabei auf viel berufen und tun das auch; auf die Verfassung aber sicher nicht. Denn die billigt ihnen nicht mehr zu als ein Recht, an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken: mitzuwirken, wie gesagt, mehr nicht.
Der neu gewählte Bundespräsident hat in seiner ersten öffentlichen Ansprache behauptet, die Parteien seien besser als ihr Ruf. Das mag so sein, wäre aber auch dann alles andere als ein Ehrentitel, denn dieser Ruf ist denkbar schlecht.

Die Parteien wissen das selbst und richten sich danach; wie anders ist es zu erklären, dass sie in Städten wie Stuttgart, Nürnberg oder Bonn, wo die Bürgermeister vom Volk in direkter Wahl bestimmt werden, im Hintergrund bleiben und ganz bewusst darauf verzichten, für ihre Kandidaten mit dem Parteiemblem zu werben?

Und warum legen die Bewerber ihrerseits so großen Wert darauf, den Wählern als parteiunabhängige Persönlichkeiten vor Augen zu treten, auch wenn sie das in Wahrheit gar nicht sind? Woher so viel Zurückhaltung und Prüderie auf allen Seiten? Weil sich das auszahlt. Es lohnt sich offenbar, Distanz zum eingefahrenen Parteibetrieb zu demonstrieren. Und dafür gibt es ja auch gute Gründe.

Denn die Parteien funktionieren längst nicht mehr als volkstümliche oder bürgernahe Organisationen; sie sind Interessenverbände, in denen Berufspolitiker Berufspolitikern dabei behilflich sind, im öffentlichen Raum voranzukommen. Die Karriere verläuft von Anfang an in den von der Partei bestimmten Spuren; sie beginnt in der Schülerunion oder bei den Falken, geht weiter bei den Jungsozialisten oder im RCDS und führt über das Mandat in irgendeinem Parlament in die erstrebte Spitzenposition.

Wer auf diesem Weg nach oben gelangt, lernt die Welt aus einem Blickwinkel kennen, in dem die Erwartungen und Entbehrungen, die Hoffnungen und die Sorgen des gewöhnlichen Bürgers kaum noch vorkommen. Der Parteimensch weiß Bescheid in der Welt der Lobbyisten, er duzt sich mit diesem oder jenem Minister und kennt vielleicht sogar die Handynummer der Kanzlerin. Wer die kennt, hat ohnehin gewonnen. Er kommt mit allem durch, sogar mit einem so blödsinnigen Einfall wie einer Abwrackprämie für fahrtüchtige Autos.

Die Parteien haben die Mehrheit der Interessenten hinter sich, die Mehrheit der Wähler aber sicher nicht. Was passiert, wenn das Wahlvolk ernst macht mit seinem Recht auf politische Teilhabe und die Dinge selbst in die Hand nimmt, kann man zur Zeit in Hamburg beobachten.

Dort war eine Bürgerinitiative mit ihrem Volksbegehren gegen die kurzsichtige Schulpolitik des Senats überaus erfolgreich, auf Anhieb brachte sie ein Mehrfaches der erforderlichen Unterschriften zusammen. Die Machthaber regierten darauf, indem sich sämtliche Parteien zusammentaten und gemeinsam mit Gewerkschaften, Arbeitgebern und all den übrigen Mitgliedern der politischen Klasse Front machten gegen die Bürger, allen voran die Grünen, die seinerzeit dafür gesorgt hatten, dass die Hamburger Verfassung geändert und dem Volksentscheid verbindliche Kraft zugesprochen wurde.

Als ihnen der Wunsch nach Teilhabe dann aber in die Quere kam, wollten sie von mehr Bürgerbeteiligung aber nichts mehr hören und sprachen verächtlich von Populismus. Als gute Hegelianer halten sie das Volk für denjenigen Teil des Staates, der nicht weiß, was er will, und der deswegen vorsorglich entmündigt werden muss.

Vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte gibt es in Deutschland eine politische Klasse, die sich nicht nur so nennt, sondern auch so agiert. Sie verhält sich wie ein Club, dessen Mitglieder darauf achten, Abstand zum Volk zu halten. Wer dazu gehört, lebt in einer Sonderwelt, die von dem, was den Bürger im Alltag bewegt und bedrängt, ziemlich weit entfernt ist.

Was kann ein Abgeordneter, der ein Drittel seiner Einkünfte steuerfrei kassiert, von der drückenden Last der Steuern wissen? Was ahnt er von den Absurditäten der gesetzlichen Krankenversicherung, die für immer weniger immer mehr verlangt, da er ja selbst privat versichert ist? Was kümmert ihn das Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung in der Rentenversicherung, wo er doch Anspruch hat auf einen Alterslohn, zu dem er selbst, anders als die von ihm vertretenen Bürger, keinen eigenen Beitrag zahlen muss?

Weitab von ihren Wählern hat sich die politische Klasse bequem eingerichtet. Sie hält Distanz zum Volk, dem großen Lümmel, und weiß wohl auch, warum. Das Volk könnte ja auf Gedanken kommen, die nicht die ihren sind. Und davor muss es nun einmal bewahrt bleiben.


Konrad Adam wurde 1942 in Wuppertal geboren. Er studierte Alte Sprachen, Geschichte und Philosophie in Tübingen, München und Kiel. Mehr als 20 Jahre lang war er Redakteur im Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", arbeitete dann für die "Welt" und für die "FAZ". Sein Interesse gilt vor allem Fragen des Bildungssystems sowie dessen Zusammenhängen mit der Wirtschaft und dem politischen Leben. Als Buch-Autor veröffentlichte er unter anderem "Die Ohnmacht der Macht", "Für Kinder haften die Eltern", "Die Republik dankt ab" sowie "Die deutsche Bildungsmisere. Pisa und die Folgen". Zuletzt erschien: "Die alten Griechen".