Wirklichkeitsbefragung per Roman
Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk hat sich in sechs Vorlesungen in Harvard bei den berühmten "Norton Lectures" über das Schreiben und Lesen ausgelassen und dabei von Schiller leiten lassen. Herausgekommen ist eine theoriegeschichtlich bewanderte und doch auch sehr persönliche Abhandlung darüber, was ein Roman eigentlich ist und was einen guten Romancier ausmacht.
Es ist kein Roman, doch alles dreht sich darin um den Roman - der türkische Romancier Orhan Pamuk legt ein neues Buch vor. Es ist Beichte, Werkschau, Bekenntnis und Standortbestimmung eines leidenschaftlichen Lesers und Schriftstellers. Pamuk, Literaturnobelpreisträger von 2006, hielt vor drei Jahren an der Harvard Universität "The Norton Lectures": sechs Vorlesungen, in denen der poetische Ausdruck in Sprache, Musik und Bildender Kunst thematisiert wird. Sie sind nun unter dem Titel "Der naive und der sentimentalistische Dichter" auf Deutsch erschienen.
Die Tradition, in die Pamuk sich mit diesen Vorlesungen stellt, ist gewaltig. Vor ihm sprachen in diesem Rahmen unter andern Jorge Luis Borges, T.S. Eliot, Igor Strawinski, George Steiner, Umberto Eco, Paul Hindemith und Frank Stella. Es zeugt von großer Souveränität des Autors, von dem Ruf der Veranstaltung und den Erwartungen einer akademisch erlauchten Zuhörerschaft nicht eingeschüchtert worden zu sein. Schon der Titel seiner Vorlesungen, der sich auf die grundlegende dichtungstheoretische Abhandlung Schillers aus dem Jahr 1795 bezieht, lässt ahnen, dass sich hier einer mit Dichtung und dem Handwerk des Autors beschäftigt, wie es im postmodernen Literaturwissenschaftsdiskurs nicht selbstverständlich ist.
So erklärt Pamuk, in dessen Elternhaus von Kafka, Tolstoi oder Dostojewski "wie von Generälen oder von Heiligen" gesprochen wurde, auch ohne Umschweife, "naiv" zu sein. Schon als Jugendlicher sei er beim Lesen "wie im Traum gebannt" gewesen, neue Welten hätten sich vor ihm aufgetan. "Die Liebe zum Roman", postuliert er, "verrät einen Hang zum Ausbruch aus der eindimensionalen kartesianischen Logik."
Aus der Lektüre eines Romans könne der Leser eine "akkurate Abbildung der Welt" gewinnen und etwas über den "tieferen Sinn des Lebens" erfahren. "Wir", sagt der seit 35 Jahren schreibende Autor, läsen Romane gerne, "um Wirklichkeit und Fantasie zu vermischen." Tatsächlich benennt Pamuk damit ein Paradigma der Romanlektüre: die Gleichzeitigkeit von naivem und sentimentalischen Verhalten, das Wissen um die Fiktion und zugleich das Vergessen desselben zur Genusssteigerung.
Allein naiv, das kommt im Zuge der Vorlesungen dann heraus, ist Pamuk jedoch nicht. Sein Credo: die Romane eines Autors gewinnen, wenn er naiv und sentimentalisch ist. Während Schiller beide Typen unterschied, bringt Pamuk sie wieder zusammen. Denjenigen, der beim Schreiben spontan ist, "fast ohne zu denken und ohne sich um geistige oder ethische Konsequenzen zu scheren." Und jenen, der reflexiv ist, bewusst formt, zweifelt, ob seine Worte die Wirklichkeit erfassen mögen.
Zusammenfassend wird der Roman als Wirklichkeitsbefragung charakterisiert, dessen Wirkungsmacht aus einem in ihm verborgenen "Zentrum" herrührt – der Einsicht in ein nicht alltägliches Verständnis des Daseins. Nur um zu ihr zu gelangen, lassen wir uns von Romanen fesseln. Natürlich kann man solch eine Sichtweise anfechten. Doch so wie Pamuk sie vorträgt, ist sie schlüssig. Denn obwohl er in den Vorlesungen, die klar und leidenschaftlich formuliert sind, immer wieder auf Beispiele aus der Literatur zu sprechen kommt - Tolstois "Anna Karenina", deren Zugfahrt von Moskau nach St. Petersburg sich leitmotivisch durch alle Vorlesungen zieht ( und die auch schon Nabokov seziert hat), Homer, Shakespeare, Dostojewski, Cervantes, Proust, usw. – begründet er seine Lesart ganz persönlich.
Das macht diese Texte so reizvoll: Da verfügt einer eben doch über die gesamte Literaturgeschichte nebst dazugehöriger Theorien, argumentiert mit ihnen aber aus völlig subjektiver, autobiografischer Perspektive. Dass dies gelingt und dem Leser Freude bereitet bei gleichzeitiger Erweiterung seines Wissens, ist der beste Beweis für Pamuks These, der Romancier müsse eben naiv und sentimentalisch sein.
Besprochen von Carsten Hueck
Orhan Pamuk: Der naive und der sentimentalistische Romancier
Aus dem Englischen von Gerhard Meier
C.Hanser Verlag, München 2012
172 Seiten; 16,90 Euro
Die Tradition, in die Pamuk sich mit diesen Vorlesungen stellt, ist gewaltig. Vor ihm sprachen in diesem Rahmen unter andern Jorge Luis Borges, T.S. Eliot, Igor Strawinski, George Steiner, Umberto Eco, Paul Hindemith und Frank Stella. Es zeugt von großer Souveränität des Autors, von dem Ruf der Veranstaltung und den Erwartungen einer akademisch erlauchten Zuhörerschaft nicht eingeschüchtert worden zu sein. Schon der Titel seiner Vorlesungen, der sich auf die grundlegende dichtungstheoretische Abhandlung Schillers aus dem Jahr 1795 bezieht, lässt ahnen, dass sich hier einer mit Dichtung und dem Handwerk des Autors beschäftigt, wie es im postmodernen Literaturwissenschaftsdiskurs nicht selbstverständlich ist.
So erklärt Pamuk, in dessen Elternhaus von Kafka, Tolstoi oder Dostojewski "wie von Generälen oder von Heiligen" gesprochen wurde, auch ohne Umschweife, "naiv" zu sein. Schon als Jugendlicher sei er beim Lesen "wie im Traum gebannt" gewesen, neue Welten hätten sich vor ihm aufgetan. "Die Liebe zum Roman", postuliert er, "verrät einen Hang zum Ausbruch aus der eindimensionalen kartesianischen Logik."
Aus der Lektüre eines Romans könne der Leser eine "akkurate Abbildung der Welt" gewinnen und etwas über den "tieferen Sinn des Lebens" erfahren. "Wir", sagt der seit 35 Jahren schreibende Autor, läsen Romane gerne, "um Wirklichkeit und Fantasie zu vermischen." Tatsächlich benennt Pamuk damit ein Paradigma der Romanlektüre: die Gleichzeitigkeit von naivem und sentimentalischen Verhalten, das Wissen um die Fiktion und zugleich das Vergessen desselben zur Genusssteigerung.
Allein naiv, das kommt im Zuge der Vorlesungen dann heraus, ist Pamuk jedoch nicht. Sein Credo: die Romane eines Autors gewinnen, wenn er naiv und sentimentalisch ist. Während Schiller beide Typen unterschied, bringt Pamuk sie wieder zusammen. Denjenigen, der beim Schreiben spontan ist, "fast ohne zu denken und ohne sich um geistige oder ethische Konsequenzen zu scheren." Und jenen, der reflexiv ist, bewusst formt, zweifelt, ob seine Worte die Wirklichkeit erfassen mögen.
Zusammenfassend wird der Roman als Wirklichkeitsbefragung charakterisiert, dessen Wirkungsmacht aus einem in ihm verborgenen "Zentrum" herrührt – der Einsicht in ein nicht alltägliches Verständnis des Daseins. Nur um zu ihr zu gelangen, lassen wir uns von Romanen fesseln. Natürlich kann man solch eine Sichtweise anfechten. Doch so wie Pamuk sie vorträgt, ist sie schlüssig. Denn obwohl er in den Vorlesungen, die klar und leidenschaftlich formuliert sind, immer wieder auf Beispiele aus der Literatur zu sprechen kommt - Tolstois "Anna Karenina", deren Zugfahrt von Moskau nach St. Petersburg sich leitmotivisch durch alle Vorlesungen zieht ( und die auch schon Nabokov seziert hat), Homer, Shakespeare, Dostojewski, Cervantes, Proust, usw. – begründet er seine Lesart ganz persönlich.
Das macht diese Texte so reizvoll: Da verfügt einer eben doch über die gesamte Literaturgeschichte nebst dazugehöriger Theorien, argumentiert mit ihnen aber aus völlig subjektiver, autobiografischer Perspektive. Dass dies gelingt und dem Leser Freude bereitet bei gleichzeitiger Erweiterung seines Wissens, ist der beste Beweis für Pamuks These, der Romancier müsse eben naiv und sentimentalisch sein.
Besprochen von Carsten Hueck
Orhan Pamuk: Der naive und der sentimentalistische Romancier
Aus dem Englischen von Gerhard Meier
C.Hanser Verlag, München 2012
172 Seiten; 16,90 Euro