Unser Tonart-Musikkritiker Christoph Möller war auf dem #wirsindmehr-Konzert in Chemnitz. Sein Eindruck: Politische Botschaften und gute Laune schließen sich nicht aus.
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"Die Atmosphäre war offen und friedlich"
Mit dem Konzert in Chemnitz wollten Künstler, wie etwa Kraftklub, ein Zeichen gegen Rassismus setzen. Unser Redakteur René Aguigah war privat mit dabei – und erklärt, warum ein Journalist durchaus mit der Message des Musikfestivals öffentlich sympathisieren darf.
Rund 65.000 Menschen haben am Montag Abend in Chemnitz bei einem Open-Air-Konzert ein Zeichen gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus gesetzt. Zu der Veranstaltung unter dem Motto "Wir sind mehr" in der Innenstadt hatten verschiedene Bands eingeladen, darunter Die Toten Hosen, Feine Sahne Fischfilet, die Chemnitzer Band Kraftklub und die Rapper Marteria und Casper.
Die Veranstaltung war eine Reaktion auf den gewaltsamen Tod eines 35-Jährigen Deutschen vor gut einer Woche sowie die folgende Vereinnahmung der Bluttat durch rechtspopulistische Kräfte wie "Pro Chemnitz" beziehungsweise AfD und "Pegida".
Freundliche Stimmung
"Insgesamt war das beeindruckend, dass die Atmosphäre tatsächlich offen, friedlich und - seltsames Wort vielleicht, aber es trifft es – bunt war", sagte unser Redakteur René Aguigah im Deutschlandfunk Kultur über die gestrige Atmosphäre in Chemnitz. Schon im Zug von Berlin sei der Zug voller "wohlmeinender Menschen" gewesen. Aguigah sprach von einer spürbar freundlichen Atmosphäre.
Der Journalist war aus sehr persönlichen Gründen nach Chemnitz gefahren. Dazu bewegt hatte ihn ein Gespräch mit einem Bekannten, der ihm erzählt hatte, dass er einen Konzertbesuch in Chemnitz plane. Aguigah hatte ihm erwidert, dass er wegen seiner dunklen Hautfarbe lieber nicht fahre. Die Antwort seines Bekannten hatte ihn umgestimmt: "Dass die Lage so ist, dass jemand wie Du sich nicht nach Chemnitz traut, das ist ja Teil des Problems."
Genau dieser Gedanke sei ihm nachgegangen, sagte Aguigah. "Zum einen wollte ich dabei sein, wenn sich eine größere Menge rassistischen Ausschreitungen von dem vorvergangenen Wochenende entgegen stellt oder solchen Haltungen sich entgegen stellt", sagte er. "Und zum anderen wollte ich auch nicht glauben, dass es in Deutschland eine ganze Großstadt gibt, in der man sich, wenn man anders aussieht, nicht zeigen kann, wo ernsthaft die Befürchtung gelten kann, dass man serienmäßig mit einer anderen Hautfarbe gejagt wird." Am Montag habe er dann an keiner Stelle ein mulmiges Gefühl gehabt.
Einen Konflikt zwischen seiner privaten Teilnahme an dem Festival und seinen Aufgaben als Journalist sieht Aguigah nicht: "Journalismus ist neben neutraler Berichterstattung immer schon auch die Artikulation von Meinung gewesen." Außerdem sei die Haltung, mit der er sympathisiert, eine, die auch mit seinem Beruf und der Verfassung verbunden sei: "Sich gegen Rassismus zu stellen, ist grundgesetzlich verbrieft." (gem)
Unser Fazit-Spezial aus Chemnitz: Die Journalistin und Schriftstellerin Lena Gorelik, der Musiker Holm Krieger und der Kultur-Projektleiter Franz Knoppe erzählen vom #wirsindmehr-Festival.
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Das Interview mit René Aguigah im Wortlaut:
Dieter Kassel: "Wir sind mehr", das war das Motto des Konzerts gestern in Chemnitz, zu dem die Chemnitzer Band Kraftclub, diverse andere Bands, darunter unter anderem Die Toten Hosen, weil die aus Düsseldorf kommen, das war einer der Gründe, und das die Partnerstadt von Chemnitz ist, eingeladen hatten. 65.000 Menschen waren da laut offizieller Zählung der Stadtverwaltung bei diesem Konzert, womit der Beweis rein statistisch angetreten wurde. Aber Statistik ist weiß Gott nicht das Wichtigste in diesem Zusammenhang.
Es sind auch natürlich nicht nur Leute aus Chemnitz da gewesen bei diesem Konzert, nicht wenige sind extra gefahren. Und zu denen, die extra hingefahren sind, gehört auch René Aguigah. Er ist der Leiter unserer Redaktion Hintergrund Kultur und Politik. Aber ich habe es vorhin schon gesagt, dass erwähne ich in diesem Fall regelrecht am Rande nur, um kurz zu erklären, wer er eigentlich ist. Denn er ist nicht von uns da hingeschickt worden, sondern als Privatmann nach Chemnitz gefahren, wo er heute Morgen auch immer noch ist. Schönen guten Morgen, Herr Aguigah!
René Aguigah: Guten Morgen!
Kassel: Warum sind Sie nach Chemnitz gefahren?
Aguigah: Dazu erzähle ich als Privatmann eine kleine persönliche Geschichte. In der vergangenen Woche habe ich einen Freund auf der Straße getroffen, einen Nachbarn, einen Herrn, der alles andere ist als ein politisch Radikaler, ein junger Professor. Und der erzählte, dass er zu diesem Konzert reisen würde nach Chemnitz. Und mein Reflex war, toll, dass er das tut, toll, dass solche Leute was tun, und ich antwortete, ich würde das nicht wagen, ich würde das deshalb nicht wagen wegen meiner Hautfarbe.
Meine Hautfarbe ist dunkel, mein Vater ist Afrikaner. Und ich dachte, okay, der soll mal fahren, ein saturierter, wie man heute sagt, ein deutscher junger Professor, der soll es an meiner statt tun, und ich nicht. Und er entgegnete darauf, na ja, dass die Lage so ist, dass jemand wie du sich nicht nach Chemnitz traut, das ist ja Teil des Problems, und zwar ein Teil sowohl vielleicht von Chemnitz als auch von mir. Und genau dieser Gedanke ging mir nach, und ich dachte zwei Dinge: Zum einen wollte ich dabei sein, wenn sich eine größere Menge den rassistischen Ausschreitungen vom vorvergangenen Wochenende entgegenstellt oder solchen Haltungen entgegenstellt.
Und zum anderen wollte ich tatsächlich auch nicht glauben, dass es in Deutschland eine ganze Stadt gibt, Großstadt gibt, in der man sich, wenn man anders aussieht, nicht zeigen kann, wo ernsthaft die Befürchtung gelten sollte, dass man serienmäßig mit einer anderen Hautfarbe gejagt wird. Dass das in Einzelfällen vorkommen kann, das muss man zur Kenntnis nehmen, das hat stattgefunden. Aber ich wollte nicht glauben, dass das so ist.
Viele junge Leute
Kassel: Aber Sie haben gesagt, wie wir alle wissen, in Einzelfällen kommt es vor, es hat stattgefunden, vor einer guten Woche ganz konkret in Chemnitz. Hatten Sie vor Ihrer Reise dorthin oder, was weiß ich, auf dem Weg ins Hotel, beim Spazierengehen durch die Stadt, also außerhalb dieser Konzertatmosphäre, hatten Sie ein mulmiges Gefühl?
Aguigah: Nein. Also gestern an gar keiner Stelle. Schon auf dem Weg von Berlin, wo ich wohne, nach Chemnitz, war der Zug voller ich sag mal wohlmeinender Menschen, also wirklich eine tatsächlich spürbar freundliche Atmosphäre. Ich vermute mal, dass sehr viele Züge und Flix-Busse in dieser Weise gestern nach Chemnitz gefahren sind. Und auch dort in der Stadt, es war halt in der Innenstadt, die ganze Innenstadt war voll.
Sie haben schon gerade gesagt, von diesen 65.000 Leuten, die auf dem Platz in der Nähe dieser Marx-Statue waren, ist ein Großteil zugereist gewesen, ein Großteil nicht aus Chemnitz gewesen. Insgesamt war das beeindruckend, dass die Atmosphäre tatsächlich offen und friedlich und – ein seltsames Wort vielleicht, aber es trifft – bunt war. Also Leute, die nicht nur anders aussahen, sondern die ganz eindeutig auch einander ließen. Man konnte Leute als Linke erkennen in verschiedenen Schattierungen, aber auch ganz normale Bürger, die jetzt nicht ausdrücklich ständig und hauptamtlich politisch unterwegs sind. Vor allem junge Leute, aber eben nicht nur junge Leute, sondern auch ältere.
Tolle Musik erlebt
Kassel: Offen, friedlich, bunt, haben Sie gesagt. Aber natürlich nicht ruhig, mal abgesehen von der Schweigeminute am Anfang. Das wäre auch merkwürdig bei so einem Konzert. Wie haben Sie denn dieses Konzert, diese Auftritte, die Musik empfunden?
Aguigah: Deutsch-Rap oder so was ist jetzt alles andere als mein Spezialgebiet, und die Toten Hosen, die den Top-Act gemacht haben, habe ich nie musikalisch attraktiv finden können. Ich bin aber sehr dankbar dafür, dass ich dieses Konzert auch als Konzert, also als Musik habe erleben dürfen, denn nicht nur habe ich festgestellt, dass Trettmann und Kraftclub insbesondere, also aus Chemnitz stammende Musiker, ganz tolle Musik machen, sondern in der Tat konnte man bei diesem Konzert gestern auch einfach erleben, dass es an bestimmten Stellen eine ganz spezifische Kraft entfaltet.
Ohne dass ich jetzt Musikkritiker wäre, vielleicht eine winzige Ansage, die K.I.Z gemacht haben. Die haben diese Zehntausende Leute begrüßt mit "Herzlich willkommen, meine linksversifften Gutmenschen!", und Zehntausende jubeln ihm zu. Und das fand ich ganz interessant, vor allem diese Energie, mit der das hin und her ging, die Ansage und der Jubel. Ganz interessant, weil das ein bisschen was Hip-Hop-Spezifisches hat. "Linksversiffte Gutmenschen", das ist ja ein Kampfbegriff der Rechten gegen die vermeintlichen Linken, und es gab aber niemanden, der kurz das als solches verstanden hat, sondern das war eben eine Aneignung eines Schimpfworts von außen. Und solche Sachen sind immer wieder im Verlauf dieser Stunden dort passiert. Das fand ich ganz schön.
Kassel: Ganz ehrlich, es wird Leute geben, die werden uns beide jetzt gerade aufgrund dieses Gesprächs auch zu den linksversifften Gutmenschen zählen und sich gerade vorstellen, wie Sie und ich uns privat duzen. Seien wir ehrlich, das ist zum Beispiel tatsächlich richtig, diese Unterstellung. Aber wie wir Rotwein schlürfend im Prenzlauer Berg sitzen und dieses Gespräch so ähnlich führen, bloß nicht ganz so formell. Man darf sich doch – ich zitiere Hans-Joachim Friedrichs – mit keiner Sache gemein machen, auch nicht mit einer guten. Das haben Sie jetzt im Prinzip getan. Darf man das in so einem Fall?
Aguigah: Ja, lieber Dieter Kassel, ich würde Ihnen da in zwei Punkten strikt widersprechen oder jedenfalls, ich trete jetzt hier mit einer anderen – also möchte dazu wirklich andere Sachen sagen, und zwar ganz ernsthaft. Das Erste ist: Journalismus besteht eben nicht ausschließlich in neutraler Berichterstattung, und auch der Herr Friedrichs, den Sie da gerade zitiert haben, hat auch viele andere Sachen über Journalismus gesagt als diesen einen Spruch, mit dem er immer wieder zitiert wird. Journalismus ist neben neutraler Berichterstattung ebenso immer schon gewesen auch Artikulation von Meinung. Wird es auch immer bleiben, es soll so, das ist gewissermaßen grundgesetzlich auch vorgesehen.
Das Zweite: Die Position, mit der ich hier sympathisiere oder die ich begleitet habe, die ich beobachtend begleitet habe gestern, ist eine Position, die auch auf einem meiner Lieblingsplakate dieser Demonstration von gestern vermerkt war, und die lautet: "Wir sind Grundgesetz". Also, sich gegen Rassismus zu stellen, ist, wie soll ich sagen, grundgesetzlich verbrieft, insbesondere Artikel 3, insbesondere Artikel 4, aber auch einige andere Grundrechtsartikel. Und zu den Neuigkeiten der aktuellen Situation, glaube ich, dass es Zusammenhänge gibt und Situationen gibt, in denen dies, sich für Grundgesetz Artikel 3 und 4 einzusetzen, schon als radikal gilt. Und das finde ich tatsächlich eine eher bedrohliche Situation.
Kassel: René Aguigah, im Hauptberuf Redakteur bei Deutschlandfunk Kultur, als Privatmann zurzeit in Chemnitz, weil er da gestern das "Wir sind mehr"-Konzert erleben wollte und erlebt hat. Herr Aguigah, herzlichen Dank fürs Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.