Wirtschaft oder Werte

Was treibt die EU?

53:49 Minuten
Wehende EU-Fahne.
Die EU steht immer wieder vor schwierigen Fragen: Eine ist, wie man mit Mitgliedsländern umgehen soll, in denen Freiheitsrechte und Demokratie abgebaut werden. © picture alliance / chromorange
Moderation: Annette Riedel |
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1,8 Billionen Euro umfasst der nächste EU-Haushalt nebst Corona-Hilfspaket. Sollen vom Geldsegen auch Mitgliedsländer uneingeschränkt profitieren, die es mit der Rechtsstaatlichkeit nicht so genau nehmen? Die EU streitet - um Geld und Werte.
Vier Tage und Nächte lang hatten die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union auf einem Sondergipfel gerungen, dann war das Paket geschnürt: 1824 Milliarden für Europa bis 2027. 750 Milliarden davon sollen gegen die Folgen der Coronakrise ausgegeben werden, der Rest ist der EU-Haushalt für die kommenden Jahre.
Nun, fünf Wochen später, befasst sich das Europaparlament mit dem Deal – und es hat einiges daran auszusetzen. Vor allem stört viele Abgeordnete, dass die Mittel auch an Mitgliedsstaaten fließen, die mit der EU-Kommission wegen der Unabhängigkeit von Gerichten, der Freiheit der Medien und dem Umgang mit Minderheiten im Clinch liegen.
Das EU-Parlament wird sein Recht, über den Haushalt zu entscheiden, nutzen, um mehr Rechtsstaatlichkeit in der Union durchzusetzen, glaubt der Europa-Experte Christian Freudlsperger.

Kein Geld für "Demokratiezerstörer"

Im Fokus dabei: Polen, der größte Netto-Empfänger von Geld aus Brüssel, und Ungarn. Soll die Vergabe von EU-Milliarden mit der Qualität der Rechtsstaatlichkeit in den Empfängerländern verknüpft werden? Diese Frage hatte schon beim Gipfel vor fünf Wochen heftige Konflikte hervorgerufen.
Die grüne Bundestagsabgeordnete Franziska Brantner meint, dass "es nicht nur moralisch notwendig ist, dass Demokratiezerstörer keine Gelder bekommen". Sie könne es "auch dem deutschen Steuerzahler nicht erklären, warum wir mit unseren Steuergeldern die Macht von Orbán in Ungarn sichern".
Darum ist nach Auffassung der europapolitischen Sprecherin der Grünen besonders Deutschland, das derzeit die EU-Ratspräsidentschaft innehat, in der Pflicht, auf einen Mechanismus hinzuwirken, der Zuwendungen aus dem EU-Haushalt an das Befolgen rechtsstaatlicher Standards knüpft: "Diesen Mut erwarte ich jetzt von der Bundesregierung."

"Ein schmutziges Geheimnis der EU"

Dahinter steht eine Grundsatzentscheidung, was die EU eigentlich sein soll: eine Werte-Union oder bloß eine europäische Wirtschaftsgemeinschaft? Für den polnischen Politologen Piotr Buras ist das kein Gegensatz: "Werte und wirtschaftliche Interessen gehen zusammen, und das ist gemeinsam ein wichtiges Fundament des gesamten europäischen Projektes."
Was bedeutet, dass alle Mitgliedsländer der Europäischen Union sich an die Spielregeln halten sollten. Und mit denen nehmen es nicht nur Staaten wie Ungarn und Polen nicht immer so genau. Auch gegen Deutschland laufen etliche Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission, etwa wegen zu viel Nitrat im Grundwasser.
"Es ist eines der schmutzigen Geheimnisse der Europäischen Union, dass viel zu viel europäisches Recht auf nationaler, regionaler, lokaler Ebene in letzter Konsequenz nicht umgesetzt oder durchgesetzt wird", sagt Christian Freudlsperger von der Hertie School of Governance.
Dennoch ist es ein Unterschied, ob in einem Land europäische Umwelt-Grenzwerte nicht eingehalten oder Richter von der Politik gegängelt, Universitäten geschlossen und Medien auf Regierungslinie getrimmt werden.

Herausforderung Rechtsstaatlichkeit

Piotr Buras, der das Warschauer Büro der Denkfabrik European Council on Foreign Relations leitet, sieht das vor seiner Haustür: "Wenn das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit in Frage gestellt wird, dann steht meiner Meinung nach das gesamte Projekt EU vor einer wirklichen Herausforderung, wenn nicht vor einem Zusammenbruch."
Ist das Ziel einer Europäischen Union als Wertegemeinschaft bei 27 Mitgliedern mit unterschiedlichen Traditionen zu hoch gesetzt? Sollte sich die EU gerade in der Coronakrise nicht einfach auf die Wirtschaft konzentrieren?
Die Europäische Akademie Berlin hat dazu Bürgerinnen und Bürger befragt. Deren Antworten und Anregungen fließen in diese Sendung ein, die eine Kooperation von Deutschlandfunk Kultur und Europäischer Akademie Berlin ist.

Es diskutieren:
Franziska Brantner, Europapolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag
Piotr Buras, Leiter des Warschauer Büros des European Council on Foreign Relations
Christian Freudlsperger, Forschungskoordinator, Jacques Delors Centre der Hertie School of Governance

(pag)
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