Wie Normen die Welt regieren
Ob bei Containern oder dem Schienennetz: Einheitliche Normen werden gebraucht, um weltweiten Handel zu ermöglichen. Brisant wird es, wenn bei Verhandlungen wie dem Freihandelsabkommen TTIP Gesundheits- und Rechtsstandards gefährdet werden, um den Markt zufriedenzustellen.
Nahezu sprichwörtlich sind die Gurkendirektiven der Europäischen Union. Warum mussten unbedingt Normen eingeführt werden, nach denen sich Pflanzen beim Wachstum zu richten haben? Während gleichzeitig ein Käse, der in Coburg produziert wurde, nur einmal kurz nach Griechenland gefahren werden muss, um als "Original Griechischer Feta" durchzugehen?
Einerseits werden Normen gebraucht, um den Handel über große Strecken überhaupt möglich zu machen - die Einführung von genormten Containern hat den Welthandel explodieren lassen. Ohne Normen gäbe es den Binnenmarkt der EU nicht. Andererseits verhindern unterschiedliche nationale Vorschriften den Warenverkehr aus nationalem Kalkül. Brisant wird das Beharren auf nationalen Eigenheiten, wenn bei Verhandlungen wie dem zum Handelsabkommen TTIP Gesundheits- und Rechtsstandards in Gefahr geraten, nur um den Markt zufriedenzustellen.
Das Manuskript zum Nachlesen:
Der Krieg war mal wieder der Vater der Dinge: Im Ersten Weltkrieg nutzte die deutsche Armee ein Maschinengewehr mit der Bezeichnung 08/15. Die Einzelteile dieses Maschinengewehrs aus dem Jahr 08, in der Version von 1915, sollten parallel in unterschiedlichen Fabriken gebaut und dann montiert werden, um so auf die benötigten Stückzahlen zu kommen. Damit alle die gleichen Einzelteile nach den gleichen Maßen bauten, wurden Spezifizierungen erstellt, an die sich alle Beteiligten zu halten hatten. Es wurden Normen aufgestellt.
"DIN wurde in der Tat 1917 gegründet und die erste DIN-Norm beschreibt einen Metallkegelstift. Man weiß heute allerdings nicht, man kann nicht mit Sicherheit sagen, ob dieser Kegelstift tatsächlich in diesem Maschinengewehr eingesetzt worden ist."
Ungeachtet dieser kleinen Unsicherheit hält sich die Geschichte, das Deutsche Institut für Normung sei auf das Maschinengewehr 08/15 zurückzuführen. Die Typenbezeichnung wurde zum Synonym für alles, was genau nach der Norm ausgerichtet war, auf jeden Fall nicht exzentrisch und eigentlich eher langweilig. Aber: Es passte immer - ob Kegelstift oder Steckdose oder Industrieautomaten - wenn es DIN war.
Das Feine an der DIN-Normung ist, das es jedermann frei steht, eine Normung zu beantragen. Folgt man dem Klischee, so steckt darin eine Verlockung, der ein Deutscher in seinem Ordnungssinn kaum widerstehen kann. Hans-Peter Ahle ist Pressesprecher des Deutschen Instituts für Normung, das im Übrigen keine Behörde, sondern ein eingetragener Verein ist:
"In der Tat, DIN arbeitet auf Vorschlag oder auf Antrag von Privatpersonen, von Seiten der Wirtschaft, der Verbände, Verbraucherorganisationen oder eben auch Hochschulinstituten. Ein entsprechender Antrag wird auf Relevanz geprüft und dann in den entsprechenden Normausschuss gegeben."
70 Normausschüsse gibt es, nach Themenbereichen gegliedert, da wäre wohl für jeden etwas dabei. Nehmen wir einmal an, eine Konsumentin ärgert sich darüber, dass es so viele unterschiedliche Rasierklingen gibt. Immer wieder kauft sie neue und muss zu Hause feststellen, dass sie aus der verwirrenden Auswahl an Klingen wieder die falschen erwischt hat. Ein Dilemma! Eine Frau möchte, dass Ordnung herrscht im Klingenwirrwarr. Sie betritt das große Bürohochhaus am Berliner DIN-Platz und fordert eine Norm.
"Der Ausschuss würde prüfen, inwieweit dies Normprojekt relevant ist und natürlich auch im Gespräch – wir sagen immer: mit den interessierten Kreisen - prüfen: Ist überhaupt das Interesse da, die Rasierklinge zu normen?"
Natürlich ist ein Interesse da - aber vielleicht nicht für jeden: Es werden zum Beispiel Verbraucherverbände gehört, Vertreter des Handels und Hersteller von Rasierklingen und Rasierern. Da die Beteiligten auch diejenigen sind, die das Verfahren finanzieren müssen, wird jeder Antrag genau und geizig geprüft.
"An der Stelle kann ich nur sagen: Die Norm macht das Leben einfacher."
Aber in diesem Fall funktioniert es wohl nicht, es gibt keine Norm für Rasierklingen. Vermutlich - das Rasierklingen-Dilemma wurde in Wirklichkeit nie durchgespielt - vermutlich hätten die Klingenhersteller kein Interesse an der Normung. Sie wollen ihre eigenen Klingen auf ihren Rasierapparaten sehen. Die Frau muss am Ende mehrere Rasierapparate haben, oder sich die Typenbezeichnung der Klingen ins Gedächtnis zwingen, so wie sie ihre IBAN-Nummer gespeichert hat.
Der Markt wird reguliert von der Norm
Das Rasierklingen-Dilemma wäre eigentlich ein schönes Beispiel für Verfechter des freien Marktes, denn wenn mehrere Klingensysteme gegeneinander antreten, wird nach der reinen Lehre der Wirtschaftsliberalen der Markt selbst die Situation bereinigen - solange und so oft, bis nur die ultimative Klinge übrig ist. Aber der Markt wird reguliert, von der Norm.
"Ich denke, an der Stelle geht es weniger darum, was sich durchsetzt, sondern es geht mehr darum, dass einheitliche Anforderungen da sind. Und an der Stelle sagen wir immer, die Norm ist die Sprache der Technik, sie macht einfach den Austausch, auch über Ländergrenzen, einfacher dadurch, dass bestimmte Spezifikationen normiert sind."
Die Standards, die in den Konferenzräumen des DIN-Instituts vereinbart wurden, helfen auf der einen Seite dem Produzenten, sich auf dem Markt zu bewegen. Und sie geben auf der anderen Seite dem Konsumenten die Gewähr, dass diese Standards eingehalten werden - zum Beispiel in Bezug auf Qualität, auf Sicherheit, auf Kompatibilität.
Niemand muss sich an die Normen halten, die Normung ist freiwillig, aber ohne DIN-Nummer hat jeder Anbieter auf dem Markt ein Handicap. Wer die Norm macht, hat den Markt - so wird Torsten Bahke zitiert, Direktor des DIN.
"Damit ist gemeint, wer im Normausschuss arbeitet, dort tätig ist, seinen Einfluss geltend machen kann, im Zusammenspiel auch mit den anderen Marktteilnehmern und dadurch, dass dann die einzelnen Beteiligten Interesse daran haben, die Anforderungen sehr hoch anzulegen, ja kann man sagen: Wer die Norm macht oder mitbestimmt hat, macht den Markt."
Dieser Grundsatz wird uns noch begegnen beim internationalen Handelsabkommen TTIP, bei dem ebenfalls Standards gesetzt werden, die den einen begünstigen, den anderen benachteiligen.
Seit den 1960er-Jahren, als die amerikanische Armee die Logistik ihres Einsatzes in Vietnam auf Container umstellte, hat das moderne Transportmöbel rasant Karriere gemacht. Der genormte Container passt auf die Bahn, den LKW, das Schiff. In den Anfangsjahren waren die Behälter auf 20 Fuß Länge, acht Fuß Breite und zwischen acht und neuneinhalb Fuß Höhe genormt. Heute werden zumeist Container in den fünf unterschiedlichen Größen verwendet, die der internationale ISO-Standard definiert.
Um sich ein Bild vom Handelswachstum zu machen, das durch die Container-Normung möglich wurde: Im chinesischen Hafen Ningbo wurden 2002 fast zwei Millionen Standardcontainer umgeschlagen. Acht Jahre später waren es bereits 14 Millionen. In den genormten Kisten werden vielerlei Waren, vom Sturmgewehr Kalaschnikow über sehr unterschiedliche Rasierklingen bis zu Kinderspielzeug auf die weltweiten Märkte transportiert.
"Also, Normen sind die Sprache der Technik oder der Weltwirtschaft ..."
... sagt auch Joachim Pfeiffer, Bundestagsabgeordneter der CDU und wirtschaftspolitischer Sprecher seiner Fraktion. Vorteile hat, wer die Normen setzen kann.
"Zumindest tut er sich deutlich leichter und er hat auch Planungssicherheit und vielleicht einen Vorsprung, weil er mit seiner Norm dann bereits Erfahrungen hat."
Technische Standards wie Stecker und Steckdosen, Europaletten und Container nach deutschen, europäischen oder internationalen Normen zu vereinheitlichen, ist vergleichsweise einfach. Wie Hans-Peter Ahle es beschreibt: Man setzt sich zusammen und findet "konsensbasiert" eine Lösung.
Komplizierter wird es bei Normen für Güter, Lebensmittel oder Investitionen, die im Freihandelsabkommen TTIP zwischen Europa und den USA verhandelt werden. Da geht es auf der einen Seite des Atlantiks darum, dass man keine mit Chlor gereinigten Hühnchen haben will - während auf der anderen Seite die Vorstellung, Käse mit blaugrünem Schimmel aus Frankreich zu essen, hygienisches Entsetzen auslöst.
Pfeiffer: "Bei TTIP geht es nicht darum, einen Wettlauf nach unten zu starten, sondern im Gegenteil, ein einheitliches Schutzniveau auf höchstem Niveau im transatlantischen Raum zu schaffen mit 800 Millionen Menschen, was wiederum dann Vorbild sein kann und sein soll für den Rest der Welt. Weil so können wir unsere Normen zum Standard machen, wenn wir uns nicht beteiligen, dann werden andere in der Welt und auf der Welt die Normen setzen."
Und sich Vorteile auf dem Markt verschaffen, denn: Wer die Norm macht, hat den Markt. Ein Thema bei TTIP sind die umstrittenen sogenannten Schiedsgerichte - dies sind in Handelsverträgen vereinbarte Schiedsstellen, die von Investoren angerufen werden können, wenn sie durch staatliches Handeln ihre Investitionen gefährdet sehen.
"Insgesamt ist es natürlich im Rechtswesen schwierig, weil wir in Kontinentaleuropa eine ganz andere Rechtstradition haben, die ja auf das römische und lateinische Recht zurückgeht und in USA, auch in Kanada, Australien gibt es da eine ganze andere Rechtstradition. Und deshalb heißt es auch Investitionspartnerschaft und es geht auch darum, für Investitionen beispielsweise Rechtssicherheit zu schaffen und wenn ein deutscher mittelständischer Unternehmer in den USA investiert und ist dann mit dem amerikanischen Rechtssystem konfrontiert - dann kann es unter Umständen schwierig werden."
Die Frage der Schiedsgerichte
1959 wurden bei Verträgen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Pakistan erstmals Schiedsgerichte vereinbart, wohl, weil man den staatlichen Gerichten in Pakistan nicht traute. Bei der jungen Nation war man nicht sicher, ob nicht Benachteiligungen oder womöglich Enteignung drohte. Die Schiedsgerichte damals und in der Folge waren gleich als Einbahnstraße konzipiert - Unternehmen können den Staat verklagen, der Staat aber nicht die Unternehmen. Es geht auch nicht immer schnell und man muss sich unter Umständen so ein teures Verfahren auch leisten können. Joachim Pfeiffer:
"Es gibt beispielsweise im europäischen Binnenmarkt Schiedsgerichtsverfahren von deutschen Unternehmen - beispielsweise Stadtwerke München, ist sogar ein kommunales Unternehmen, die in Spanien im Ökostrombereich investiert haben, dann haben die Spanier im Nachhinein die Rechtsgrundlage verändert und somit quasi die Investition entwertet und deshalb wird jetzt vor einem internationalen Schiedsgericht in Washington - also da geht es um die Weltbank als eine internationale Organisation, ist dieses angerufen und entscheidet darüber, ob hier ein Verstoß vorliegt oder nicht. Also insofern sind Schiedsgerichte weder Parallelgerichte noch tun sie die nationale Souveränität aushebeln, sondern sie bieten einfach schlicht den beteiligen Parteien ein schnelles Verfahren, um die Problemstellung zu lösen. Bei Schiedsgerichten geht es auch immer nur um die Frage von Schadensersatz, es wird niemals materiell das Recht verändert."
In der Tat ist es so, dass ein Schiedsgerichtsspruch spanisches Recht nicht verändern kann. Das bedeutet: Die Spanier würden zwar ihre Gesetze behalten, müssten aber Entschädigung zahlen. Durch dieses Verfahren könnte nationales Recht zum Luxusgut werden, denn die Drohung einer oft exorbitant hohen Schadensersatzsumme könnte Staaten dazu bringen, Gesetze in abgemilderter Form zu verfassen oder gar nicht erst zu beschließen. Wer das Recht schafft, hat die Macht - darum geht es bei den Schiedsgerichten.
Ein Beispiel: Seit Ende 2012 müssen in Australien Zigarettenpackungen einheitlich olivgrün eingefärbt werden. Zusätzlich muss der größte Teil davon mit abschreckenden Fotos von Nikotinopfern bedruckt werden. Der Tabakkonzern Philip Morris verklagte daraufhin die australische Regierung vor australischen Gerichten und vor dem Schiedsgericht in Washington, das recht symbolisch im Gebäude der Weltbank tagt.
Vor diesem Gericht, das von Fall zu Fall zusammengestellt wird, können Unternehmen gegen ausländische Staaten Klage einreichen, wenn sie glauben, deren Gesetze hätten ihre Investitionen beeinträchtigt. Vor australischen Gerichten klagte Philipp Morris auf Entschädigung, weil die Firma angeblich enteignet worden sei - enteignet, weil sie ihr Markenlogo nicht mehr führen dürfe. Dieser sehr weit gefassten Enteignungstheorie mochten sich australische Gerichte nicht anschließen.
Vor dem Investitionsschiedsgericht muss noch entschieden werden, ob die Regelungen der australischen Regierung zum gesundheitlichen Schutz ihrer Bürger die Gewinnerwartungen von Philip Morris verletzen. Denn als die Firma vor Jahrzehnten investierte, musste sie nicht damit rechnen, dass die australischen Gesetze zum Schutz der Gesundheit irgendwann einmal verändert werden würden. Wenn das Schiedsgericht sich auf die Seite von Philip Morris stellt, könnten auf Australien Kompensationszahlungen in noch unbekannter Höhe zukommen.
Mehrere Länder haben aus solchen Fällen gelernt und angekündigt, Handelsverträge unter Beteiligung von Schiedsgerichten entweder aufzukündigen oder nicht mehr abzuschließen.
"Ich bin für einen internationalen Handelsgerichtshof unter zwei Bedingungen: Erstens: Dieser Handelsgerichtshof darf nicht nur die Interessen der Investoren schützen, sondern muss es auch möglich machen, dass Staaten oder betroffene Unternehmen verklagen können, wenn sie Menschenrechte oder Umweltrechte mit Füßen treten."
Sven Giegold ist Europa-Abgeordneter der Grünen und hat in Brüssel ein Auge auf die Handelsverhandlungen und die neuen Normen, die dabei entstehen könnten.
"Das Zweite: Es muss ein echter Gerichtshof sein. Also nicht verkappte Schiedsgerichte, wo doch immer wieder fallweise bezahlte Richter zu Richtern werden, sondern ein stehendes Gericht mit festen Richtern, die tatsächlich unabhängig sind."
Mit einem stehenden Handelsgerichtshof würden neue Rahmenbedingungen und Rechtsnormen gesetzt. Aber wer bestimmt, wie diese Normen aussehen sollen? Die Verhandlungsdelegationen verhandeln hinter verschlossenen Türen.
"Die demokratische Kontrolle der Verhandlungen hier ist ein Witz. Und zwar ist es so, dass alle wichtigen Dokumente nur einem ausgewählten Kreis von knapp zehn Abgeordneten zur Verfügung stehen. Ich selber kann nicht in die Verhandlungsdokumente schauen, ich kann nicht nachsehen, welche Positionen die Vereinigten Staaten vorgeschlagen haben. Ein Großteil der Gerüchte, die wir haben, kommt genau daher, dass die Verhandlungen so intransparent sind, der normale Europaabgeordnete kann selbst sich kein überzeugendes Bild von dem tatsächlichen Stand der Verhandlungen machen."
Hilbig: "Das, was EU und USA jetzt verhandeln innerhalb von TTIP, kann auf zweierlei Art Auswirkungen haben: zum einen, wenn sie Zölle senken, wird der Handel zwischen den beiden Wirtschaftsblöcken zunehmen, und alle früheren bilateralen Verhandlungen und Abkommen zeigen halt, dass dadurch der Marktzugang für Drittstaaten, für Entwicklungsländer erschwert wird."
Sven Hilbig, gelernter Jurist. Er arbeitet zum Thema Welthandel und globale Umweltpolitik bei der evangelischen Entwicklungshilfeorganisation "Brot für die Welt". Die Regel ist bekannt: Wer die Norm macht, hat den Markt. Und jede Norm, die von EU und USA installiert wird, hat Auswirkungen auf Dritte, die gar nicht mit am Verhandlungstisch sitzen.
"Und das zweite ist, wenn die beiden großen Wirtschaftsblöcke Standards, Produktionsstandards setzen, kann das dazu wirken, dass es auch für Entwicklungsländer nicht mehr so einfach sein wird, in die EU und USA zu exportieren, weil sie die Standards nicht erfüllen können."
Wenn schon verhandelt wird, wenn schon neue Standards gesetzt werden, dann geht es "Brot für die Welt" nicht allein um Dinge. Immer wieder ist von menschenverachtenden Produktionsweisen die Rede, zum Beispiel in der Textilindustrie in Ländern wie Pakistan oder Bangladesch. Nun gibt es Überlegungen, die internationale Wirtschaftsordnung mit neuen Normen auszustatten. Dann könnte man am Ende einer langen Produktionskette von Zulieferern und Verarbeitern den Händler, der das alles in Auftrag gegeben hat, verantwortlich machen für die Bedingungen, unter denen produziert wird.
Das wäre der neue Ansatz für Normen innerhalb des weltweiten Handels – wenn in Bangladesch die Hinterhoffabrik abbrennt, in der billige, daher profitable T-Shirts genäht wurden, dann könnte man die deutsche Ladenkette, die den Auftrag erteilt hat, vor einem internationalen Handelsgerichtshof verklagen. Hilbig fordert, es müsste ...
"… einen Beschwerdemechanismus geben, wo unter anderem auch NGOs aus Entwicklungsländern Beschwerde einlegen können, dass sich dieses Abkommen negativ auswirkt auf die Umsetzung der Menschenrechte in Drittstaaten."
Damit würde eine neue Norm aufgestellt, die es bisher noch nicht gegeben hat - die Haftung des Endproduzenten. Geht man davon aus, dass in den Chefetagen der betroffenen Firmen dieser neue Standard nicht nur Begeisterung auslösen wird, dann kann man sich leicht vorstellen, dass die Debatte über die Einrichtung eines neuen juristischen Standards mit Vernunft allein - wie bei den Verhandlungen um technische Normen - nicht zu einem Ergebnis kommen wird.
Verhandlung hinter verschlossenen Türen
Zurück zu den Normen im transatlantischen Freihandel. Vorläufer von TTIP ist CETA, ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kanada, ausgehandelt hinter verschlossenen Türen. Nun gehen die Türen auf und der Vertrag kommt als Paket von circa 1300 Seiten auf die Abgeordnetenbänke des Europaparlaments. Die Parlamentarier sollen abstimmen - im Sinne von "zustimmen".
Giegold: "Meine Situation als Parlamentarier ist, wenn jetzt CETA tatsächlich so paraphiert wird, also die endgültigen Unterschriften darunter gesetzt werden, wie es jetzt ist, dann kann man CETA nur ablehnen, wenn man am Rechtsstaat Interesse hat. Denn die Schiedsgerichte sind drin und zwar in der ursprünglichen Form und damit ist das schon deshalb abzulehnen. Aber das ist ja nicht der einzige Grund, warum man CETA ablehnen sollte. Es gibt große Rechtsstaatsprobleme, zum Beispiel, dass ein so genannter Hauptausschuss im Nachhinein das Abkommen ändern kann, ohne dass das Europaparlament wieder befasst wird. Ein Vertrag, den nachher ein nicht demokratisch legitimiertes Gremium abändern kann, obwohl er in der ursprünglichen Fassung vom Europaparlament gebilligt wurde, ist ein Unding."
Nach dieser Verfahrensweise kann das Parlament, wenn es der Meinung ist, dass es vielleicht auch nur einzelne Regelungen im Vertrag ablehnen will, nur das Paket insgesamt ablehnen - womit sich der einzelne Parlamentarier eine hohe Verantwortung auflädt. Bei CETA ist es zu spät - bei TTIP ist es anders: Da beginnen schon während der laufenden Verhandlungen die Politik und eine politische Öffentlichkeit damit, das entstehende Vertragswerk zu examinieren. Viel zu früh, beschweren sich die Freunde der geheimen Verhandlungen. Genau richtig, sagt Sven Hilbig von "Brot für die Welt".
"Dieser Vorwurf kam ja auch schon von Sigmar Gabriel im letzten Jahr, dass die Leute sich über was aufregen, was noch gar nicht fertig ist. Wir müssen uns bloß jetzt empören, denn wenn das Abkommen fertig ist, kann man einzelne Bereiche nicht mehr rausnehmen, bei Handelsabkommen ist es so, das kann nur komplett angenommen oder abgelehnt werden. Das heißt, alle Nachbesserung aus unserer Perspektive, Menschenrechte, entwicklungspolitische Kohärenz, muss jetzt aufgenommen werden, deshalb müssen wir uns jetzt mit dem Abkommen beschäftigen, denn sonst haben wir ein Abkommen, was wir nicht wollen, und was uns dann möglicherweise aufoktroyiert wird."
Die Kritiker aber gehen weiter: Sie wollen die Normen für das Aushandeln von Normen verändern.
"Warum ist das geheim? Erstens ist es deshalb geheim, weil internationale Verträge schon immer im Geheimen ausgehandelt wurden. Früher hat das keinen gestört. Wir haben heute einen ganz anderen Anspruch an Transparenz, und in der Tat gibt es andere internationale Verhandlungen, die deutlich transparenter ablaufen. Das weitestgehende Beispiel sind die weltweiten Regelungen für geistige Eigentumsrechte. Da standen bei den Verhandlungsrunden in der UNO die Webcams im Raum und trotzdem wurde das erfolgreich verhandelt. Ich glaube, dass wir heute uns dran gewöhnen müssen, - es gibt sowieso ständig leaks - dass Verhandlungen im Öffentlichen geführt werden und nicht mehr im Privaten. Und die Menschen akzeptieren das nicht mehr, diese Intransparenz."
Eine Norm - einmal in die Welt gesetzt, verfügt meist über einen starken Lebenswillen. Abschaffen ist mühsam oder gar unmöglich. Bei der DIN-Normung ist es so, dass im Normalfall alle fünf Jahre überprüft wird, ob die Norm noch dem Stand der Technik entspricht. Selten wird eine gestrichen, meist wird sie aktualisiert, aber man könnte gelegentlich auch darauf verzichten, überhaupt eine Norm zu schaffen.
Ein Beispiel: Jahrzehntelang war das Lieblingsgemüse der Gegner der Europäischen Vereinigung die Gurke. Die Euro-Gurke war durch die Verordnung 1677/88 genormt. Sie hatte "gut geformt" und "praktisch gerade" zu sein, als "maximale Krümmung" wurden ihr zehn Millimeter auf zehn Zentimeter Gurkenlänge zugestanden. Was bei der Euro-Palette sinnvoll war, erwies sich bei einem natürlich wachsenden Produkt als Unsinn - hielt sich aber 20 Jahre. Erst 2009 wurde die Euro-Gurke aus den Akten genommen. Ebenso erhielten Möhren, Kohl und Spargel ihre europäische Freiheit zurück.
"Jeder möchte die Sicherheit haben, dass das Wasser aus der Leitung konsumierbar ist und möchte bestimmte Standards, dass Lebensmittel sicher sind. Das Thema Normierung geht natürlich viel, viel weiter als nur das Thema der Lebensmittelsicherheit."
Lars Jäger spricht für Slowfood. Slowfood ist eine weltweite Non-Profit-Organisation, die vor 25 Jahren in Italien gegründet wurde. Der Verein mit - in Deutschland – 14.000 Mitgliedern kämpft nicht allein dafür, dass in einer hektischen Welt langsam und gesundheitsverträglich gegessen wird, sondern auch dafür, dass hochwertige Lebensmittel auf den Tisch kommen. Slowfood verkauft keine Lebensmittel, Slowfood propagiert die Philosophie von guten Lebensmitteln.
"In unserer Struktur von Handel sind ja viele Normen, nach meiner Meinung, Handelsnormen. Also die berühmte gerade Gurke macht ja auch nur Sinn, wenn ich Handelsstrukturen habe und sage, ich möchte möglichst viele Gurken in eine Kiste bekommen, darum möchte ich eine bestimmte Form haben der Gurke, weil ich sie dann einfacher transportieren, lagern und verkaufen kann."
Lars Jäger ist gelernter Betriebswirt und arbeitet in Berlin für eine große Bank. Für Slowfood hat er beides im Blick: Geschmack auf der einen, Wirtschaft auf der anderen Seite. Da fällt einem der Unfug schon auf, den der Zwang zu normgerechten Lebensmitteln mit sich bringt.
"Wenn man weiß, dass bis zu 30 Prozent der Kartoffeln auf dem Acker liegen bleiben, weil sie einfach nicht den Handelsnormen entsprechen, weil sie zu groß sind, zu klein, wir damit auch in einer ungeheuren Verschwendung von Lebensmitteln Vorschub leisten, weil ich absolut brauchbare, hochqualitative Lebensmittel erzeuge, die aber nicht den Weg in den Handel finden, weil sie den Normen nicht entsprechen, - das ist etwas, wo sich die Gesellschaft grundsätzlich Gedanken drüber machen muss, ob ich das so will."
Dem Verbraucher fällt auf, dass die Auswahl an Äpfeln im Supermarkt sehr überschaubar ist. Es gibt hunderte natürlicher Sorten, die auf Bäumen wachsen, aber weniger als ein Dutzend, kommt in den Supermarkt. Diese Früchte werden auf Haltbarkeit, Aussehen und Größe genormt, sodass es dem Braeburn-Produzenten in Neuseeland egal sein kann, in welches Flugzeug seine Produkte verladen werden: Seine Äpfel sehen im Kühlregal von Berlin-Wilmersdorf ebenso verlockend aus wie im Supermarkt von Mistissini in der kanadischen Provinz Québec. Die ganze Welt - ein einziger Apfel.
"Die Normung von Geschmack gibt natürlich niemand vor. Das ist ein Prozess, der sich entwickelt. Was bringe ich denn den Konsumenten bei, wie etwas zu schmecken hat? Welche Qualität in geschmacklicher Weise hat etwas? Also der berühmte Erdbeerjoghurt, der mit natürlichen Aromen erzeugt wird, wo alles Mögliche drin ist, nur keine Erdbeere. Wo da Farbstoff drin ist, das Aroma ist auf der Basis von Pilz und Holz erzeugt, aber ich konditioniere die Menschen, die Konsumenten, vor allen Dingen auch Kinder, mit bestimmten Geschmacksparametern, indem ich sage, so hat ein Erdbeerjoghurt zu schmecken, zum Beispiel."
Sicherheit und Hygiene von Lebensmitteln
In einer Fernsehreportage war zu sehen, wie der englische Starkoch Jamie Oliver für eine Schule in einem Arbeiterviertel kochte. Er versuchte, im finanziellen Rahmen der Schulküche zu bleiben und trotzdem alle Gerichte aus frischen Produkten - darunter viel Gemüse, Salat, Gewürze - zu kochen. Dann wurde das Mittagsmenü an die Schüler ausgegeben. Einer der Schüler war zu beobachten, wie er eine Gabel voll Essen probierte und mit einer instinktiven, blitzschnellen Bewegung sich zur Seite wandte und das Essen auf den Fußboden erbrach, den traditionell sehr direkten Umgangsformen der englischen Arbeiterklasse folgend. So etwas Schreckliches wie frisches Essen war ihm noch nicht auf die Zunge gekommen.
"Aus Slowfood-Sicht ist das Thema der Vielfalt, Biodiversität und auch Unterschiedlichkeit ein absoluter Wert, den die Menschheit, die Welt auch über Jahrhundert und Jahrtausende entwickelt hat, der uns einfach verloren geht aufgrund von industriellen Prozessen, die dem diametral gegenüberlaufen."
Was also tun? Wenden wir uns zur Seite und schleudern wir alle Normen, die nicht direkt die Sicherheit und Hygiene von Lebensmitteln betreffen, auf den Boden?
"Ich glaube, die erste Norm für uns, die wir festlegen können: Es ist nicht immer alles gleich. Das ist für uns in der heutigen Zeit schwierig nachzuvollziehen, aber die Natur lässt sich nicht normen und ich muss mit Schwankungen leben. Und um das klarzumachen: Es geht nicht darum, zu produzieren wie vor hundert Jahren. Wir sind heute in einer anderen Zeit. Ich habe heute auch andere Möglichkeiten, kann heute hochwertigere Lebensmittel zu produzieren. Das Wissen, was wir haben, herzunehmen und aus hochwertigen Grundzutaten handwerklich hochwertige Produkte zu erzeugen, das ist der Weg aus unserer Sicht, unabhängig von den Möglichkeiten, die die Industrie liefert."
Giegold: "Und nicht jede Norm ist automatisch besser, wenn sie global überall gleich ist oder auf ähnlichem Standard ist."
Sven Giegold, Europa-Abgeordneter der Grünen.
"Ich sehe keinen Grund, warum wir in Europa, zum Beispiel, was unsere Lebensmittelsicherheit angeht: Chemikalien, Tierschutz und viele andere Fragen, warum wir hier eigentlich globale Normen annehmen sollten."
Es mag ja sein, dass die Mehrzahl der Amerikaner den französischen Roquefort-Käse eklig findet, während Europäer kein Interesse daran haben, chemiebelastete Lebensmittel zu importieren. Sven Giegold findet, es müsse nicht alles gleich werden, weil dies eine Verarmung der Welt zur Folge hätte.
"Das heißt aber nicht, dass damit Handelsverträge deshalb bedeutungslos werden. Man muss eben unterscheiden zwischen technischen Regeln, die kann man sehr wohl international anerkennen und auch die Zulassungsverfahren gegenseitig anerkennen und damit Bürokratie abbauen. Aber immer dann, wenn Wert-Entscheidung davon betroffen sind, dann ist das demokratiepflichtig und da muss das Subsidiaritätsprinzip gelten, das Prinzip, dass man jede Entscheidung so dezentral wie möglich trifft. Und das ist in Europa in der Regel der europäische Binnenmarkt, wo wir auch eine europäische Demokratie haben."
Die Welt scheint sich zu wandeln. Einerseits zwingt die hohe Beweglichkeit von Produkten und Dienstleistungen dazu, durch Normen und Regeln eine Vergleichbarkeit und einen Mindeststandard zu gewährleisten. Andererseits haben sich die Kräfte geändert, die auf die Gestaltung von Normen einwirken: Früher mussten die Materialien und die Größe eines Hemdes genormt werden, in wenigen Jahren könnte es sein, dass dafür auch Menschenrechte und sozialer Schutz genormt und zertifiziert werden. Und das könnte geschehen, weil sich die Regeln für das Aufstellen von Regeln verändern.
"Also dann, wenn es sich um gesellschaftliche Wertentscheidungen handelt und nicht um technische Normen, dann muss die Demokratie den Vorrang haben."
Die drängende Frage nach der Vereinheitlichung von Rasierklingen ist damit natürlich nicht beantwortet.