Zukunft der Ukraine

Nach Kriegsende muss ein Marshall-Plan her

29:34 Minuten
Krieg in der Ukraine: Bei der Evakuierung von Irpin überqueren flüchtende Menschen eine zerstörte Brücke.
Krieg in der Ukraine: Die Zerstörungen sind schon jetzt gewaltig, der Wiederaufbau wird eine Herausforderung sein und teuer werden. © picture alliance / dpa / Zumapress.com / Mykhaylo Palinchak
Moderation: Annette Riedel |
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Überlebt die Ukraine den Krieg als souveräner Staat, könnte es einen Wiederaufbau-Boom geben, ähnlich dem deutschen Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg. Voraussetzungen dafür seien die massive Unterstützung der EU und Reformen, sagt Osteuropa-Experte Heiko Pleines.
Wenn die Waffen schweigen, wird die Ukraine vor einer Mammut-Aufgabe stehen: der Wiederaufbau zerstörter Infrastruktur, Wohnungen, Betriebe, öffentlicher Gebäude. Aus eigener Kraft wird das kaum zu schaffen sein.
Deshalb wird die Europäische Union gefordert sein, substanzielle finanzielle Wiederaufbau-Hilfe zu leisten. "Wir hatten in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg das Wirtschaftswunder mit dem Marshall-Plan. So etwas Ähnliches müsste die EU dann auch auflegen," sagt der Osteuropa-Experte Heiko Pleines. Dann wäre sogar ein Boom durch den Wiederaufbau möglich.
Zu den massiven Zerstörungen durch den Krieg kommen weitere wirtschaftliche Probleme hinzu. So sei als Folge der Kämpfe die Weizenernte nicht gesichert, sagt Pleines. Damit fehlten dem Land erhebliche Einnahmen.Darüberhinaus könne es auch zu Engpässen bei der Ernährung der eigenen Bevölkerung kommen.
Die im Zuge des Krieges gestiegenen Energiepreise wirkten sich ebenfalls negativ auf die ukrainische Landwirtschaft aus. Zusammen mit der zu befürchtenden Verknappung von Getreide durch Ernteausfälle könnten viele Lebensmittel teurer werden.

Ein Reformsprung wäre möglich

Die Ukraine werde nach dem Ende der Kampfhandlungen in vielerlei Hinsicht "eine andere sein". Vorausgesetzt, es gelinge, dass das Land seine Souveränität wahre, sei es durchaus vorstellbar, dass dann "in aller Dringlichkeit" klar sei, dass es gelte, substanzielle Reformen umzusetzen. "Da kann ich mir durchaus einen Reformsprung vorstellen."
Denn noch sei die Ukraine weit davon entfernt, ein Rechtsstaat und eine Demokratie nach europäischem Vorbild zu sein. Zwar habe man sich mit dem Assoziierungsabkommen mit der EU von 2014 in Richtung Rechtsstaat bewegt, aber viele entsprechende Gesetze stünden weiterhin in erster Linie nur auf dem Papier. Es habe in den letzten Jahren erhebliche Defizite bei der Umsetzung gegeben, berichtet der Experte.
Wirtschaftlich habe das Abkommen mit der EU der Ukraine spürbares Wachstum gebracht. Die Konzentration des Außenhandels auf Russland habe sich verringert, die Ausfuhren in die EU seien um zwei Drittel gestiegen. Seitdem der Assoziierungsvertrag in seinem wirtschaftlichen Teil 2016 wirksam geworden ist, hat die Wirtschaftskraft der Ukraine Pleines zufolge um rund 50 Prozent zugelegt.
Auch wenn das nicht allein auf den Vertrag zurückzuführen sei, habe dieser doch einen erheblichen Anteil zu der positiven Entwicklung beigetragen. Trotzdem habe die Ukraine - flächenmäßig nach Russland der größte Staat in Europa - nach wie vor eine eher geringe Wirtschaftsleistung. Sie entspreche umgerechnet "ungefähr der von Rheinland-Pfalz".

Kein Blitz-Beitritt zur EU

So verständlich der Wunsch nach einem schnellen Beitritt zur EU auch sein mag - es sei "eindeutig klar, dass die Ukraine durch das normale Beitrittsverfahren muss", so Pleines. Bevor der Kandidaten-Status vergeben wird, muss die EU-Kommission die Voraussetzungen dafür prüfen. Einmal Beitrittskandidat muss sich die Ukraine dann in einem Prozess an sämtliche EU-Regeln in mehreren Kapiteln anpassen.
Nur Finnland, das ganz andere Voraussetzungen hatte als die Ukraine, schaffte das in einem Blitzverfahren von nur drei Jahren. "Inwieweit die Ukraine jetzt oder in naher Zukunft in der Lage sein wird, ihre Verwaltung, ihre Wirtschaft, ihre Wirtschaftspolitik an die EU-Regeln anzupassen, steht in den Sternen", betont Pleines. Er gehe von einem "sehr langen Prozess" aus.
Möglich sei eine Beitrittsperspektive nur für eine souveräne Ukraine, die von Russland unabhängig sein müsse. Sei am Ende des Krieges nur noch ein dezimiertes Land übrig, weil sich Russland einen Teil der Ukraine einverleibt habe, müsse man sehen, inwieweit die restliche Ukraine lebensfähig sei.

"Korruption ist das zentrale Thema"

Die Ukraine ist in den vergangenen Jahren weit hinter ihrem wirtschaftlichen Potenzial zurückgeblieben. Eine wesentliche Rolle spielt dabei der Einfluss der Oligarchen - "ungewöhnlich erfolgreiche Geschäftsleute, die über informelle und nicht immer legale Kanäle Einfluss auf die Politik nehmen". Die Oligarchen seien Teil eines strukturellen Korruptionsproblem, sagt Pleines - aber nicht die einzige Ursache.
So sei das Zahlen von Schmiergeldern systemisch in der Gesellschaft verankert - sei es, um einen Pass zu bekommen, die Abwicklung der Löschung von Waren in den Häfen zu beschleunigen oder um einen lukrativen Job zu ergattern. Entsprechend gäbe es viele, die an einer Bekämpfung der Korruption gar kein Interesse hätten.
Das System verstärke sich selbst, denn wer besticht, werde oft seinerseits bestechlich, um die Kosten für Schmiergelder wieder einzuspielen. Unbestechliches Personal etwa für öffentliche Ämter zu finden sei eine Herausforderung. Vor diesem Hintergrund werde klar, warum die Bekämpfung der Korruption in der Ukraine viele Rückschläge erleide.
(AnRi)

Prof. Dr. Heiko Pleines leitet seit 2008 die Abteilung Politik und Wirtschaft der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Seit 2015 ist er zudem stellvertretender Direktor der Forschungsstelle. Von 1991 bis 1997 studierte er Russian Studies an der School of Slavonic and East European Studies (University College London). Seinen Master machte er in Geschichte, Wirtschaftswissenschaft und Publizistik an der Ruhr-Universität Bochum. Es folgte 2002 die Promotion am Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Von 2005 bis 2007 war Pleines als Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung Gastwissenschaftler in Moskau, an der National Research University - Higher School of Economics. Seit 2014 hat er eine Professur für Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Bremen.

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