Sorgenfalten im Paradies
Tschechien ist dort, wo Deutschland hin will: Vollbeschäftigung - niedrigste Arbeitslosigkeit in der EU. Eine Erfolgsgeschichte. Aber nun steigen die Löhne und aus der "billigen Werkbank Europas" soll ein Technologie-Land mit mehr Freizeit werden.
Eine Werkshalle – wenige Kilometer entfernt von Pilsen, der westböhmischen Industriestadt. Die Geräusche der schweren Maschinen durchdringen das ganze Gebäude. Große Pressen und Stanzen sind zu sehen – hier im Westen Tschechiens produziert die deutsche Firma Borgers, ein Automobil-Zulieferer aus dem Westfälischen. Geschäftsführer ist Uwe Hengstermann, ein zupackender Manager mit offenem Lachen.
Vor 20 Jahren hat man mich gefragt, würdest du mit nach Tschechien gehen? Ja, klar gehe ich mit! Ich habe die Chance gesehen, sollte das für zwei Jahre machen, und dann habe ich entdeckt, dass es hier Spaß macht. Und ich hatte keinen Drang mehr zurückzugehen, weil das Wachstum fand hier statt, nicht mehr in Deutschland. Und so bin ich hier hängengeblieben.
Uwe Hengstermann hat in diesen zwei Jahrzehnten eine erstaunliche Entwicklung miterlebt: Aus dem Billiglohnland Tschechien wurde das Wirtschaftswunderland.
Wo am Anfang Billiglöhner den westlichen Firmen ihre Arbeitskraft verkauft haben, herrscht heute Vollbeschäftigung – nirgendwo anders in Europa ist die Arbeitslosigkeit so niedrig wie in Tschechien. Sie liegt inzwischen unter vier Prozent.
Gleichzeitig steigen die Löhne und die Aussichten sind blendend. Uwe Hengstermann geht durch seine Fabrikhalle, 3.500 Mitarbeiter sind hier damit beschäftigt, Innenverkleidungen und Dämmstoffe für fast alle europäischen Automarken herzustellen. Es ist fast ausschließlich Handarbeit, mit der Hengstermanns Kollegen beschäftigt sind.
"Überall wird irgendwas geschnibbelt, geklebt, geschnipselt, das muss eben in Zukunft weitestgehend durch Technologie ersetzt werden. Das ist teuer, das hat man immer gescheut. Es war eben die Strategie für Tschechien, dass man es per Hand macht."
Mitarbeiter wollen mehr Freizeit
Das wird sich jetzt ändern, davon ist Uwe Hengstermann überzeugt: Das Billiglohnland hat ausgedient. Hengstermann geht durch seine Produktionshalle, wo überall kleine Teams von Mitarbeitern stehen. Er deutet auf zwei Männer mit blauen Arbeitskitteln.
Hier werden Zuschnitte in die Heizpresse eingelegt, damit sie geformt werden. Da stehen gerade zwei Leute, die haben eine Wartezeit, weil die Presse geschlossen ist. Bei den damaligen Lohnkosten war die Wartezeit kein Problem, das war deutlich günstiger als ein Invest in Roboter. Genau das muss jetzt neu überlegt werden.
Die Arbeitskraft ist auch in Tschechien so teuer geworden, dass in Roboter investiert werden muss, sonst verliere das Land seine Wettbewerbsfähigkeit.
Bei rund 1.000 Euro liegt inzwischen der tschechische Durchschnittslohn, in den Boom-Branchen wird deutlich mehr gezahlt. Damit hat Tschechien deutlich aufgeholt im Vergleich zum großen Nachbar Deutschland, wo der Durchschnittslohn etwa doppelt so hoch liegt - bei 2.000 Euro netto.
Die gestiegenen Einkommen und die geringe Arbeitslosigkeit bescheren Tschechien aber auch "Luxusprobleme": Unternehmer wie Uwe Hengstermann finden keine Mitarbeiter mehr, auch nicht für höhere Löhne. So viele Unternehmen haben sich angesiedelt, dass sie sich gegenseitig die Leute abwerben. Nur über finanzielle Anreize könne man niemanden mehr gewinnen, sagt Uwe Hengstermann. Stattdessen legten die Bewerber andere Kriterien an:
"Was wird an Freizeit geboten: Fußballteams, Feriencamps für die Kinder? Oder wenn jemand heiratet, gibt es einen Bonus. Oder Kilometergeld. Dann gibt’s Zuschüsse für Mittagessen, für Kleidung. Oder wenn jemand ein Jahr bei Borgers ist, gibt’s zwei Tage Urlaub extra, bis zu sechs Tagen. Damit konnten wir auf jeden Fall die Fluktuation stoppen."
Arbeitslosigkeit in Tschechien nur bei 3 Prozent
In manchen Monaten habe man kaum noch die Produktion aufrecht erhalten können, weil es einfach keine Mitarbeiter gab. Wer zwei Arme und zwei Beine hat und sich bei ihm meldet, sagt Uwe Hengstermann, der werde sofort eingestellt.
Bei rund drei Prozent lag die Arbeitslosigkeit in Tschechien zuletzt, sie ist schon seit Jahren auf ähnlich niedrigem Niveau.
Vom Boom profitiert vor allem die Hauptstadt Prag. Ihr Brutto-Inlandsprodukt liegt inzwischen bei 178 Prozent des EU-Durchschnitts. Damit liegt Prag unter allen Städten in der Europäischen Union auf Platz sechs – nach Hotspots wie London und Luxemburg.
Auch im Osten herrscht Vollbeschäftigung
Aber auch auf dem Land hinterlässt das Wirtschaftswunder seine Spuren. In Koprivnice etwa, einer 22.000-Einwohner-Stadt ganz im Osten Tschechiens. Hier, an einer Durchfahrtsstraße, hat Lenka Simeckova ihr Büro. Sie arbeitet in der Verwaltung von Koprivnice – als sie in den 1990er Jahren anfing, sagt sie, sei die Region quasi am Ende gewesen.
"Das war eine deprimierende Zeit. Die Arbeitslosigkeit lag weit über zehn Prozent, wir hatten jede Menge Leute im produktiven Alter, die keine Beschäftigung fanden."
Im Kommunismus war die Region hier im Osten Tschechiens geprägt von der Schwerindustrie. Mit dem Zerfall der Sowjetunion kam auch der wirtschaftliche Niedergang. Lenka Simeckova steht auf und geht ans Fenster. Vom achten Stock aus hat sie die ganze Stadt im Blick. Sie zeigt auf das Gelände der Firma Tatra – einst einer der großen Lastwagen-Hersteller des Ostblocks.
"Das Gebäude der Stadtverwaltung war früher die Direktion von Tatra. Da vorne war das alte Areal, wo sich jetzt kleinere Firmen angesiedelt haben. Unser Industriepark fängt dahinter an."
Der Industriepark – Lenka Simeckova ist eine der Initiatorinnen dieses Plans, der für die Stadt wie ein Hauptgewinn im Lotto war: 80 Hektar Brachland widmete sie um die Jahrtausendwende herum zum Industriegebiet um, und plötzlich kamen die Investoren.
Heute herrscht auch hier im Osten Tschechiens Vollbeschäftigung und die ganze Region, einst bitterarm, blüht auf. Ohnehin ist Tschechien inzwischen weit entfernt von den Klischees über das Elend im alten Ostblock, die sich hartnäckig halten. Man sehe den Aufschwung auf Schritt und Tritt, sagt Lenka Simeckova, die von Geburt an hier in der Region lebt.
"Die Stadt versucht, etwas aus sich zu machen. Nehmen Sie allein das Angebot an Freizeitaktivitäten: Wir haben ein Freibad, ein Hallenbad, eine Eishalle, ein paar Fußballfelder, Tennisplätze, einen Golfplatz. Außerdem bauen wir ein Radwegenetz, das uns mit den umliegenden Orten verbindet."
"Firmen bewerben sich um Studenten"
Die Hauptgewinner des Wirtschaftswunders sind die jungen Tschechen, die Berufseinsteiger. Was der Arbeitsmarkt für sie zu bieten hat, lässt sich zwei Mal im Jahr auf der Jobmesse der Prager Wirtschaftsuniversität beobachten; einer der renommierten Hochschulen in Mitteleuropa. Die Stimmung ist gelöst. Entspannt schlendern die jungen Leute von Stand zu Stand; einer von ihnen ist Martin, ein angehender Politologe.
"Klar habe ich Sorgen – vor allem, weil ich noch nicht weiß, was ich eigentlich machen will. Aber ich bin mir ziemlich sicher: Wer hier studiert hat, der kann etwas finden, was ihm Spaß macht. Ja, eine Arbeit findet man ganz bestimmt."
Auch Alzbeta ist entspannt, sie studiert Informatik und Statistik. Unklare Zukunftsperspektiven? Alzbeta lacht und schüttelt den Kopf.
"Klar ist es motivierend, wenn man weiß, dass es gute Angebote gibt, die auf einen warten. Mein Ziel ist es, mein Studium gut zu Ende zu bringen und das Wissen dann in der Praxis anzuwenden. Ich arbeite ja auch jetzt schon während des Studiums, da will ich danach gern weitermachen."
Es sind große Unternehmensberatungen, die hier auf den Fluren der Prager Wirtschaftsuniversität ihre Zelte aufgebaut haben, Start-ups, ausländische Investoren und große tschechische Firmen. 112 Aussteller sind vertreten, so viele wie nie, sagt Dana Berkova. Sie ist Karriereberaterin an der Wirtschaftsuniversität und sagt: Eigentlich seien es die Firmen, die sich hier um die Studenten bewerben.
"Großes Interesse gibt es an den Absolventen aus den IT-Fächern. Aber auch Steuern, Buchhaltung, Logistik und Beratung sind gefragte Berufszweige. Wir haben elf Schwerpunkte an unserer Universität, und für jeden von ihnen gibt es Nachfrage bei den Firmen."
Bei der Jobmesse hat sich innerhalb von fünf Jahren die Zahl der Aussteller verdoppelt – die Nachfrage nach neuen Mitarbeitern sei gewaltig. Dana Berkova:
"Wir führen jedes Jahr eine Absolventenbefragung durch. Die Ergebnisse sind eindeutig: In sehr kurzer Zeit finden die jungen Leute einen Job. Ich würde sagen, Arbeitslosigkeit gibt es bei uns überhaupt nicht."
Gründe für das Jobwunder
Ein paar 100 Meter entfernt von der Universität sitzt Daniel Münich in seinem Büro. Es liegt unweit des Prager Wenzelsplatzes; auf seinem Schreibtisch türmen sich stapelweise die Unterlagen. Münich ist Arbeitsmarktforscher am renommierten Think-Tank Cerge. Wer ihn nach dem wirtschaftlichen Erfolg seines Landes fragt, der erntet ein ungläubiges Kopfschütteln.
"Wenn man sich an etwas gewöhnt, dann hat man den Eindruck, dass es normal sei. Bei mir ist es so mit dem Aufschwung: Ich beschäftige mich seit Anfang der 1990er Jahre mit dem Arbeitsmarkt und habe täglich mit allen möglichen statistischen Zeitreihen zu tun. Natürlich höre ich regelmäßig die Frage, woher unser Jobwunder komme. Aber es gibt bis heute keine verlässliche Studie, die die Gründe eindeutig benennt. Es ist mehr eine Frage der Intuition als von rigorosen Beweisen."
Indizien zumindest, warum sich Tschechien zum Wirtschaftswunderland entwickelt hat, gibt es einige. Da sei zum Beispiel das ausgezeichnete Bildungssystem, zählt Daniel Münich auf:
"Tschechien ist ein extremer Fall, weil hier ein sehr hoher Anteil von Menschen mindestens einen mittleren Bildungsabschluss erreicht. Der Anteil der unqualifizierten Leute, die ja in anderen Ländern die typischen Arbeitslosen sind, ist extrem niedrig."
Genau daran liege auch die niedrige Jugendarbeitslosigkeit: Fast alle beenden eine Schule, studieren oder machen eine Berufsausbildung.
Dann gebe es noch die historischen Gründe – das heutige Tschechien war schon in der österreichisch-ungarischen Monarchie einer der wirtschaftlich erfolgreichsten Landesteile, und später im Kommunismus galt es innerhalb des Ostblocks als Ballungsraum der Industrie. Das sei bis heute so geblieben, sagt Arbeitsmarktforscher Daniel Münich.
"Tschechien hat europaweit den größten Anteil an Beschäftigten im Industriesektor und zugleich einen der geringsten Anteile von Beschäftigten in den Dienstleistungen."
Im Klartext bedeutet das: Solange es dem produzierenden Gewerbe gut geht, blüht auch Tschechien. Das sind gewissermaßen die Spätfolgen aus den 1990er Jahren, als das Land im Ruf stand, die verlängerte Werkbank des Westens zu sein.
Der deutsche Lebensstandard ist noch nicht erreicht
Viele Dutzend Firmen vor allem aus Deutschland haben ihre manuellen Tätigkeiten nach Tschechien verlagert, wo die Arbeitskräfte konkurrenzlos billig waren – auch deshalb ist die Industrie das Rückgrat der tschechischen Wirtschaft geblieben, insbesondere die Autoindustrie.
Und was ist mit den gestiegenen Löhnen? Müsste das der einstigen Werkbank des Westens nicht zu schaffen machen? Der Durchschnitts-Lohn immerhin liegt mit 1.000 Euro weit höher als in den östlichen Nachbarländern.
Arbeitsmarktforscher Daniel Münich schüttelt den Kopf; die Löhne seien eben immer noch deutlich niedriger als in Deutschland oder Österreich. Der dortige Lebensstandard sei noch nicht erreicht, auch wenn das seit dem Fall des Eisernen Vorhangs das ersehnte Ziel war. Dafür fehle aber noch einiges.
"Wenn man sich die langfristigen Zahlenreihen anschaut, dann sieht man, dass Tschechien in den vergangenen zehn Jahren aufgehört hat, zu Westeuropa aufzuschließen. Die Erwartungen der Bürger werden nicht erfüllt, das führt natürlich zu Enttäuschungen. Sicherlich hat die Forderung der Gewerkschaften nach höheren Löhnen genau damit zu tun – aber dabei gerät schnell außer acht, dass dafür auch die Produktivität steigen müsste."
Statt Produktionshallen mehr Forschungszentren
Tschechien habe sich, so kritisieren indes die Gewerkschaftler, in eine Sackgasse manövriert: Die ganze Wirtschaft sei auf die Produktion ausgerichtet – auf einen Sektor also, in dem keine großen Sprünge zu machen seien bei den Löhnen, anders als zum Beispiel bei Forschung und Entwicklung. Daran müsse sich endlich etwas ändern, sagte unlängst Josef Stredula zu tschechischen Journalisten. Er ist der einflussreiche Chef des Gewerkschaftsbundes.
"Deshalb soll Digitalisierung einer der Schlüsselbegriffe werden, zusammen mit Änderungen in unserem Bildungssystem – und Änderungen im Umgang mit ausländischen Investoren. Wir sollten aufhören, immer neue Investoren anzulocken, die aber keinen Mehrwert schaffen."
Überspitzt gesagt heißt das: Statt Produktionshallen sollten jetzt lieber Forschungs- und Entwicklungszentren entstehen. Teilweise passiert das auch schon – vor allem die technischen Hochschulen in Tschechien sind international gefragte Kooperationspartner, viele Unternehmen haben längst auch Bereiche wie etwa die Softwareentwicklung nach Tschechien verlegt.
Früher Arbeiter am Band, bald Programmierer für Roboter
Diese Gedanken beschäftigen auch Uwe Hengstermann. Der tschechische Statthalter des westfälischen Automobil-Zulieferers Borchers geht durch seine Werkshallen und macht sich Gedanken über die Zukunft. Um die Automatisierung führe kein Weg herum, urteilt er.
"Die neuen Linien, die wir hier aufbauen, beinhalten alle einen Roboter, wo früher ein Mensch Hand angelegt hat. Dann wird es interessant, denn wir brauchen mehr Programmierer, wir brauchen Experten für die Instandhaltung. Wir brauchen also weniger Leute, aber dafür mehr qualifiziertes Personal – das wird der nächste Engpass sein."
Und noch eins zeichne sich ab: Wenn die Kostenvorteile des Standorts Tschechien allmählich geringer würden, dann stelle sich irgendwann die Frage, was man dort überhaupt noch produzieren wolle. Uwe Hengstermann:
"Wir sehen bei unseren Produkten, dass teils Deutschland schon wieder der Konkurrent ist. Wenn wir eine Linie haben mit früher sieben Leuten, braucht man da heute dank der Roboter einen Logistiker und einen Mitarbeiter für die Roboter-Bedienung. Dann können wir die auch in Bocholt aufbauen."
Das zeigt - Tschechien, das Land mit der niedrigsten Arbeitslosigkeit Europas, steht in den nächsten Jahren vor einem großen Umbruch.