Wirtschaftsforscher Alexander Kritikos

Griechenland - Tragödie ohne Ende?

Eine Seniorin wartet an einer Bushaltestelle in Athen.
Eine weitere Rentenkürzung würde die Armut in Griechenland verschlimmern. © picture alliance / dpa / Socrates Baltagiannis
Moderation: Axel Rahmlow |
Die Schuldenkrise hält Griechenland weiter fest im Griff. Derzeit verhandelt Athen mit den Geldgeber-Institutionen über die Umsetzung eines dritten Hilfsprogramms in Höhe von bis zu 86 Milliarden Euro. Wirtschaftsforscher Alexander Kritikos rechnet langfristig mit einem Schuldenschnitt.
Auch unter den Gläubigern gibt es Streit: Der Internationale Währungsfonds fordert Schuldenerleichterungen für die klammen Hellenen, was die EU – allen voran die Bundesregierung – ablehnt.
Geht die griechische Tragödie in eine neue Runde? Wie viel Sparen ist den Griechen noch zuzumuten – auch angesichts der Belastungen durch die Flüchtlingskrise? Ist ein Schuldenschnitt nötig, um das Land wieder auf die Beine zu bringen? Droht doch noch der Grexit? Und wie können Wirtschaft und Gesellschaft Griechenlands nach jahrelanger Dauerkrise wieder aufgebaut werden?

Der Forschungsdirektor des Deutschen Instuts für Wirtschaftsforschung, Prof. Alexander Kritikos, stellte sich in "Tacheles" den Fragen von Axel Rahmlow.


Das Interview im Wortlaut:
Deutschlandradio Kultur: Hallo und herzlich willkommen. Griechenland und die Flüchtlinge, das hat in den letzten Wochen die Schlagzeilen und das Land bestimmt. Griechenland und seine ganz eigene Krise, also die Schulden, die Wirtschaft, die Arbeitslosigkeit, das ist dabei fast schon in Vergessenheit geraten, aber natürlich nicht verschwunden, ganz im Gegenteil. Jetzt gerade geht es mal wieder um neues Geld, aktuell. Es geht darum, alte Kredite rechtzeitig tilgen zu können. Sonst droht wieder einmal die Staatspleite.
Es geht mal wieder darum, dass das Land sparen und sich reformieren muss. Deswegen fragen wir in Tacheles: Die griechische Tragödie, Krise ohne Ende? Und darüber spreche ich mit Alexander Kritikos. Er ist Ökonom und arbeitet am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung als Forschungsdirektor. Schön, dass Sie da sind.
Alexander Kritikos: Seien Sie gegrüßt.
Deutschlandradio Kultur: Herr Kritikos, also, konkret geht es gerade um das dritte Hilfspaket für Griechenland, fünfeinhalb Milliarden Euro soll die griechische Regierung einsparen, zum Beispiel bei Rentenkürzungen oder mit neuen Steuern. Sie sind halber Grieche. Sie reisen regelmäßig in das Land. Der Deal: Neues Geld gegen Reformen und Sparmaßnahmen, ist das ein Deal, der Griechenland hilft, um aus der Krise zu kommen?
Alexander Kritikos: Ich fürchte, nein. Ich glaube, dieser Deal, der gerade vollzogen wird, dient in erster Linie dazu, um zu vermeiden, dass weitere Staatsschulden hinzukommen. Man tut derzeit eigentlich in erster Linie alles, was nötig ist, um den Staatshaushalt mehr oder weniger auf plus/minus Null rauslaufen zu lassen, vielleicht sogar einen minimalen primären Überschuss zu erzeugen, bevor man Zinsen zahlen muss.
Aber leider ist eigentlich die private Wirtschaft und die Frage, wie Griechenland aus der Krise herauskommen kann, derzeit sehr stark in den Hintergrund gerückt. Im Gegenteil, wenn man die letzten Maßnahmen der Regierung ansieht, insbesondere die Unternehmenssteuern zu erhöhen, nach wie vor die Strukturreformen nicht zu machen, nach wie vor diese Belastung für Unternehmen hoch zu halten, dann sieht man, dass inzwischen Unternehmen wirklich ihre Koffer packen und in Nachbarländer ziehen, also nach Albanien, nach Bulgarien. Sogar dort sind inzwischen die Rahmenbedingungen besser als in Griechenland.
Deutschlandradio Kultur: Das heißt, das dritte Hilfspaket, es gab ja schon zwei davor, hat nichts geändert, nichts verbessert für das Land?
Alexander Kritikos: Das dritte Hilfspaket hat zwei Komponenten. Die eine Komponente ist wieder die fiskalische Komponente, eben nach wie vor dafür zu sorgen, dass der Staatshaushalt in Betrieb bleiben kann, Griechenland zahlungsfähig bleibt. Das ist per se schon mal wichtig.
Aber die zweite Komponente, die eben tatsächlich auch darin enthalten ist, nämlich Strukturreformen zu machen, die ist bis heute nicht angegangen. Und wenn man in dieses dritte, in die Vereinbarung des dritten Pakets reinschaut, dann ist das auch wahnsinnig schwammig. Da steht im Prinzip ein Satz drin: "Wir machen Strukturreformen so, wie sie die OECD vorgeschlagen hat." – Aber man hat es bis heute leider nicht geschafft, es wirklich auf den Tisch zu bringen.

Vereinbarungen zum dritten Paket unter hohem Zeitdruck

Deutschlandradio Kultur: Und warum ist das so schwammig? In dem Wissen, dass mit konkreteren Vorgaben es nicht passieren würde, überhaupt nichts passieren würde?
Alexander Kritikos: Ich fürchte, es ist so schwammig, weil zum einen die Vereinbarung zu dem dritten Paket ja unter sehr hohem Zeitdruck passiert ist. Ich glaube auch, dass letztlich die Erwartung herrscht derzeit, zumindest mit der derzeitigen Regierung, in diesem Bereich auch nicht wirklich voranzukommen.
Die derzeitige griechische Regierung hatte eigentlich sogar die OECD ins Spiel gebracht bei der Frage dieser Strukturreformen, aber hier besteht ein grundsätzliches Problem: Ich glaube, dass die derzeitige Regierung kein wirklich fundamentales Interesse hat, die private Wirtschaft zu stärken. Hier gibt’s einfach doch auch noch ideologische Gräben in Griechenland zwischen der Linken, die nach wie vor eben dort glaubt, dass man mit einem starken Staat aus der Krise kommt, und eben den Gläubigern, die genau gegenteiliger Ansicht sind.
Deutschlandradio Kultur: Können Sie uns beschreiben, Sie sind ja regelmäßig dort, was diese Hilfspakete und dieses Erstarren, was sie gerade beschrieben haben, was das mittlerweile aus der griechischen Wirtschaft gemacht hat? Wie steht es denn eigentlich da momentan? Wir hören ja immer nur diese abstrakten Zahlen.
Alexander Kritikos: Ja, die abstrakte Zahl gibt einem zumindest den grundsätzlichen Eindruck, dass es seit sieben, acht Jahren letztlich ja permanent bergab geht. Wir haben seit Beginn der Krise in Griechenland kein wirkliches Wirtschaftswachstum gesehen. 2014 gab es mal so ein minimales Wirtschaftswachstum. Auch 2016 werden wir eher wieder ein Minus sehen.
Das heißt, im Großen und Ganzen tut sich leider nicht viel. Wir sehen, wenn wir genauer reinschauen, dass die Tourismusbranche der feste Anker in Griechenland ist. Die lief 2015 sehr gut. Die wird auch 2016 voraussichtlich wieder sehr gut laufen. Das heißt, ohne den Tourismus würde es wirklich zappenduster in Griechenland aussehen.
Deutschlandradio Kultur: Aber der Tourismus ist ja ein Niedriglohnsektor. Es sind ja ungelernte Kräfte, oder?
Alexander Kritikos: Ja, es ist ein Niedriglohnsektor. Dennoch ist es ein Sektor, mit dem man zumindest einen Teil der Wirtschaft eben betreiben kann. Was aber eben sehr viel schlechter läuft, sind andere Bereiche. Zum einen ist eben durch die Krise der Bausektor enorm eingebrochen. Der ist in manchen Teilen wirklich auf fünf Prozent des ursprünglichen Volumens eingedampft. Das heißt, er ist eigentlich fast nicht mehr vorhanden.
Deutschlandradio Kultur: Das heißt, da arbeitet auch niemand mehr?
Alexander Kritikos: Da arbeitet nahezu niemand mehr. Und alle Firmen in diesem Bereich sind wirklich Pleite.
Deutschlandradio Kultur: Wie kann das sein?
Alexander Kritikos: Wie kann das sein? Lassen Sie mich noch kurz zu Ende reden, dann kommen wir dazu.
Was das Wichtigste ja wäre, wäre, dass es in Griechenland aufwärts geht mit hochwertigen Produkten. Da hat Griechenland eine gewisse Basis. Aber genau diese innovativen Unternehmen, die leiden eben am stärksten unter diesem hohen bürokratischen Aufwand, unter diesen vielen Vorschriften. Und die gehen. Es gibt eine dramatisch lebendige Gründerszene in Athen. Aber die verlassen einfach alle das Land, sobald sie in Marktnähe kommen oder, wenn sie gegründet haben, sobald sie in irgendeiner Form wachsen wollen. Dann gehen sie einfach raus, weil sie sagen, in diesem institutionellen Umfeld wollen wir nicht bleiben. Wenn wir auch sehen, dass wir eben keinerlei Zugang zu Finanzierung bekommen, wollen wir nicht bleiben. Und wenn wir einfach mit diesen wöchentlichen, monatlichen Wechseln zu tun haben, wie wir besteuert werden, wollen wir nicht bleiben. Und die Kapitalverkehrskontrollen machen es ohnehin alles nochmal schlimmer.

Griechische Regierung am Zug, Vertrauen zu schaffen

Deutschlandradio Kultur: Die sind eingerichtet worden mit dem dritten Hilfspaket.
Alexander Kritikos: Vor dem dritten Hilfspaket. Man hatte eigentlich damals die Hoffnung, dass sie schon mit dem dritten Hilfspaket wieder zurückgezogen werden können. Aber das hat man eben bis heute nicht gemacht. Es ist eben ein Zeichen dafür, dass letzten Endes das Vertrauen in Märkte und der Partner in die griechische Regierung nicht so richtig vorhanden ist.
Deutschlandradio Kultur: Ist das zum Beispiel dann ein Beispiel für: Es war gut gemeint, aber nicht gut gemacht?
Alexander Kritikos: Ich glaube, hier ist tatsächlich die griechische Regierung einfach am Zug. Vertrauen schaffen, das kann man nicht durch Verträge, sondern man kann es letztlich nur durch Verhalten. Und solange eben der Eindruck vorhanden ist, dass die griechischen Banken nicht wirklich gesichert sind, dass nicht plötzlich doch wieder neue Kapitalverkehrskontrollen eingeführt werden, wenn ich mein Geld zurückbringe, wenn irgendwie plötzlich unsinnige Steuern auf Kapital erhoben werden, dann mache ich es einfach nicht. Dann lasse ich mein Kapital draußen.
Und all dieses Vertrauen ist nicht gegeben. Und solange das nicht da ist, wird man hier keinen Wandel sehen.
Es gab ja auch eine ganz skurrile Äußerung. Letzte Woche gab es ja einen deutsch-griechischen Unternehmergipfel, da war auch die Bankenpräsidentin da, die sagte: Wir werden die Kapitalverkehrskontrollen aufheben, sobald das griechische Geld wieder auf den Konten ist. – Und das ist natürlich die falsche Reihenfolge. Man muss sie erst aufheben, um damit überhaupt einen Vertrauensvorschuss zu geben, um den Leuten das Gefühl zu geben, jetzt könnt ihr wiederkommen. – Also, auch die Reihenfolge ist hier ganz wichtig.
Deutschlandradio Kultur: Sie hatten erwähnt, dass der Bau eingesackt ist. Sie hatten aber gleichzeitig erwähnt, das ist ja etwas viel Wichtigeres, nämlich innovative Unternehmen nicht so richtig in die Gänge kommen, sondern sogar eher das Land verlassen Richtung Albanien, Richtung Bulgarien. Das muss doch auch der griechischen Regierung und Ministerpräsident Tsipras bewusst sein. Warum tut sie sich so schwer damit?
Alexander Kritikos: Vielleicht kommen wir nochmal kurz zum Bau. Warum ist der so stark eingebrochen? Das hatten Sie ja vorhin noch offen gelassen.
Was ist mit dem Bausektor? Nun, es gab vor der Krise einen Bauboom in Griechenland. Das ist etwas, was eigentlich kaum bekannt ist. Es gab einen ähnlichen Bauboom wie in Spanien letztlich. Mit der Krise platzte auch in Griechenland die Blase. Und dann hat man allerdings in Griechenland zusätzlich zu dieser geplatzten Blase auch noch eine relativ hohe Immobiliensteuer eingeführt, die sozusagen den Immobilienbestand besteuert.
Und das hatte weitere Effekte, die alle negativ waren. Der Verkauf oder die Transaktionen in diesem Bereich sind nahezu auf null gesunken. Niemand kauft sozusagen jetzt eine Immobilie, um sich damit neue Steuerlast anzutun. Menschen, die Immobilien als Pension sahen, als das, was sie fürs Alter angespart haben, was sie in einer Immobilie angelegt haben, die waren nun wirklich vor ein doppeltes Problem gestellt. Zum einen mussten sie plötzlich auf etwas Steuern zahlen, was sozusagen ihre Rücklage war, ihre Bestandsrücklage. Wollten sie diese Immobilie verkaufen, haben sie sie noch nicht mal los bekommen, weil eben der Markt so zusammengebrochen war.
Das heißt, wir haben einen dramatischen Einbruch gesehen, zum einen verstärkt durch diese Steuer, und zum anderen eben wirklich für die, die in der Immobilie die Möglichkeit sahen, Erspartes anzulegen, dann tatsächlich auch den Verlust des Ersparten.
Deutschlandradio Kultur: Das ist sozusagen das Problem dort.
Alexander Kritikos: Ja.

"Regierung redet die Probleme durch Bürokratie und Überregulierung klein"

Deutschlandradio Kultur: Und bei den Unternehmen, die Sie angesprochen hatten, den innovativen. Ich kann es mir nicht vorstellen, dass die Regierung das selber nicht sieht.
Alexander Kritikos: Es ist aber so. Es ist absurd. Und hier sieht man auch tatsächlich im Gespräch mit Vertretern der Regierung, dass man auch wirklich in zwei Welten lebt. Die Regierung redet die Probleme, die durch die Bürokratie und Überregulierung entstehen, klein. Sie sieht sogar, dass die Menschen in Massen das Land verlassen. Das wird mit einem Lächeln quittiert. Ja, es haben 200 000 Leute das Land verlassen. Ja, es haben 230 000 Unternehmen geschlossen oder das Land verlassen. Aber sie hat bis heute nicht die Bereitschaft gezeigt, sozusagen an diesem zentralen Element zu drehen und zu sagen, wir müssen etwas tun, um diesen Unternehmen und diesen Unternehmern und Unternehmerinnen einen Anreiz zu geben, in Griechenland zu bleiben oder nach Griechenland zurückzukommen.
Das ist einfach nicht auf ihrer Agenda, weil hier auch eben so eine alte Vorstellung von privatem Unternehmertum noch vorherrscht. Das ist so immer noch diese Assoziation mit den Kapitalisten, denen man möglichst hohe Steuern auferlegen muss, damit man wenigstens abgreifen kann, was abzugreifen geht. Die sind sowieso sozusagen in der Lage, sich große Profite zu erwirtschaften und wir müssen da für uns holen, was wir können.
Dass man mit diesen Menschen zusammenarbeiten muss, um das Land aus der Krise zu bekommen, das ist eigentlich in dieser Regierung noch nicht wirklich angekommen.
Deutschlandradio Kultur: Jetzt könnte ich mir aber auch vorstellen, dass die linke Syriza-Regierung sagt: Ja gut, wenn wir jetzt deregulieren, dann bekommen wir zwar neue Arbeitsplätze, aber die sind alle dermaßen ungesichert, weil niedrige Bezahlung, weil keine Rentenversicherung, weil keine Absicherung. Was wir dann machen, ist, wir öffnen uns dem Neoliberalismus und werden ein Niedriglohnland.
Alexander Kritikos: Das wäre in der Tat genau die falsche Konsequenz, die man daraus sozusagen ableiten würde. Denn die Frage ist in der Tat: Man hat die Wahl zwischen einem Niedriglohnland und einem Land, das innerhalb der Eurozone prosperiert. Als Niedriglohnland wird man selbstverständlich nicht prosperieren. Und man ist und bleibt ein Niedriglohnland, wenn man eben auf Tourismus setzt und vielleicht noch so etwas versucht wie eine verlängerte Werkbank zu werden.
Man kann eigene hohe Wertschöpfung im Land haben mit Unternehmen, die eben hohe Wertschöpfung im Land erzeugen, wenn man zum einen diese Märkte öffnet, damit wirklich auch Marktturbulenzen zulässt, den Unternehmen die Möglichkeit gibt, durch Markteintritt Innovation hineinzubringen in die Märkte und damit eben auch Produktivitätsschübe zu erzeugen. Und man kann es unterstützen und man muss es unterstützen, indem man eben Forschung und Entwicklung finanziert.
Deutschlandradio Kultur: Forschung und Entwicklung ist ein sehr gutes Stichwort. Sie haben gerade eine Vierteljahresschrift herausgegeben über die griechische Zukunft. Da geht es ja auch um Forschung und Wissenschaft. Etwas, was ich nicht wusste, ist, dass das ein sehr starker Sektor in Griechenland ist, der aber anscheinend genauso aufgrund – sage ich mal – des Reformunwillens, aber auch der Vorgaben durch die EU vor sich dahindümpelt.
Alexander Kritikos: Ja. So ist es. Es gibt sehr starke Forscher in Griechenland. Es gibt auch einige wenige gute Forschungsinstitute in Griechenland. Das Problem ist hier, wie im Unternehmertum auch: Diejenigen Forscher, die an dieser Schnittstelle arbeiten wollen zwischen Forschung und Anwendung, Richtung neue Produkte, Richtung Innovation, die haben einen sehr schlechten Stand in Griechenland. Es ist zum einen ein Tabu in Griechenland, aus Forschung sozusagen Produkte zu machen. Reich zu werden aus Forschung, ist sozusagen das Schlimmste, was man machen kann. Jeder, der das wagt auch nur zu denken, wird letztlich mit einem Bann versehen.
Das heißt, wir sehen zwei Konsequenzen: Forscher ziehen sich entweder zurück in den Elfenbeinturm und machen wirklich nur Forschung um der Forschung willen. Oder sie verlassen eben auch das Land und forschen woanders, wo sie wissen, da ist ihre Forschung gern gesehen und da ist eben Forschung auch möglich in Zusammenarbeit mit Unternehmen. So wie wir das hier in Berlin zum Beispiel sehen in Berlin-Adlershof, wo das richtiggehend zelebriert wird. Da haben wir fünfzehn Forschungsinstitute, die halbe Humboldt-Universität und darum herum 500 Hightech-Startups, die diese Forschung für sich versuchen zu nutzen.
Das ist in Griechenland genau nicht möglich. Es ist zum einen das Tabu vorhanden. Zum anderen gibt es einfach auch bis heute ungelöste Probleme im Bereich des Patentschutzes. Viele haben Angst, in Griechenland tatsächlich ein Patent anzumelden, weil sie nicht wissen, ob sie es dann wirklich sicher bei sich behalten können.
Deutschlandradio Kultur: Das ist keine gute Voraussetzung.

Ruppiges Verhalten der Troika im Umgang mit Regierung

Alexander Kritikos: Und vielleicht eine letzte Zahl noch: Das wurde einmal ausgezählt. Es gibt viele wirklich hervorragende Forscher griechischer Herkunft. 85 Prozent von denen sind im Ausland.
Deutschlandradio Kultur: Das sind sehr viele auf jeden Fall. Sie machen in Ihrer Vierteljahresschrift den Vorschlag, dass es doch externe Experten geben sollte, die der griechischen Regierung helfen, endlich Reformen umzusetzen. Weil, das ist ja das, was seit Jahren versucht wird. Wie soll das konkret funktionieren? Glauben Sie, dass die griechische Regierung das tatsächlich zulassen würde?
Alexander Kritikos: Das ist immer eine Frage: Wie beschreibt man den Weg, um zu einer solchen Kooperation zu kommen? Zulassen oder wollen oder wünschen wird man sich eine solche Kooperation natürlich erst dann, wenn man selber zumindest die Bereitschaft zeigt oder den Glauben zeigt zu sagen, durch solche Wirtschaftsreformen, durch solche Strukturreformen kommen wir raus aus der Krise. Das ist natürlich die zwingende Voraussetzung. Ohne diese grundsätzliche Bereitschaft wird es nicht sinnvoll sein, eine solche Kooperation zu versuchen.
Aber auch da kann man natürlich einen ersten Schritt von Seiten der Gläubiger machen und darlegen, warum eine solche Reform, ein solches Reformvorhaben sinnvoll ist. Ich glaube, im zweiten Schritt, wenn man eben die letzten sieben Jahre ansieht, dann sind die Strukturreformen eben auch nicht vorangekommen, weil die damalige Troika im Umgang mit der griechischen Regierung doch manchmal sehr ruppig war, sehr von oben herab gehandelt hat und nicht wirklich versucht hat, intensiv in Kooperation und Beratung darzulegen, was zu tun ist.
Deutschlandradio Kultur: Und das wirkt nach?
Alexander Kritikos: Das wirkt nach und es ist insofern auch schlecht aufgesetzt gewesen. Es gab parallel ja auch noch die sogenannte Task Force for Greece, die aus der Europäischen Union gestellt wurde, die parallel versuchte genau das zu machen, zu beraten und den Ministerien Vorschläge zu machen, wie man diese Strukturreformen im Einzelnen machen soll.
Das war aber nicht aufeinander abgestimmt. Es war sozusagen nicht aus der gleichen Philosophie heraus geleitet. Die Troika handelte unabhängig von der Task Force. Und so hat man verschiedenste Geschwindigkeiten gesehen. Das hätte viel, viel besser abgestimmt sein müssen. Und das ist das, was man im Prinzip für die Zukunft lernen muss: Man muss solche Prozesse besser miteinander verzahnen. Und man muss gleichzeitig eben dafür sorgen, dass vertrauensvoll auf der Arbeitsebene gearbeitet werden kann. Auch das war nicht immer möglich.
Deutschlandradio Kultur: Und jetzt ist es eher möglich? Ist das Ihr Eindruck? Sie haben es angesprochen: Das dritte Hilfspaket letztes Jahr ist ja unter, na ja sehr, sehr schwierigen Umständen zustande gekommen – mal wieder in letzter Sekunde. Und da gab es ja auch viele Bedenken in der Europäischen Union: ein drittes Hilfspaket, wir hatten doch schon zwei! Glauben Sie tatsächlich, dass mittlerweile da eine Wende langsam vonstattengeht, ein Wir-reden-miteinander?
Alexander Kritikos: Derzeit sehe ich das nicht. Ich fürchte, wir werden in der Tat zumindest für dieses erste Halbjahr sehen, dass diese weiteren fiskalischen Reformen, also Rentenkürzungen, Erhöhung des Renteneintrittsalters, unter Umständen weitere Steuererhöhungen, weitere Erhöhungen der sozialen Zahlungen, also der Zahlungen an Sozialleistungen durch die Unternehmen, per Gesetz verabschiedet werden sollen, so dass bis zum Sommer jetzt in erster Linie eben diese nächste Tranche freigegeben wird, um anstehende Kredite tilgen zu können.

Weitere Rentenkürzung wird Armutsproblem in Griechenland verstärken

Deutschlandradio Kultur: Ich hatte das eingangs erwähnt. 5,4 Milliarden Euro sollen gespart werden. Gibt es die denn noch irgendwo? Die Regierung Tsipras sagt: Wir haben einfach nichts mehr. – Gibt es die noch?
Alexander Kritikos: Ich fürchte, letzten Endes gibt es sie so nicht mehr, wie man sie jetzt angeht. Also, um das einfach nochmal sehr deutlich zu machen:
Wir haben bisher drei Rentenkürzungen gesehen. Jetzt soll die vierte Rentenkürzung kommen. Und angesichts der Tatsache, dass die Mehrzahl der Haushalte überwiegend in erster Linie abhängig von Rentenzahlungen sind, um ihr Leben zu bestreiten, wird eine weitere Rentenkürzung einfach dazu führen, dass wir mit Armutsproblemen in Griechenland zu kämpfen haben.
Was heißt das? Das heißt im Prinzip, dass letztlich auch hier weitere Reformschritte gemacht werden müssten. Wenn Renten nochmal gekürzt werden, ist es eigentlich zwingend notwendig, endlich auch das einzuführen, was es in Griechenland als einzigem Land innerhalb der Eurozone nicht gibt, nämlich eine Sozialhilfe und eine soziale Absicherung für die, die sonst keinerlei Einkünfte haben.
Wenn also weiterhin Renten gekürzt werden, muss diese Sozialhilfe eingezogen werden. Und es muss eigentlich auch sichergestellt werden, dass Menschen, die keinerlei Einkommensbezüge haben, auch weiterhin Zugang zu Gesundheitsvorsorge haben und zu Krankenhausleistungen. Menschen, die keine Arbeit haben, kein Arbeitslosengeld beziehen, fallen derzeit auch aus diesem System raus und sind wirklich in doppelter Form getroffen. Das ist inhuman letztlich, aber auch ineffizient, weil Menschen, die eben nicht gesund sind, auch nicht anständig arbeiten können.
Deutschlandradio Kultur: Wir haben jetzt viel gesprochen über die Rolle der griechischen Regierung, Herr Kritikos. Welche Rolle spielen aber die Gläubiger? Sie haben das gerade angesprochen, die Konsequenzen bei einer weiteren Rentenkürzung. Die EU besteht weiterhin darauf, dass die Schulden nicht erlassen werden können, dass alle Schulden zurückgezahlt werden müssen. – Welche Rolle spielen die Gläubiger?
Alexander Kritikos: Die Gläubiger sind derzeit nach den Erlebnissen über die Verhandlungen des Jahres 2015 mit der griechischen Regierung, glaube ich, sehr verhalten. Verhalten heißt, ihr einziges Ziel ist letztlich, den budgetären Ausgleich sicherzustellen, sicherzustellen, dass nicht weitere Staatsschulden auf Griechenland zukommen und ein ausgeglichener Staatshaushalt gesichert ist. Das ist ihr erstes Ziel.
Deutschlandradio Kultur: Das waren ja auch schwierige Verhandlungen, damals noch mit Finanzminister Varoufakis. Wir erinnern uns. Das war ja fast schon Daily Soap ab und an.
Alexander Kritikos: So kann man das zusammenfassen. Das heißt, derzeit ist diese fiskalische Frage im Vordergrund. Und für meine Begriffe ist bei den Gläubigern überhaupt keine Bereitschaft da, jetzt über Schuldenschnitte oder ähnliches zu sprechen. Es ist auch keine unmittelbare Notwendigkeit dafür gegeben. Sobald in diesem Sommer zumindest diese letzte große Kreditrückzahlung gelaufen ist, ist eigentlich bis 2022 Ruhe. Aber ich denke auch, dass die Gläubiger bereit sind, über einen zumindest indirekten Schuldenschnitt zu sprechen, also über Verlängerung der Kreditlaufzeiten, über Absenkung der Zinszahlung, wenn Griechenland diese ausstehenden Strukturreformen angeht.
Ich gehe eigentlich davon aus, dass man, wenn nicht mit dieser, aber dann vielleicht mit einer nächsten Regierung genau darüber nochmal versucht ins Geschäft zu kommen, nämlich zu versuchen: Macht Strukturreformen! Und dann sind wir auch bereit in retour auf einen Schuldenschnitt hinzuarbeiten. Dass der Schuldenschnitt langfristig notwendig ist, steht, glaube ich, außer Frage. Bei 200 Prozent Schuldenstand im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt wissen wir alle, das ist nicht tragfähig.
Deutschlandradio Kultur: Das ist nie aufzuholen. Sie sagen es. Wir wissen es alle. Aber es wird doch, so sagt es jedenfalls auch die Bundesregierung, diese Woche wieder Finanzminister Schäuble, wird es nicht geben.
Alexander Kritikos: Sie sagt, dass es den derzeit nicht geben wird. Ich rechne aber eben, wie gesagt, wenn die Reihenfolge irgendwann stimmt, dass man dann durchaus bereit ist, einen indirekten Schuldenschnitt zu machen. Man wird ihn nicht so nennen, man wird es nicht Schuldenschnitt nennen, aber man wird das tun, was dieselbe Wirkung haben wird, um einen Schuldenschnitt von geschätzten dreißig Prozent durchzuführen.

Flüchtlingssituation als Verhandlungsmasse in puncto Schulden?

Deutschlandradio Kultur: Glauben Sie eigentlich, dass die andere Krise, die ich eingangs erwähnt habe, nämlich die Flüchtlingssituation, die ja so über Griechenland hineingebrochen ist und an der Griechenland nicht Schuld hat in dem Sinne, dass das als Verhandlungsmasse mitspielen wird? – Entlastet uns bei den Schulden, dann werden wir auch unserer Rolle dort gerecht.
Alexander Kritikos: Man wird versuchen, das hier und da mit in die Verhandlungen hineinzuführen. Ich rechne aber nicht, dass man anfängt sozusagen irgendwas netto aufzurechnen: Ich zahle ein bisschen mehr für die Flüchtlinge und dafür erlasst ihr mir Schulden. Sondern man wird hier von Gläubigerseite oder von Europäischer Union sehr strikt darauf achten, dass man Griechenland tatsächlich finanzielle Unterstützung zukommen lassen wird, um die Flüchtlingskrise auch finanziell durchstehen zu können. Man wird auch versuchen, durch personelle Unterstützung gerade für die Asylbehörde Griechenland zu unterstützen. Aber man wird versuchen, das auseinander zu halten.
Dennoch, glaube ich, ist auch dieser Punkt wichtig, dass man hier grundsätzlicher drauf sieht. Ich halte es für falsch, dass die Thematik, wer behandelt Asylfragen von Flüchtlingen, dass das nach wie vor auf nationaler Ebene gehandhabt wird. Nach dem Dublin-Abkommen müssen ja immer Flüchtlinge in dem Land Asyl beantragen, in dem sie einreisen, erstmal hier in Europa einreisen. Und man sieht eben jetzt in der großen Zahl der Flüchtlinge in Griechenland, dass das eine einfach falsche Lösung war.
Deutschlandradio Kultur: Es ist erstaunlich, dass Sie das jetzt so ausführlich hier ausführen. Das heißt, für Sie sind diese beiden Sachen schon mittlerweile miteinander verwoben und man kann sie gar nicht mehr voneinander trennen? Weil natürlich ein armes Land wie Griechenland diese Leistungen aufbringen muss, das ist etwas anderes als wenn es Deutschland tun muss.
Alexander Kritikos: Ja, das ist richtig. Aber ich glaube, auch da wäre immer noch der Ansatz falsch zu sagen, nur Deutschland soll es tun. Ich glaube eben, wenn wir Europa ernst meinen, dann müssen wir es in allen Themen ernst meinen. Das heißt eben hier auch, dass wir die Flüchtlingskrise als ein europäisches Thema besetzen müssen. Das heißt, dass es eben nicht eine griechische Asylbehörde und eine deutsche Asylbehörde gibt, sondern dass es eine europäische Asylbehörde gibt, die eben tatsächlich alle Asylsuchenden mit denselben europäischen Beamten betreut, begutachtet und zu eben einer Entscheidung kommt, inwieweit sie ein Asyl in Europa gewährt bekommen sollen oder nicht.
Und das heißt eben im Zweiten, dass man tatsächlich das, was die deutsche Kanzlerin spät, aber immerhin dann doch irgendwann aufs Papier gebracht hat, dass man eben einen festen Verteilungsschlüssel für Europa finden muss, wie man innerhalb Europas diese Asylsuchenden dann aufteilt. Weder ist die Lösung gut, alle nach Deutschland, noch ist die Lösung gut, alle nach Griechenland. Das ist, glaube ich, relativ offensichtlich.
Deutschlandradio Kultur: Herr Kritikos, in Ihrer Vierteljahresschrift zu Griechenland, die ist ein bisschen aufgebaut wie eine griechische Tragödie. Und am Ende soll es eine seelische Läuterung geben, die sogenannte Katharsis. Da muss man dazu sagen, das gibt es in den griechischen Stücken. Nachdem der Held es nicht geschafft hat, es gab viele, viele Schwierigkeiten, die Schuld wurde immer größer, es gibt einen unauflösbaren Konflikt und der Zuschauer soll am Ende seelisch geläutert werden und etwas daraus lernen.
Wir haben jetzt über die griechische Krise gesprochen, aber Sie haben jetzt auch viel über die Flüchtlingskrise gesprochen. – Glauben Sie denn, dass wir an einem Punkt sind in Europa, wo so eine seelische Läuterung tatsächlich stattfinden kann? Sehen wir nicht vielmehr, wir haben jetzt das Referendum in Holland gehabt, wir haben die Angst vor einem Brexit, dass diese seelische Läuterung für Europa nicht stattfinden wird?
Alexander Kritikos: Wir sind in der Tat an einem schwierigen Punkt, aber nach wie vor gibt es die Möglichkeit, zumindest die Flüchtlingskrise über dieses Jahr hinweg so in den Griff zu bekommen, dass sie nicht mit so negativen Schlagzeilen die Medien beherrscht, wie wir das in den letzten Monaten gesehen haben. Auch wenn die Hilfskonstrukte, die jetzt gemacht worden sind, nicht optimal sind, rechne ich eigentlich fest damit, dass wir das über die nächsten Monate als ein Problem geringerer Wucht sehen werden.
Deutschlandradio Kultur: Und die griechische Krise?
Alexander Kritikos: Die griechische Krise, das ist in der Tat eben die eine große Frage. Was wäre die Läuterung in Griechenland? Sie wäre in der Tat, dass wir zum ersten Mal in Griechenland Politiker sehen, die sich von dem sogenannten klientelistischen Ansatz in Griechenland verabschieden, die tatsächlich zum ersten Mal das Land als Gesamtes in seinem Wohlstand, in seinem potenziellen Wachstum sehen und nicht versuchen, ihre eigene Klientel als erstes zu bedienen.
Die Hoffnung habe ich noch nicht völlig aufgegeben. Es gibt auch in Griechenland eine große Zahl von Politikern, die diesen Ansatz mitbringen. Es geht einfach darum zu hoffen, dass es irgendwann das berühmte Zeitfenster gibt, eine Wahl mit entsprechendem Ausgang, die – nennen wir es mal – einer fortschrittlichen Regierung und auch einer europaoffenen Reformregierung, die genau diese Strukturreformen angeht, die wir gerade besprochen haben, dass die tatsächlich einfach irgendwann eine strukturelle Mehrheit hat, um das durchzuführen.

"Ich kann bei dieser Regierung keinerlei Links erkennen"

Deutschlandradio Kultur: Aber es doch eigentlich eher so, dass es immer eine Wahl gibt irgendwo in Europa oder dann auch in Griechenland. Und immer gibt es irgendjemanden, der viel zu verlieren hat. Oder, Sie haben jetzt ja die jetzige Regierung angesprochen, eine linke Regierung, die sich vor allem sozusagen auf die eigenen Fahnen schreibt, für die kleinen Leute da zu sein, die ja auch sehr viel zu verlieren hat, die ja nur eine Dreistimmenmehrheit im Parlament hat, die sie jederzeit wieder verlieren könnte. Also, da ist es doch eigentlich auch aus deren Sicht relativ logisch zu sagen, wir können das nicht, wir können das nicht, wir müssen euch da schützen, wir müssen euch da schützen. – Ich bin erstaunt, dass Sie immer noch so einen positiven Ansatz haben.
Alexander Kritikos: Ohne den positiven Ansatz, wäre es wirklich traurig. Ich muss auch sagen, ich kann mit diesem Links-Rechts-Schema bei dieser Regierung auch nichts mehr anfangen. Sie ist auf dem Papier als linke Regierung beschrieben. Aber das, was sie eigentlich macht, ist die letzte Regierung sozusagen, die versucht, immer noch in irgendeiner Form Besitzstandswahrung zu machen. Und das ist eben das, was nicht mehr funktioniert in Griechenland. Das ist vorbei. Das ist gelaufen.
Wir können Griechenland, so wie es verkrustet ist, nicht mehr durch Besitzstandswahrung aus irgendeiner Krise herausführen. Das hat nichts mit Links-Rechts zu tun, sondern das hat mit Veränderung zu tun, mit Veränderungsbereitschaft zu tun. Und das ist eigentlich das, was ich eher mit Links in meiner Zeit, als ich sozusagen jung war, assoziiert habe. Ich denke, dass man auch den Begriff des Links-Rechts in dieser Hinsicht nochmal wirklich scharf überdenken muss. Ich kann jedenfalls bei dieser Regierung keinerlei Links erkennen.
Deutschlandradio Kultur: Sagen Sie zum Schluss noch: Die seelische Läuterung, sind damit nicht auch die Griechen gemeint an und für sich, die ja jetzt schon so viel ertragen mussten, aber natürlich auch weitere Reformen werden ertragen müssen und die vielleicht natürlich, wenn wir von Bürokratie sprechen, Bürokratieabbau, Regulierungsabbau, aber natürlich auch vielleicht Abbau von Arbeitnehmerrechten, deren seelische Läuterung sie noch weiterhin auch etwas kosten wird?
Alexander Kritikos: Ja und Nein. Es wird so etwas wie ein Transformationsprozess sein, den Griechenland machen muss. Wie bei jedem Transformationsprozess wird es Gewinner und Verlierer geben. Inzwischen sind so viele Menschen in Griechenland derzeit auf der Verliererseite, die alle nur gewinnen können, wenn ein solcher Transformationsprozess angefangen wird.
Denn wir dürfen eins nicht vergessen. Wenn wirklich solche Strukturreformen gemacht werden und man attraktiv wird für innovative Unternehmen, dann ist es wirklich etwas, was in der mittleren Frist Wohlstand für alle bedeuten kann. Und ich glaube auch, man sollte nie vergessen, die große Zahl der Menschen, die aus Griechenland ausgewandert sind, das ist eigentlich das stärkste Signal, was wir derzeit gesehen haben. Menschen gehen heute natürlich sehr viel leichter weg aus Griechenland nach Europa, weil eben die Freizügigkeit ist. Und dieses Signal muss irgendwann verstanden werden. Diesen Menschen muss ein guter Grund gegeben werden, ihre Arbeitskraft in Griechenland wieder auszuleben, für Griechenland zur Verfügung zu stellen.
Deutschlandradio Kultur: So was nannte man früher "Abstimmung mit Füßen".
Alexander Kritikos: So ist es. Und das muss man machen. Man muss eben sicherstellen, dass diese Abstimmung mit Füßen in die Gegenrichtung erfolgt.
Und lassen Sie mich da noch eins sagen. Sie haben gesagt, Arbeitnehmerrechte müssen nochmal eingeschränkt werden. – Nein, das ist in Griechenland nicht das Problem. Der griechische Arbeitsmarkt ist hoch flexibel, viel flexibler inzwischen als der deutsche Arbeitsmarkt. Da sehen wir eben auch wieder die Tragik. Sogar da wurden alle Reformen durchgemacht, nur eben die Strukturreformen, die den unternehmerischen Teil befördern würden, die sind ausgeblieben.
Deutschlandradio Kultur: Das heißt, es gibt zwar theoretisch den Markt, aber es gibt keine Jobs.
Alexander Kritikos: Genau.
Deutschlandradio Kultur: Gut. Das heißt also, da ist ein Punkt, an dem noch viel zu tun ist für die griechische Regierung, aber natürlich auch für die Geldgeber. Wir haben es besprochen. Da muss man weiter aufeinander zugehen, miteinander reden und dann irgendwann auf einen Konsens kommen. Dann kann es vielleicht diese seelische Läuterung geben, die Sie beschreiben.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Kritikos.
Alexander Kritikos: Vielen Dank Ihnen.
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