Wirtschaftskrise und hohe Kriminalität

Von Martin Polansky |
Bei den Wahlen in Venezuela muss sich die Partei des Präsidenten Hugo Chavez auf Verluste einstellen, sein spezieller Weg zum Sozialismus verliert im Angesicht der wenig rosigen Realität im Land immer mehr Anhänger.
Hugo Chavez liebt den großen Auftritt. Venezuelas Staatschef steht vor dem Sarg des Befreiungshelden Simon Bolivar und spricht zu seinem Volk:

"Ich sah die sterblichen Überreste von Bolivar: sein Skelett, den Schädel, die leeren Augenhöhlen. Und ich fragte ihn still: Vater bist du es - Und in meinem Herzen antwortete er mir: Ja ich bin es - und ich erwache alle 100 Jahre, wenn auch das Volk erwacht."

Heldenbeschwörung in einer Zeit, in der es mit Venezuela eher bergab geht. Das Land ist in einer Krise. Die Wirtschaft schrumpft, die Preise steigen, die Kriminalität nimmt zu – gut elf Jahre nach Chavez Amtsantritt zeigt der bolivarische Sozialismus vor allem seine Schattenseiten. Die bürgerliche Opposition sieht sich kurz vor der Parlamentswahl im Aufwind – fordert das Ende des Systems Chavez. Julio Borges von den Vereinigten Demokraten:

"Am 26. September gibt es nur zwei Wege. Den Weg der explodierenden Kriminalität, der brutalen Arbeitslosigkeit ohne Rücksicht auf das Eigentum. Oder einen besseren Weg. Ohne Konfrontation. Den Weg einer neuen Generation mit klaren Ideen."

Das Viertel 23 de enero im Westen von Caracas – eine Hochburg der Chavisten. Zwischen Wohnsilos aus den 50er und 60er Jahren stehen ärmliche Häuser. Dahinter sind Siedlungen in die Berge hineingewachsen – hunderttausende leben hier. Überall an den Wänden sieht man die Parolen der PSUV – der sozialistischen Partei Venezuelas. Daneben an die Wand gesprüht die Konterfeis von Chavez oder Che Guevara.

Yoel Capriles ist treuer Anhänger des Präsidenten. Stolz führt er durch sein Viertel, zeigt die von Kubanern betriebene Gesundheitsstation, die Schulen, in denen Erwachsene lesen und schreiben lernen und auch die Pedaval-Läden, wo es verbilligte Lebensmittel gibt. Fast alles hier ist finanziert mit den staatlichen Einnahmen aus dem Ölgeschäft, von denen Venezuela hauptsächlich lebt:

"Früher ging all das Geld in die Taschen einiger weniger oder gleich außer Landes. Heute gehen die Einnahmen direkt ans Volk. Durch die Pläne und Programme, die allen zugute kommen."

Aber die Einnahmen aus dem Ölgeschäft sind gesunken. Denn mit der weltweiten Wirtschaftskrise ist der Preis für den Rohstoff eingebrochen und hat sich seit dem auch nur langsam wieder erholt. Das Geld ist also knapper, gleichzeitig muss ein Großteil der Lebensmittel aus dem Ausland importiert werden. Und die Verstaatlichungspolitik in der Landwirtschaft hat die Probleme eher noch verschärft.

Die Folge: Die Preise explodieren. Venezuela hatte 2009 mit knapp 30 Prozent die höchste Inflationsrate in ganz Lateinamerika. Die Regierung versucht es mit Preis- und Devisenkontrollen. Aber der Erfolg ist eher gering – stattdessen blüht der Schwarzmarkt. Oppositionspolitiker wie Andres Velazquez machen Hugo Chavez für die Entwicklung verantwortlich:

"Der Präsident wiederholt gerne, dass seine Regierung eine Regierung der Arbeiter ist. Das ist absolut falsch. Diese Regierung ist ein Feind der Arbeiter. Die Inflation lässt sich nicht mehr kontrollieren. Mit den Löhnen kann man immer weniger kaufen."

Präsident Chavez hat sich offenbar übernommen. Als die Öl-Einnahmen noch sprudelten, bekam jeder etwas ab. Der sozialistische Comandante propagierte die neue Einheit Lateinamerikas und unterstütze seine Verbündeten bereitwillig – allen voran Kuba. Chavez initiierte die Banco del Sur, die Entwicklungsbank des Südens. Dazu Telesur, einen linksgerichteten Fernsehsender für die ganze Region. Und Venezuela schickte mit Hilfe Chinas den Satelliten Simon Bolivar ins All.

Das Signal war immer das gleiche: Venezuela bildet im Süden des Kontinents ein Gegengewicht zu den USA – zum Imperium, wie Chavez die Vereinigten Staaten gerne nennt. Aber nun sitzt das Geld nicht mehr so locker. Chavez Weg in den Sozialismus des 21. Jahrhunderts ist erkennbar ins Stocken geraten. Und von Kuba bis Nicaragua hoffen seine Verbündeten, dass der Comandante seine Wirtschaftsprobleme wieder in den Griff bekommt.

Caracas ist eine gefährliche Stadt. Venezolanische Zeitungen haben in den letzten Wochen Zahlen veröffentlicht, die aus der nationalen Statistikbehörde durchgesickert sein sollen. Demnach sind im Jahr 2009 19.000 im Land getötet worden – ein Großteil von ihnen in der Hauptstadt. Caracas muss sich demnach messen lassen mit Städten wie Bagdad oder Ciuadad Juarez, wo der mexikanische Drogenkrieg tobt.

Aber in Venezuela sind es keine Kokain-Kartelle, die sich bekämpfen. Es ist ganz banale Straßenkriminalität, die offenbar aus dem Ruder läuft. Kritiker spotten, dass Venezuela das einzige sozialistische Land ist, in dem man sich kaum auf die Straße trauen kann. Angst macht sich breit in Caracas:

"Es ist totale Unsicherheit wegen der vielen Raube. Es gibt keine Polizei, nichts." "Ob morgens, mittags oder abends. Es ist unsicher. Man weiß nicht, wer hier bewaffnet rum läuft. Man muss ständig aufpassen, dass man Problemen ja aus dem Weg geht."

Die Regierung Chavez bestreitet zwar die Zahl der 19.000 Toten. Aber sie präsentiert keine eigene Kriminalitätsstatistik – und das seit Jahren. Der Comandante legt sich stattdessen mit Presse an. Die oppositionelle Zeitung "El Nacional" hatte Fotos aus der Gerichtsmedizin von Caracas abgedruckt. Bilder des Grauens. Die Leichen lagen zum Teil auf dem Boden rum, weil die Gerichtsmediziner offenbar kaum noch hinterher kommen.

Reaktion der Regierung: Sie verbietet nun solche Bilder. Und spricht von einer Medienkampagne. Die Opposition versuche das Thema der Kriminalität zu instrumentalisieren. Andres Izarra, der Chef des Chavez-treuen Senders Telesur, verweist auf die neue Nationalpolizei, die für Sicherheit sorgen soll. Zudem müsse die Armut weiter bekämpft werden:

"Das Problem der Sicherheit ist ein Problem der Armut. Es sind die sozialen Probleme, mit denen unsere Gesellschaft konfrontiert ist. Und da hat die Regierung sichtbare Erfolge vorzuweisen."

Trotzdem: Die Chavisten müssen die Opposition diesmal fürchten. Die war bei der letzten Parlamentswahl gar nicht erst angetreten – aus Protest gegen die Entwicklung im Land. Ein schwerer Fehler, wie die Chavez-Gegner heute eingestehen. Diesmal hoffen sie auf ein Drittel der Parlamentssitze – vielleicht sogar eine Mehrheit.

Auch wenn die Opposition beklagt, dass sie durch den Zuschnitt der Wahlkreise benachteiligt wird. Die Parlamentswahlen werden die Ära Chavez nicht beenden. Er muss sich erst 2012 der Wiederwahl stellen. Der Urnengang am Sonntag wird aber zeigen, inwieweit der Präsident sein Land noch hinter sich hat bei seinem Weg in den Sozialismus des 21. Jahrhunderts.
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