Der alternativlose Kapitalismus
Noch keiner Ideologie ist es gelungen, dem Menschen das Gewinnstreben auszutreiben, meint Markus Reiter. Der Grund liege im Faktor "Mensch", so der Publizist. Wer reich sei, wolle noch reicher werden. Bietet der Kapitalismus keine Chance auf Gerechtigkeit?
25 Jahre nach dem Mauerfall und der Pleite der realsozialistischen Systeme ist in den Augen vieler Menschen nun der Kapitalismus an sein Ende gekommen. Früher war die Kapitalismuskritik ein Privileg linker Heißsporne und marxistischer Intellektueller. Heute ist sie tief in bürgerliche Kreise vorgedrungen.
Sogar normale marktwirtschaftliche Vorgänge gelten inzwischen als neokapitalistische Exzesse. Zum Beispiel, dass eine Firma pleitegeht, weil sie schlecht gewirtschaftet hat. Selbst die Tatsache, dass Unternehmen Profit erwirtschaften wollen, bekommt den Geruch des Amoralischen.
Gier macht blind
Niemand kann leugnen, dass der Kapitalismus große Probleme schafft. Reichtum ist in ihm naturgemäß ungleich verteilt; wenige Wohlhabende behindern die Aufstiegschancen Ärmerer; Wachstum hat Grenzen, weil die natürlichen Ressourcen zu Neige gehen; die Gier macht blind für Umweltzerstörung.
Periodisch durchläuft der Kapitalismus Krisen und Zusammenbrüche, die viele Menschen unverschuldet in Armut und Verzweiflung stürzen. Sollte man den Kapitalismus also ähnlich abwickeln, wie den Sozialismus vor 25 Jahren?
Wer das fordert, müsste erklären, welche funktionierende Wirtschaftsordnung er stattdessen anzubieten hat. Leider kennen die Kritiker keine befriedigende Alternative. Der Sozialismus ist es jedenfalls nicht. Er hat es noch nie geschafft, auf Dauer die materiellen Bedürfnisse der Menschen zu erfüllen.
Es fällt auf, dass marktwirtschaftliche Systeme auch nach einer Krise Marktwirtschaften bleiben. Sozialistische Systeme hingegen öffnen sich der Marktwirtschaft. Das galt für China wie für Russland und gilt gegenwärtig für Kuba.
Keine Illusionen über die menschliche Natur
Der Kapitalismus erweist sich deshalb als überlegen, weil er sich - anders als der Sozialismus - keine Illusionen über die menschliche Natur macht. Menschen legen sich ins Zeug, wenn sie einen persönlichen Gewinn davontragen. Manchmal reicht ihnen soziale Anerkennung. Die Mehrheit bevorzugt jedoch einen materiellen Vorteil.
Wer arm ist, will reich werden. Wer nichts oder wenig hat, will mehr besitzen als andere. Wer reich ist, will nicht arm werden, sondern noch reicher. Man mag diese Haltung voller Abscheu Gier nennen. Fast alle Religionen verurteilen sie und rufen zur Askese und zum Maßhalten auf. Gebracht hat es nichts.
Noch keiner Ideologie ist es gelungen, dem Menschen das Gewinnstreben und den Eigennutz auszutreiben. Es besteht wenig Hoffnung, dass dies in Zukunft gelingt.
Nur der Kapitalismus nutzt diese Grundeigenschaft des Menschen wirtschaftlich produktiv. Sozialistische Systeme sind, trotz brutaler Umerziehungsmaßnahmen, daran gescheitert. Im schlimmsten Falle haben sie unter dem Deckmantel sozialer Gleichheit Menschen ermordet, denen sie nachsagten, zu gierig zu sein.
Beispiele sind Stalins Massenmord an den Kulaken und Pol Pots kambodschanischer Steinzeit-Kommunismus
Wie entsteht Chancengerechtigkeit?
Wirtschaftsmodelle, die aus einem idealistischen Menschenbild heraus auf Selbstlosigkeit und Aufopferungswille setzen, sind auf Sand gebaut. Sie haben sich als unterlegen erwiesen. In diesem Sinne steht der Kapitalismus bislang alternativlos da.
Widersprüche können und müssen also innerhalb des Systems gelöst werden. Wieviel staatliche Regulierung notwendig ist, wie weit Einkommen und Vermögen durch Steuern umverteilt werden sollen, welche Rechte und Pflichten Eigentum nach sich zieht, wie Chancengerechtigkeit entsteht - all das kann in einer marktwirtschaftlichen Gesellschaft demokratisch entschieden werden.
Es stellt aber den Kapitalismus in seinem Kern nicht infrage stellen, sofern gemeinsame Antworten gefunden werden. Wer aber den Kapitalismus als Ganzes zu stürzen beabsichtigt, der muss erklären, wie er illusionslos mit jenem Störfaktor umgehen will, an dem sämtliche Alternativen gescheitert sind: mit dem Menschen.
Markus Reiter arbeitet als Schreibtrainer, Journalist und Publizist. Er studierte Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Geschichte an den Universitäten Bamberg, Edinburgh und FU Berlin. Unter anderem war er Feuilletonredakteur der "FAZ" und schreibt Bücher über Kultur, Sprache und Kommunikation. Mehr unter www.klardeutsch.de