"Kein Erfolg für die Bevölkerung"
Zum ersten Mal seit sechs Jahren wächst in Griechenland die Wirtschaft. Der Publizist Jürgen Roth hält es trotzdem für zynisch, darin einen Erfolg zu sehen. Die Bevölkerung habe zu leiden, nur eine wirtschaftliche und politische Elite profitiere.
Die Sparpolitik der Troika aus Europäischer Union, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank scheint Früchte zu tragen: Griechenland befindet sich nicht mehr in der Rezession und erwirtschaftet erstmals seit sechs Jahren sogar ein kleines Plus von 0,6 Prozent. Doch das geschieht nach Überzeugung des Publizisten Jürgen Roth nur aufgrund des radikalen Abbaus der Arbeitnehmerrechte - und ohne demokratische Teilhabe der Bevölkerung.
"Das ist ein Erfolg für Investoren, das ist ein Erfolg für die Finanzindustrie", sagt Roth. "Das ist aber nachweislich kein Erfolg für die Mehrheit der Bevölkerung." Die Arbeitslosigkeit sei gestiegen. Der Sparkurs habe gar "unheimliche Menschenleben" gekostet: Die Gesundheitsversorgung in Griechenland sei katastrophal, auch die Säuglingssterblichkeit sei "enorm gestiegen". Nach Auffassung Roths alles "Kollateralschäden". Das einen Erfolg des von der Troika geforderten Sparkurses zu nennen, sei zynisch.
Tatsächlich gehe es den Akteuren um einen "stillen Putsch", erklärt Roth: Das Vorgehen der Troika habe dazu gedient, in Europa ein anderes gesellschaftliches Modell umzusetzen - ein "wirklich autoritäres, neoliberales System". Die Bevölkerung habe darüber nicht abstimmen können.
Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Griechenland befindet sich offiziell nicht mehr in einer Rezession: Zum ersten Mal seit sechs Jahren ist die Wirtschaft in dem Land wieder gewachsen, um 0,6 Prozent – was nach wenig klingt, aber sensationell viel ist im EU-Vergleich. Die Bevölkerung in Griechenland hat davon allerdings noch nichts. Die Arbeitslosigkeit ist enorm hoch, wer noch Arbeit hat, bekommt weniger Lohn als zuvor, und mehr als zehn Millionen Griechen haben keine Krankenversicherung mehr.
Für die Regierung in Athen ist aber dieses Wirtschaftswachstum jetzt ein Grund mehr, sich aus der Umklammerung der internationalen Gemeinschaft, der so genannten Troika vor allem, lösen zu wollen. Man will den internationalen Rettungsschirm ein Jahr früher als eigentlich vorgesehen verlassen, will sich wieder an den Märkten finanzieren. Das will aber die Seite der Retter nicht unbedingt. Vor allen Dingen der Internationale Währungsfonds will weiterhin Griechenland streng kontrollieren und beharrt auf einer Fortsetzung des radikalen Sparkurses. Der Journalist Jürgen Roth ist ein Kritiker dieser Sparpolitik von IWF und Co. In seinem aktuellen Buch „Der stille Putsch" nennt er die aus seiner Sicht wahren Gründe dieser Politik. Er ist jetzt am Telefon. Morgen, Herr Roth!
Jürgen Roth: Schönen guten Morgen!
Kassel: Wenn die griechische Wirtschaft jetzt plötzlich wieder wächst, müssen dann nicht auch Kritiker wie Sie zugeben, dass das nicht so ganz falsch war, was der Währungsfonds und die EU von Griechenland gefordert haben?
Roth: Nein. Es wäre schön, wenn es so wäre, wenn wir unrecht hätten, oder wenn ich unrecht hätte. Aber was heißt es denn, die Wirtschaft wächst? Das heißt, dass aufgrund des radikalen Abbaus der Arbeitnehmerrechte, des radikalen Abbaus von Arbeitsplätzen der Stand natürlich für die Arbeitnehmer katastrophal ist, wie er zuvor war. Die Einzigen, die davon profitieren, sind einzelne Teile wohlweislich der Wirtschaft.
Das heißt, wenn die Wirtschaft nun plötzlich oder wenn es heißt – man muss immer sehr vorsichtig sein bei Griechenland wie bei anderen südlichen Ländern –, wenn es heißt, jetzt kann man sich aus der Umklammerung des Internationalen Währungsfonds oder der Troika wehren – das ist ja ein bisschen, na ja, ich würde sagen, merkwürdig, denn auf der anderen Seite haben die Regierungen in den letzten Jahren allen Bestimmungen der Troika zugestimmt und haben applaudiert, wollten teilweise ja noch mit größere soziale Einschnitte durchsetzen über die Troika.
Jetzt ist das Ziel erreicht. Das Ziel heißt ja, dass die demokratische Partizipation der Bevölkerung – und es geht um die Arbeitnehmer, das ist ja sozusagen der Fokus meines Interesses, sollte eigentlich der Fokus auch der Politiker sein –, ... Wenn so radikal abgebaut worden ist an Arbeitnehmerrechten, wenn die Arbeitslosigkeit, die Jugendarbeitslosigkeit ja noch weiter gestiegen ist, sie ist ja nicht geringer geworden – was heißt denn das dann eigentlich? Das heißt, dass diese Politik der radikalen Schuldenbremse, dass die eher dazu geführt hat, dass demokratische Entscheidungen gar nicht mehr möglich sind. Das heißt, es bestimmt, was ja im Prinzip auch nichts Neues ist, nicht unbedingt der normale Bürger die Politik, sondern es bestimmen ganz bestimmte wirtschaftliche und politische Eliten die Politik. Und daran hat sich überhaupt nichts geändert.
Profiteure sind die Rechtsradikalen gewesen
Kassel: Aber nun ist Griechenland ja immer noch eine Demokratie und die Krise dauert schon so lange, dass es mehrfach Wahlen gegeben hat. Wenn nun die Bevölkerung, wie Sie unterstellen, nicht einverstanden sein kann mit dem, was dort infolge der Sparmaßnahmen geschehen ist, hätte sie sich doch Parteien wählen können, die da nicht mitmachen wollen.
Roth: Ja, das Problem ist: Gibt es denn wirklich Alternativen, politische Alternativen? Zum einen ist die Wahlbeteiligung ja vergleichsweise niedrig. Aber das ist ja nicht nur in Griechenland so. Auf der anderen Seite: Die Profiteure sind natürlich die Rechtsradikalen in Griechenland gewesen, die „Goldene Morgenröte". Die wurde dann zwar sehr spät auch entsprechend von der Regierung bekämpft. Aber das Grundproblem ist ja das folgende: In den letzten Jahrzehnten haben zwei, ich sage mal, drei Familien das Land regiert. Die gehörten entweder zu den Konservativen oder zu den Sozialdemokraten. Die sind verantwortlich gewesen auch für die katastrophale wirtschaftliche Situation. Es sind die Gleichen, die jetzt wieder da von dieser Situation profitieren.
Das heißt, welche Alternativen haben denn die Bürger überhaupt? Die Linke beispielsweise, die hat zwar großen Einfluss gewonnen, aber ob sie wirklich eine Alternative ist, weiß niemand. Das ist einfach ein Problem. Es gibt anscheinend zu diesem System keine überzeugende Alternative, die die Bürger und die Bürgerinnen bereit sind, dann zu wählen. Deswegen bleibt man dann eben bei dem, was man sowieso in den letzten Jahrzehnten immer wieder gewählt hat.
Von einem Erfolg zu sprechen ist zynisch
Kassel: Der Internationale Währungsfonds, die EU, die Europäische Zentralbank, die halten natürlich das, was sie in Griechenland durchgesetzt haben in den letzten Jahren, für einen Erfolg, werden dadurch sicherlich, durch dieses vermeintliche Wirtschaftswachstum, gestärkt. Sie schreiben ja in Ihrem Buch auch davon, dass Sie glauben, das Vorgehen in Südeuropa – nicht nur in Griechenland, Portugal, Spanien, Italien – sei eine Art Testballon gewesen. Finden Sie es insofern erschreckend, dass der IWF jetzt den Zahlen nach ja wirklich das Ganze als Erfolg verkaufen kann?
Roth: Ach, wissen Sie, in der letzten Zeit wurde so viel als Erfolg verkauft. Das ist ein Erfolg für bestimmte Investoren, das ist ein Erfolg für die Finanzindustrie vielleicht. Es ist aber nachweislich – und daran gibt es auch, glaube ich, überhaupt keinen Zweifel – kein Erfolg für die Mehrheit der Bevölkerung. Sie dürfen ja nicht vergessen, dass das, was ich „der stille Putsch" nenne, also eine Veränderung des gesamten gesellschaftlichen und sozialen Systems ohne demokratische Partizipation, ohne dass die Bevölkerung darüber abstimmen konnte, dass es unheimlich viele Menschenleben gekostet hat.
Die Gesundheitsversorgung in Griechenland, nicht nur in Griechenland, in Italien, Portugal, ist katastrophal. Die Säuglingssterblichkeit ist enorm gestiegen. Das sind dann alles sozusagen der Kollateralschaden, wo wir dann einfach sagen: Na ja, gut, das gehört halt dazu, wenn wir da eine positive Veränderung wollen. Also das halte ich dann schon für zynisch, wenn man dann sagt: Na ja, das ist dann trotzdem ein Erfolg.
Und ich kenne die Situation auch in Portugal relativ genau, weil ich die auch untersuche: Da waren in der Tat bestimmte politische Entscheidungen von der Regierung nicht durchzuführen. Da hat die konservative Regierung bei den Troika-Vertretern angerufen und hat gesagt: Ihr müsst das jetzt durchsetzen, weil auf demokratischem Weg erreichen wir das nicht, dann gehen noch mehr Leute auf die Straße. Und genau so ist es geschehen. Das heißt, das, was die Troika gemacht hat, diente vermeintlich, vermutlich – das ist zumindest meine Überzeugung, ja nicht nur meine Überzeugung – dazu, dadurch ein anderes gesellschaftliches Modell in Europa umzusetzen. Und das ist dieses wirklich autoritäre, neoliberale System, wo man ja in der Vergangenheit schon gesehen hat: Das ist nun wirklich kein Erfolgsmodell. Nur: Es gibt keine Alternative dazu. Das ist wiederum der Erfolg für dieses Modell.
Kassel: Sagt der Journalist Jürgen Roth, Autor des Buches „Der stille Putsch". Herr Roth, vielen Dank fürs Gespräch!
Roth: Bitte sehr, schönen Tag noch!
Kassel: Ihnen auch, danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.