Wissenschaftler und engagierter Intellektueller

Von Ralf Müller-Schmid |
Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geht in diesem Jahr an den Soziologen Wolf Lepenies. Der 65-Jährige habe in seinen Werken durch Wort und Tat belegt, dass zwischen Verhalten und Wissen, zwischen Moral und Wissenschaft ein unauflöslicher Zusammenhang bestehe, so die Begründung des Stiftungsrates des Börsenvereins. Die mit 25.000 Euro dotierte Auszeichnung wird Lepenies im Oktober zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse verliehen.
"Die Melancholie flieht vor uns, wenn wir sie erklären wollen. Und ich glaube, es gibt hier eine Nähe zur Kunst. Das Entscheidende der Kunst, zumindest der großen gelingenden Kunst ist das, was man bezeichnet als 'Ich weiß nicht genau, was es ist'. Ich glaube, es ist diese Unbestimmtheit, die Melancholie und Kunst verbindet. Es gibt einen Kern, es gibt es Geheimnis. Und die entziehen sich uns."

Soziologe der Melancholie. Mit Wolf Lepenies erhält nun ein Gesellschaftswissenschaftler den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, der sich in Literatur und Kunst zu Hause fühlt. Nicht umsonst trägt sein bekanntes Buch über die drei Kulturen den Untertitel: "Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft". Dieser Zwischenraum war für Lepenies nie ein Problem. Die Künste sind für Lepenies Ausdrucksformen des gesellschaftlichen Selbstverständnisses, Bilder und Bücher sagen mitunter mehr über den Zustand eines Gemeinwesens als Fragebögen und Telefoninterviews. Diese Überzeugung macht Lepenies innerhalb der Fachsoziologie zu einem Unzeitgemäßen. Er lief der Soziologie davon, wie Henning Ritter es formuliert hat. Seine ehrgeizigen Ziele hat Wolf Lepenies dabei aber nicht aus den Augen verloren.

Der Börsenverein zeichnet mit ihm einen renommierten Soziologen, Autor und Essayisten aus, aber auch einen exemplarischen Werdegang. 1971, mit nur 30 Jahren, wurde der in Ostpreußen geborene und im Rheinland aufgewachsene Lepenies auf den Lehrstuhl für Soziologie an die Freie Universität Berlin berufen. Was für andere ein Ruheposten im beamteten Forschungsmilieu wurde für Lepenies zum Sprungbrett in die Internationalität. Ende der siebziger Jahre ging er an die Maison des Sciences de l’Homme in Paris, anschließend in die USA nach Princeton ans Institute for Advanced Study. Spitzenforschung und Austausch über die Grenzen der Fachdisziplinen hinweg erfuhr Lepenies dort aus erster Hand.

Die Erfahrung aus Princeton konnte er umsetzen, als er 1986 die Leitung des Berliner Wissenschaftskollegs übernahm. In den 15 Jahren seines Direktorats war er nicht nur Herbergsvater der Scientific Community, er hat maßgeblich zur Attraktivität Berlins als Standort der Wissenschaften beigetragen. Zu Zeiten, als die Mauer noch stand, war das auch im subventionsgesättigten Westen der Stadt keine Selbstverständlichkeit. Heute kommen nicht zuletzt wegen des WIKOs Naturforscher, Geisteswissenschaftler, Künstler und Musiker aus aller Welt nach Berlin.

Zwischen den in Kunst und Wissenschaft verbreiteten Haltungen von Enthusiasmus und Skepsis habe sich Wolf Lepenies für eine dritte entschieden: als "selbstironischer Anwalt für den intellektuellen Anstand", wie seinerzeit Denis Diderot.

Eine anständige Begründungsformel hat der Börsenverein da gewählt, aber etwas mehr als Anstand wird doch nötig sein, um sich im knallharten internationalen Wissenschaftswettbewerb durchzusetzen, wie es Lepenies gelungen ist. Hier kommt es tatsächlich auf die charakteristische Mischung an. Lepenies verbindet nämlich fachliche Weitsicht, Managerqualitäten und Esprit wie kaum ein anderer in seinem Fach. Und dieser Intellektuelle der Mitte, wie ihn die Zeit nannte, ist immer bedacht auf das Gleichgewicht von Aufbruch und Trauer:

"In der Tat finde ich in der europäischen Geistesgeschichte fast am interessantesten den Zusammenhang von Utopie und Melancholie. Der Intellektuelle ist ja jemand, der in der Regel durchaus etwas tun möchte, aber nichts tun kann, nichts tun will, aufs Denken zurückgeworfen wird, auf die Dauerreflexion wie man das auch genannt hat. Und dann kommt der Punkt, wo bestimmte Intellektuelle unzufrieden sind über dieses Nur-Nachdenken-Können, Nur-Nachdenken-Müssen, und dann erfolgt der Umschlag, der Versuch, diese Welt, in der man nichts tun kann so wie sie ist, dann zu der Welt zu machen, wie man sie sich vorstellt."

Mit der Entscheidung für Wolf Lepenies feiert der Frankfurter Börsenverein auch die Leistung der Geistes- und Sozialwissenschaften in Deutschland. Sie können es gut gebrauchen in einem politischen Umfeld, das sich am industriellen Nutzen der Naturwissenschaften orientiert und Philosophie für ein Nebenprodukt der Gentechnik hält.

Allein, wer sich am Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels auch in diesem Jahr reiben wollte, wer sich Kontroversen versprach wie bei der Auszeichnung Martin Walsers, Susan Sontags oder Orham Pamuks, der wird vielleicht ein wenig enttäuscht sein. Vielleicht ist diese Entscheidung ja eine Spur zu anständig. Aber Lob und Anerkennung für seine herausragende Leistung wird Wolf Lepenies niemand versagen.