Wissenschaftsgeschichte ohne die üblichen Helden
Der französische Wissenschaftsjournalist Nicolas Witkowski erzählt in seinem Buch Anekdoten jenseits der etablierten Wissenschaftsgeschichte. So beschreibt er zum Beispiel den Philosophen Voltaire als experimentierwütigen Biologen oder den Schriftsteller Edgar Allen Poe als Astronomen.
Kann man eine Geschichte der Wissenschaft schreiben, ohne dabei auf den ausgetretenen Pfaden zu wandeln, die bewundernd an den immer gleichen Helden der Wissenschaft vorbeiführen? Es ist genau das, was Witkowski in seinem Buch "Voltaire und die kopflosen Schnecken" versucht.
" Die Geschichte, die hier "hautnah" erzählt wird, soll die Forscher der Vergangenheit als vielschichtige Menschen fassbar machen, indem so weit wie möglich die Grenzen zwischen der Wissenschaftsgeschichte im engeren Sinn und der Biographie aufgelöst werden."
Der Originaltitel spricht von einer "Histoire sentimentale des sciences", also einer "Gefühlsgeschichte der Wissenschaft", die Witkowski schreiben möchte. In 30 kurzen Kapiteln stellt er, beginnend im 16., endend im 20. Jahrhundert, ausgesuchte Persönlichkeiten vor. Und dabei kommen eben nicht nur die üblichen Verdächtigen wie Johannes Kepler, Isaac Newton, Charles Darwin oder James Maxwell zu Wort, sondern auch fast vergessene Persönlichkeiten, die in der Wissenschaftsgeschichte normalerweise nicht erwähnt werden, weil keine bahnbrechenden Entdeckungen auf ihr Konto gehen.
So erfährt der Leser beispielsweise von der wissenschaftlichen Seite Edgar Allen Poes, der als Schriftsteller den Kosmologen als erster korrekt erklärte, warum es nachts bei der großen Anzahl von Sternen nicht taghell ist; oder von Ada Lovelace, der Tochter von Lord Byron und einzigen Frau in Witkowskis Buch, die bereits Mitte des 19. Jahrhunderts als Mathematikerin die Möglichkeiten heutiger Computer voraussah; und ebenso liest man erstaunt die Geschichte des experimentierwütigen Biologen Spallanzani aus dem 18. Jahrhundert.
" Er zeigt, dass gewisse Organismen im Vakuum überleben können, dass andere wieder zum Leben erwachen, nachdem sie völlig ausgetrocknet wurden, und dass wieder andere einen amputierten Körperteil neu ausbilden. Nach einer Reihe von Experimenten, für die Spallanzani etwa 300 Salamander und 700 Schnecken verstümmelte, stellt er eine lange Liste der erneuerbaren Körperteile auf, die vom Tentakel des Süßwasserpolypen über den Kopf der Nacktschnecke bis zum Kiefer des Salamanders reicht."
Die grausamen Experimente finden wegen ihrer erstaunlichen Ergebnisse reichlich Nachahmer. Einer von ihnen – man ahnt es schon – war der Philosoph Voltaire. Er stand mit Spallanzani in Briefkontakt und versuchte sich selbst als Laienexperimentator.
" Am 27. Mai um neun Uhr früh trennte ich bei heiterem Wetter zwanzig gehäuselosen goldbraunen Nacktschnecken und zwölf Gehäuseschnecken den gesamten Kopf mit allen vier Fühlern ab. Nach 15 Tagen wuchs bei zweien meiner Nacktschnecken der Kopf allmählich wieder nach."
Witkowski will in seinem Buch Geschichten jenseits der etablierten Wissenschaftsgeschichte erzählen. Der Gefahr, sich dabei im Beliebigen zu verlieren, ist der Autor leider nicht immer entronnen. Plötzliche Sprünge zu Nebenpersonen und Schauplätzen lassen oft kein nachvollziehbares menschliches Bild seiner Hauptpersonen entstehen. Daneben versäumt er es häufig, die Irrwege, das Abwegige und Unerwartete der Lebensläufe sinnvoll einzuordnen in den Fortgang der Wissenschaftsgeschichte. Witkowski rechtfertigt dieses assoziative Vorgehen als "poetische Unschärfe", die seinem Vorhaben notwendigerweise innewohnt. Man kann aber auch das Gefühl bekommen, es sei ihm nicht gelungen, seine Materialfülle sinnvoll zu ordnen.
Ist das Buch trotzdem ein Lesevergnügen? Ohne Zweifel. Es ist kurzweilig, abwechslungsreich und manchmal überraschend informativ. Wussten Sie zum Beispiel, dass die Jesuiten in Südamerika sich Truthähne hielten, weil deren Verdauungstrakt die dicke Schale einer Frucht soweit auflöste, dass man die Samen danach anpflanzen konnte? Es sind solche Kleinigkeiten, die das Buch an vielen Stellen interessant machen.
Nicolas Witkowski: "Voltaire und die kopflosen Schnecken: Geschichten aus der Wissenschaft"
Aus dem Französischen von Inge Leipold und Thorsten Schmidt
Piper, München 2005
329 Seiten
" Die Geschichte, die hier "hautnah" erzählt wird, soll die Forscher der Vergangenheit als vielschichtige Menschen fassbar machen, indem so weit wie möglich die Grenzen zwischen der Wissenschaftsgeschichte im engeren Sinn und der Biographie aufgelöst werden."
Der Originaltitel spricht von einer "Histoire sentimentale des sciences", also einer "Gefühlsgeschichte der Wissenschaft", die Witkowski schreiben möchte. In 30 kurzen Kapiteln stellt er, beginnend im 16., endend im 20. Jahrhundert, ausgesuchte Persönlichkeiten vor. Und dabei kommen eben nicht nur die üblichen Verdächtigen wie Johannes Kepler, Isaac Newton, Charles Darwin oder James Maxwell zu Wort, sondern auch fast vergessene Persönlichkeiten, die in der Wissenschaftsgeschichte normalerweise nicht erwähnt werden, weil keine bahnbrechenden Entdeckungen auf ihr Konto gehen.
So erfährt der Leser beispielsweise von der wissenschaftlichen Seite Edgar Allen Poes, der als Schriftsteller den Kosmologen als erster korrekt erklärte, warum es nachts bei der großen Anzahl von Sternen nicht taghell ist; oder von Ada Lovelace, der Tochter von Lord Byron und einzigen Frau in Witkowskis Buch, die bereits Mitte des 19. Jahrhunderts als Mathematikerin die Möglichkeiten heutiger Computer voraussah; und ebenso liest man erstaunt die Geschichte des experimentierwütigen Biologen Spallanzani aus dem 18. Jahrhundert.
" Er zeigt, dass gewisse Organismen im Vakuum überleben können, dass andere wieder zum Leben erwachen, nachdem sie völlig ausgetrocknet wurden, und dass wieder andere einen amputierten Körperteil neu ausbilden. Nach einer Reihe von Experimenten, für die Spallanzani etwa 300 Salamander und 700 Schnecken verstümmelte, stellt er eine lange Liste der erneuerbaren Körperteile auf, die vom Tentakel des Süßwasserpolypen über den Kopf der Nacktschnecke bis zum Kiefer des Salamanders reicht."
Die grausamen Experimente finden wegen ihrer erstaunlichen Ergebnisse reichlich Nachahmer. Einer von ihnen – man ahnt es schon – war der Philosoph Voltaire. Er stand mit Spallanzani in Briefkontakt und versuchte sich selbst als Laienexperimentator.
" Am 27. Mai um neun Uhr früh trennte ich bei heiterem Wetter zwanzig gehäuselosen goldbraunen Nacktschnecken und zwölf Gehäuseschnecken den gesamten Kopf mit allen vier Fühlern ab. Nach 15 Tagen wuchs bei zweien meiner Nacktschnecken der Kopf allmählich wieder nach."
Witkowski will in seinem Buch Geschichten jenseits der etablierten Wissenschaftsgeschichte erzählen. Der Gefahr, sich dabei im Beliebigen zu verlieren, ist der Autor leider nicht immer entronnen. Plötzliche Sprünge zu Nebenpersonen und Schauplätzen lassen oft kein nachvollziehbares menschliches Bild seiner Hauptpersonen entstehen. Daneben versäumt er es häufig, die Irrwege, das Abwegige und Unerwartete der Lebensläufe sinnvoll einzuordnen in den Fortgang der Wissenschaftsgeschichte. Witkowski rechtfertigt dieses assoziative Vorgehen als "poetische Unschärfe", die seinem Vorhaben notwendigerweise innewohnt. Man kann aber auch das Gefühl bekommen, es sei ihm nicht gelungen, seine Materialfülle sinnvoll zu ordnen.
Ist das Buch trotzdem ein Lesevergnügen? Ohne Zweifel. Es ist kurzweilig, abwechslungsreich und manchmal überraschend informativ. Wussten Sie zum Beispiel, dass die Jesuiten in Südamerika sich Truthähne hielten, weil deren Verdauungstrakt die dicke Schale einer Frucht soweit auflöste, dass man die Samen danach anpflanzen konnte? Es sind solche Kleinigkeiten, die das Buch an vielen Stellen interessant machen.
Nicolas Witkowski: "Voltaire und die kopflosen Schnecken: Geschichten aus der Wissenschaft"
Aus dem Französischen von Inge Leipold und Thorsten Schmidt
Piper, München 2005
329 Seiten