Peter Burke: Die Explosion des Wissens – Von der Encyclopédie bis Wikipedia
Aus dem Englischen von Matthias Wolf unter Mitarbeit von Sebastian Wohlfeil
Wagenbach, Berlin 2014
392 Seiten, 29,90 Euro
Die Suchmaschine im Kopf
Im Zeitalter von Wikipedia ist Wissen überall und jederzeit verfügbar. Welche mentalen Folgen hat das für Menschen? Mit dieser Frage hat sich der Historiker Peter Burke beschäftigt - und kommt zu einem kritischen Schluss.
Soviel Wissen war nie – aber wissen wir eigentlich noch, im emphatischen Sinn des Humboldtschen Bildungsideals oder des Descartes'schen "cogito ergo sum"? Nein, warnen Skeptiker seit langem. Nicht nur hat uns die heutige Wissensakkumulation hinterrücks die vertraute Relation von Raum und Zeit zerschlagen: Wir erfahren Dinge aus weitester Ferne in Sekundenbruchteilen ganz nah, per Klick. Welche mentalen Folgen das für Menschen hat, ist kaum untersucht, geschweige denn über steigende Burn-Out-Statistiken hinaus zu Wissen verarbeitet. Unser Riesenwissen ist in Wahrheit Wissensverlust, denn was da explosionsartig akkumuliert wird, ist zumeist bloß Information.
Auch für den englischen Historiker Peter Burke haben wir spätestens seit der "digitalen Revolution" ein Meer an Information, aber kein Mehr an Wissen bekommen. Burke hatte 2000 schon die "Geburt der Wissensgesellschaft" (dt. 2001, "Papier und Marktgeschrei") beschrieben, die 250 Jahre zwischen Gutenbergs beweglichen Lettern und Diderots Encyclopédie. Seine eigenen 50 Jahre Forschung und Lehre, in denen sich die Wissenssysteme immer schneller veränderten, waren 2012 der Anstoß für einen zweiten Band. Der ist soeben bei uns unter dem Titel "Die Explosion des Wissens" erschienen, dankenswerterweise gleichzeitig mit einer neuen wohlfeilen Paperbackausgabe von Band 1 der Burkeschen "Sozialgeschichte des Wissens". Lesen kann man diese Explosion – "Von der Encyclopédie bis Wikipedia" – aber sehr wohl einzeln, und mit größtem Gewinn.
Sozialgeschichte in drei Dimensionen
Das liegt natürlich an Burkes Prosa, einem Muster "barrierefreier" Eleganz, wieder hervorragend übertragen von Matthias Wolf. Und an Burkes pluralem, universalem Zugriff. Er versteht sein Buch ausdrücklich als Essayserie: "impressionistisch in den Methoden und provisorisch in den Schlussfolgerungen". Er sucht "das große Bild" – aus der Vogelperspektive, komparativ, über nationale, soziale, disziplinäre Grenzen und Partikularperspektiven hinweg –, also den ganzen Wald, ohne den Blick für einzelne Bäume zu verlieren.
Burkes "Wald" ist die westliche Welt im weiteren Sinn. Wie, aufgrund welcher ökonomisch-politisch-militärischen-technischen Interessen wird wann wo Wissen gesammelt, analysiert, geordnet, angewandt und verbreitet? Wie funktionieren die Wissen generierenden und definierenden Instanzen? Wo und wie passieren Wissensverlust und -vernichtung? Den Schluss bildet eine "Sozialgeschichte in drei Dimensionen": geografisch, soziologisch und chronologisch.
"Veränderungen, die schnell begannen", schreibt er, "brauchen manchmal ziemlich lange, bis sie jeden erreicht haben." Das macht nicht nur manche Zickzackbewegungen unseres Wissens bis 2000 begreifbar – es klingt fast wie das Leitmotiv für einen möglichen dritten Band: Wann wo wie ereilt uns eigentlich der Erkenntnisschock angesichts des Totalverlusts unserer Privatheit durch Big Data, Big Money und Geheimdienste und deren Beschlagnahmung unseres Wissens?