Wissensspeicher des Konfuzianismus

10.09.2008
Das "Jinsilu" ist ein berühmtes Lehrbuch des Konfuzianismus, das im 12. Jahrhundert verfasst wurde. Darin geht es um die großen Fragen wie Metaphysik, Kosmologie und Ethik. Thematisiert werden aber auch alltagstaugliche Regeln für Selbsterziehung, Mitgefühl und Gemeinschaftsgeist. China-Fortgeschrittenen wird dieses Buch viel Freude bringen.
Was bedeutet das Wort "Jinsilu"? Wer das wissen will, muss lange blättern. Im Kommentarteil auf Seite 289 erfahren wir, "jinsi" war eine Empfehlung des Konfuzius an seine Schüler. Ein Mensch soll "über Naheliegendes nachdenken", über seine alltäglichen Verhaltensweisen nämlich, wenn er seinen Charakter veredeln und damit sein Leben verbessern will. "Lu" ist das chinesische Wort für schriftlich fixierte Gedanken. "Jinsilu", wörtlich übersetzt, bedeutet also tatsächlich "Aufzeichnungen des Nachdenkens über Naheliegendes", wie es im Untertitel heißt.

Das vorliegende Buch wurde über 1600 Jahre nach Konfuzius (551 -479 v. Chr.) geschrieben. - In den Zeiten der Han-Dynastie (ab dem 3. Jhd. vor Christus) ist der Konfuzianismus in China zur Staatsphilosophie avanciert. Seitdem sind Legionen von Schülern dem Rat ihres Meisters gefolgt, haben "über Naheliegendes" nachgedacht und ihre Gedanken zu Papier gebracht. Im 12. Jahrhundert schließlich kamen zwei Konfuzianer, Zhu Xi und Lü Zuqian, auf die Idee, eine Textsammlung zu erstellen. Das Jinsilu vereint die wesentlichen Ideen aus rund 1600 Jahren Konfuzianismus, der bedeutendsten Philosophenschule des kaiserlichen China.

Wer sich im alten China um einen Beamtenposten bewarb, musste in einer Prüfung zeigen, dass er sich mit den Ideen des Konfuzius und seiner bedeutendsten Schüler vertraut gemacht hat. Das Jinsilu ist eine Art "Wissensspeicher Konfuzianismus", es konnte Bewerbern um einen Beamtenposten zur Prüfungsvorbereitung dienen. Das Werk besteht aus drei Teilen. Im ersten geht es um Metaphysik und Kosmologie, die anderen beiden befassen sich mit Fragen des Menschenlebens, Teil zwei mit verschiedenen Methoden des Lernens, Teil drei mit Fragen der Ethik.

Philosophiekundige werden Berührungspunkte zwischen dem alten China und dem antiken Griechenland bemerken. Die konfuzianische Tugendlehre ähnelt in vielem der aristotelischen. Konfuzius plädiert wie Aristoteles fürs Maßhalten in allen Lebenslagen, dafür, den Leidenschaften Zügel anzulegen und eine vernünftige Mitte zu finden zwischen extremen Verhaltensweisen (z.B. zwischen Geiz und Verschwendung).
"Wie werde ich ein starker Charakter, ein geradliniger, achtbarer Mensch?", in dieser Sache werden dem Leser eine Fülle von Weisheiten übermittelt. Die Konfuzianer sind übrigens überzeugt, dass nicht jeder Mensch taugt, ein edler Charakter zu werden, selbst wenn er noch so viel liest. Konfuzius, so erfahren wir, hatte 3000 Schüler. Aber nur einer von ihnen, Yan Hui, "verstand es, gut zu lernen. Erlangte Yan Hui etwas Gutes, bewahrte er es fest und verlor es nicht wieder. Yan Hui ließ seinen Ärger nicht an anderen aus, und einen Fehler, den er begangen hatte, wiederholte er nicht mehr."

Ein großes Thema für Konfuzius ist die Frage, wie ein Mensch zu einem aufrechten Diener seines Staates herangebildet werden kann. Der Einzelne hat sein Leben in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen, das betrachtet der Philosoph als selbstverständlich. Aber Konfuzius und seinen Schülern ging es um mehr als nur den Gehorsam der Chinesen gegenüber ihrem kaiserlichen Souverän.

Das Jinsilu ist ein Buch über Selbsterziehung, Mitgefühl und Gemeinschaftsgeist, über Tugenden, erstrebenswert für alle Mitglieder des Staates, auch und besonders für das Herrscherhaus. In Ommerborns Kommentar erfahren wir, dass die Konfuzianer oft genug protestiert haben, wenn die Ideale ihres Meisters im kaiserlichen China unter den Tisch gefallen sind. Zhu Xi, einem der Autoren des Jinsilu, wurden 1197 all seine Privilegien als kaiserlicher Beamter entzogen, weil er die moralischen Verfehlungen von Mitgliedern der Herrscherfamilie angeprangert hatte.

Im Prospekt des Verlages heißt es, das Jinsilu könne als "Einführung in chinesisches Denken" gelesen werden. Die Formulierung ist zumindest irreführend. Das Buch ist nichts für Anfänger in Sachen chinesische Philosophie. Der Leser wird ohne Vorwarnung ins China des 12. Jahrhunderts versetzt. Wer noch nie etwas gehört hat von Konfuzius und Laozi, I Ging und Daodejing, von der Han- und der Song-Dynastie, wird sich schwer tun mit diesem Werk. Zu viele Namen, Titel, Epochen und Begriffe aus dem chinesischen Alltagsleben.

Natürlich, Wolfgang Ommerborn hat dem Jinsilu einen exzellenten Kommentar hinterhergeschickt, über 200 Seiten stark, inklusive Glossar und Ausspracheregeln fürs Chinesische, aber ein Laie wird vor lauter Nachschlagen kaum zum Lesen kommen. China-Fortgeschrittenen dagegen wird dieses Buch viel Freude bringen. Der Herausgeber hat sorgfältig und sachkundig übersetzt, da ist nichts "verwestlicht", geglättet, verkürzt oder modernisiert. Ommerborn schenkt uns einen Text von fremdartiger Schönheit. In diesem Sinn ist das Buch durchaus eine "Einführung in chinesisches Denken" des 12. Jahrhunderts, sprich in eine Welt, der unsrigen fern und rätselhaft für unser Denken. – Dennoch werden uns Ideen übermittelt, die auch für unser Dasein etwas taugen. Von zeitloser Gültigkeit. Lebensweisheit eben.

Rezensiert von Susanne Mack

Jinsilu. Aufzeichnungen des Nachdenkens über Naheliegendes.
Aus dem Chinesischen übersetzt und herausgegeben von Wolfgang Ommerborn.
Verlag der Weltreligionen, Frankfurt und Leipzig 2008. 501 Seiten. 32€