Witold Gombrowicz: „Ferdydurke“
© Kampa
Gegen die Form
06:38 Minuten
Witold Gombrowicz
Übersetzt von Rolf Fieguth
FerdydurkeKampa, Zürich 2022367 Seiten
25,00 Euro
Alle wollen ihn formen. Doch Josek verabscheut sie, die ganze Bagage namens Gesellschaft der vermeintlich „Reifen“. Er probt den Aufstand im Namen der „Unreife“ und im Namen des Kunstwerks Roman. Nur muss der natürlich auch eine Form finden.
30 Jahre ist der Erzähler dieses wilden Romans alt. Er hat ein Buch mit dem seltsamen Titel „Memoiren aus der Epoche des Reifens“ verfasst und fürchtet nun, ein Schriftsteller der „halbherrlichen Weihen“ unter „Halbgebildeten“ und „Kulturtanten“ zu werden. Josek Kowalski wählt daher die „Unreife“ und kämpft mit ihr gegen die Heiligtümer Polens: Kultur und Bildung, die Moderne und den Landadel.
Witold Gombrowicz‘ avantgardistischer Anti-Bildungsroman „Ferdydurke“ sorgte im Jahr 1938 für einen Skandal und verschaffte dem Autor die Einladung, auf einem Überseedampfer nach Argentinien zu fahren. Weil Hitler kurz nach dem Lichten der Anker Polen besetzte, blieb er dort 23 Jahre.
Widerstand an allen Fronten
Reife Menschen, glaubt Josek Kowalski, werden von Angriffen auf die reife Ordnung nicht verstört, wenn sie im Namen von reifen Idealen wie etwa einer Revolution erfolgen. Witterten die Reifen aber die mühsam überwundene Unreife, dann murksten sie den „Grünschnabel“ und „Rotzbengel“ erbost ab durch „Sarkasmus, Ironie und Spott“. Das schreckt Josek nicht. Er will sich keine erstarrte gesellschaftliche Form auferlegen lassen, sondern eine eigene gewinnen.
Gombrowicz’ Ideenroman verbindet den Umsturz der Gesellschaft mit dem Ringen um Individualität – und beides mit der Suche nach einer künstlerischen Form des Romans. Dieses Ineinanderverschlungen-Sein hat zur Folge, dass das Romangeschehen nicht nachzuerzählen ist.
Josek kämpft an allen Fronten zugleich, ohne sich von irgendwas einschränken zu lassen. Immerhin sind drei zentrale Räume zu identifizieren: Schule, Bürgerwohnung und Land. Ein Lehrer taucht plötzlich auf, formt den Dreißigjährigen zum Knaben und schickt ihn in die Schule. Ältlich sitzt Josek inmitten einer Jugend, die nicht etwa unreif ist, sondern so reif, dass sie einen Mitschüler im Namen hochmögender Ideale in den Tod treibt.
Bauernburschen und Moderne
Dann schiebt der Lehrer Josek einem Ehepaar als Untermieter unter, deren Tochter mit ihren schlanken Waden die Verkörperung der Moderne ist. Die Gymnasiastin zieht Schüler wie Lehrer an, reagiert aber nur auf die männliche Entsprechung ihrer Modernität, den Schüler Kopyrda. Josek nennt beide in einem Atemzug „mit Europa, mit Amerika, mit Hitler, Mussolini und Stalin, mit Arbeitslagern, Fahne, Hotel und Bahnhof“.
Das anachronistische Gegenstück zu diesen dem Totalitarismus entgegengleitenden Existenzen ist Joseks Mitschüler Knyllus, der sich nach einem unverbildeten Bauernburschen sehnt. Als er ihm nahegekommen ist, stehen die Verhältnisse Kopf.
Turbulente Neuübersetzung
Wieder mal, denn zuverlässig fallen Schüler, Lehrer, Bürger, Landadlige und Bauern am Ende prügelnd übereinander her wie im Stummfilm. Die „Reifen“ lösen sich buchstäblich auf: Hände, Finger, Beine, Füße schwirren durch die Luft. Zwei Erzählungen, die in das turbulente Geschehen eingebettet sind und eigens von spielerisch-erzähltheoretischen Vorworten legitimiert werden, steigern die Auflösung zum absurden Theater rund um den zentralen Körperteil „Poppo“.
„Ferdydurke“ liest sich in Rolf Fieguths Neuübersetzung schneller, turbulenter. Polonisierend eingedeutscht sind auch die sprechenden Namen: Aus dem Lehrer Piórkowski, was an Federfuchser erinnert, wird Federfukski. Wieder zu entdecken ist ein großer, postmodern-vergnüglicher Ideenroman, der manchmal ermüdet, so sehr liebt Gombrowicz die Wiederholung.
Doch insgesamt wirkt das Buch frisch in seinen Versuchen, dem Klammergriff fremder Zuschreibungen zu entkommen. Die Bauernburschen, der Landadel, die Zeitgeistigen und die Kulturtanten sind ja keinesfalls ausgestorben.