Wladimir Putin

"Neurussland" ist mehr als Kalter Krieg

Wladimir Putin beim Gipfeltreffen in Minsk
Was will Wladimir Putin? © afp / Alexey Druzhinin
Von Jörg Himmelreich · 10.09.2014
Wladimir Putins Expansionsdrang Richtung "Noworossija" ist keine Rückkehr zum Kalten Krieg. Es ist eigentlich viel schlimmer, meint der Autor Jörg Himmelreich - und erklärt, warum die NATO darauf keine Antwort findet.
Noch immer rätselt der Westen über Wladimir Putins wahre Ziele. Mit seinen beliebigen Rückgriffen auf die große russische Geschichte fängt er die russische Volksseele ein. Nach der Krim ist jetzt "Noworossija" dran, so die russische nationalistische Propaganda. Neurussland ist das Gebiet nördlich des Schwarzen Meeres und macht ein Drittel des Territoriums der heutigen Ukraine aus.
Außerdem hat der russische Präsident dem scheidenden EU-Präsidenten Barroso angeblich gedroht, in zwei Wochen könnten russische Panzer in Kiew einrollen. Den Ernst einer solchen Drohung sollte man nicht unterschätzen. Denn Putin ist Taktiker, weniger Stratege. Er handelt nach den Regeln des gekränkten Gelegenheitsdiebs. Was er bekommen kann, nimmt er. Damit will er zeigen, wie gut er es mit dem amerikanischen Welt-Sheriff aufnehmen kann.
Der Westen hat nicht verstanden, wie sehr die Aufnahme der osteuropäischen Staaten in die NATO das imperiale Selbstverständnis Moskaus damals 2004 demütigte. Putin denkt allein in den Kategorien von Macht. Und der Westen tut sich schwer, sein Vorgehen zu verstehen. Wirtschaftssanktionen belächelt er, weil sie nur langfristig wirken. Und das Recht hat kaum eine Bedeutung für ihn, denn es begrenzt nur seine Macht, innenpolitisch wie außenpolitisch.
Zugeständnisse macht er nur aus taktischen Motiven, eher zum Schein und auch nur für kurze Zeit. Das erschwert jeden politischen Kompromiss - und nur den kann es für die Ukraine geben. Und deswegen kann der gegenwärtige, sogenannte Waffenstillstand nur mit Skepsis betrachtet werden.
Die NATO ist ein Kind der Spielregeln des Kalten Krieges
Wladimir Putins Expansionsdrang in Richtung "Noworossija" ist dabei keine Rückkehr zum Kalten Krieg. Es ist eigentlich viel schlimmer. Zwar standen sich damals zwei bis an die Zähne bewaffnete Nuklearmächte gegenüber. Aber die gegenseitige Abschreckung schaffte Frieden. Die Sowjetunion war eine statische Supermacht.
Nach der letzten Berlin-Krise 1958 wollte sie ihre Einflusszone nicht mehr über Ost-Europa hinaus ausdehnen. Die USA erkannten dies an und stellten nur ihre eigene Sphäre in Westeuropa unter den Schutz der NATO. Putin hingegen ist revisionistisch. Er will den russischen Machteinfluss zur Not militärisch erweitern, in Osteuropa, aber auch in Zentralasien.
Die Sowjetunion berücksichtigte spätestens seit der Entspannungspolitik völkerrechtliche Verträge, wie die zur Rüstungsbegrenzung, aber auch die Helsinki-Charta von 1975, anders als der Kreml heute. Mehr noch: Von Barack Obama erhält er das zusätzliche Signal, dass Washington sich mittlerweile Asien zugewandt hat und zögert, sich in Europas Sicherheitskonflikte hineinziehen zu lassen.
Weil der russische Neo-Imperialismus so viel gefährlicher für den Frieden in Europa ist, als es die Politik der Sowjetunion am Ende gewesen ist, tut sich der Westen heute so schwer, darauf eine angemessene Antwort zu finden. Auch das bezeugte der jüngste NATO-Gipfel.
Die NATO ist ein Kind der Spielregeln des Kalten Krieges und sucht für Europa noch nach Antworten auf die neue Moskauer Unberechenbarkeit. Ob die hastigen Beschlüsse in Wales Wladimir Putins Streben zu einem "Noworossija" tatsächlich in Schach halten werden, bleibt mehr als zweifelhaft.
Jörg Himmelreich schreibt als Autor für die "Neue Zürcher Zeitung" und forscht zu kulturgeschichtlichen und außenpolitischen Themen Russlands und Asiens. Er war Mitglied des Planungsstabs des Auswärtigen Amts in Berlin sowie Gastdozent und politischer Berater in Washington, Moskau und London.
Jörg Himmelreich
Jörg Himmelreich© Peter Ptassek
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