WM-Finale 1954

Der mentale Zusammenbruch Ungarns

07:29 Minuten
Ungarns Torjäger Ferenc Puskas (links) zieht im Fußball-WM-Finale 1954 ab, bevor der deutsche Spieler Werner Liebrich (rechts) seinen Schuss abblocken kann. Aus dem Hintergrund eilt Stürmer Ottmar Walter (Mite) heran.
Ungarns Torjäger Ferenc Puskás, (links) zieht im Fußball-WM-Finale 1954 ab (neben ihm die deutschen Spieler Werner Liebrich (rechts) und Ottmar Walter (in der Mite) heran. © dpa / picture alliance
Von Knut Benzner · 07.07.2024
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Im Finale der WM 1954 gegen Deutschland war Ungarn der große Favorit - und verlor. Für das Land war es mehr als die Niederlage in einem Fußballspiel. In der Zeit danach gab es Schikanen an der Grenze, Unruhen in der Bevölkerung und den Volksaufstand.
Schon vor der Begegnung kommt es zu einem merkwürdigen Zwischenfall.

"Es gibt keine Gerechtigkeit für Ungarn"

"Zwischenspiel" nennt es der ungarische Torwart Gyula Grosics: Während der Bus mit den deutschen Spielern zu den Umkleidekabinen fahren kann, werden die Stadiontore direkt vor den Ungarn geschlossen. Die Spieler müssen die 150 Meter zum Stadion durch den Regen und die Pfützen laufen.

"Es gibt keine Gerechtigkeit für Ungarn", sagt Zoltan Czibor, der Linksaußen, nach dem Spiel, "wir verlieren am Ende immer, wir schaffen es nie."
Es gebe einen Posten in einer Fußballmannschaft, der ein einsamer ist: der des Torwarts. Gyula Grosics, der schwarze Panter, damals 28:

Dieser Tag sei der wichtigste Tag gewesen, sagt er, und ein entscheidender Tag im Verlauf seines gesamten Lebens.

Das Gros dieser Spieler bekleidete beim Armeeklub Honved oder beim Klub der Staatssicherheit, MTK Budapest, einen militärischen Rang, den eines Majors, den eines Hauptmanns. Faktisch waren sie Professionelle, Staatsamateure nannte der Westen das. 

Mit dem Fußball eine Identität finden

Miklós Hadas, Budapester Soziologe:

Die Erfolge dieses Teams waren eine verhältnismäßig erfolgreiche Strategie der diktatorischen Regierung. Die Siege der ‚Goldenen Mannschaft‘ wirkten wie Opium fürs Volk, diese Mannschaft war dermaßen populär, dass die Menschen mit den Siegen der Mannschaft vergessen konnten, unter welch miserablen Umständen sie lebten.

Soziologe Miklós Hadas

Willkürherrschaft in einem monolithischen System.

Scheinprozesse, Säuberungen, Hinrichtungen - in dieser Zeit blühte der Fußball, jene „Goldene Mannschaft“, Fußball war eine Möglichkeit, sich mit Siegern zu identifizieren, eine Identität zu finden.

Wer über den Fußball redete, redete über Schönheit, Kultur und Kreativität, wo sonst jegliche Kreativität fehlte.
"Immer wieder Bozsik, der rechte Läufer der Ungarn am Ball, er hat den Ball verloren diesmal, gegen Schäfer, Schäfer nach innen geflankt, Kopfball, abgewehrt, aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen, oi, besseluko, Rahnö, gool, me vositz richtinascht, me vositz richtinascht."
György Szepesi, Onkel György nannten sie ihn, Onkel Georg, ungarischer Rundfunkreporter des Endspiels, Sozialdemokrat, was gefährlich werden konnte, der "Sprecher" der Mannschaft.
Jenő Buzánszky, rechter Verteidiger der „besten Mannschaft“ der Welt, sagt:

"Die Deutschen werden in der Pause das erste Mal das Gefühl gehabt haben, gegen diese Ungarn etwas bestellen zu können. Ich dachte in der Pause zum ersten Mal: Wir könnten auch verlieren."
In der Praxis führte die Niederlage zu einem mentalen Zusammenbruch des ganzen Landes. Diese WM war „unsere“ Weltmeisterschaft.

Die Mannschaft wurde interniert

Budapest, 7. Juli 1954: Unmittelbar nach dem Spiel waren 100.000 Menschen auf der Straße, Straßenbahnen wurden umgekippt, Fensterscheiben eingeschlagen, die Wohnung des Trainers Gusztáv Sebes geplündert, dessen Sohn niedergeprügelt.
Die Menge forderte den Abzug der Sowjetunion, in der Nacht darauf prügelte die Polizei die Demonstrierenden nieder, die Mannschaft selbst wurde interniert und kam mit Sonderzügen durch die Vorgärten des Landes zurück, niemand applaudierte. Grosics, der Torwart, wurde drei Monate nach dem Endspiel verhaftet.

"Dann begann die ungarische Staatssicherheit, die AWH, ein Verfahren gegen mich mit dem Vorwurf der Agententätigkeit, gleichzusetzen mit Landesverrat."

Die Suspendierung des Torwarts

Er wurde suspendiert, ein Jahr unter Hausarrest gestellt und später strafversetzt, in die Provinz.
Zwei Jahre später, der Herbst 1956, die Ereignisse überschlugen sich, am 23. Oktober beginnt der Aufstand ...
!Zusammenbruch des Staatsapparates, Imre Nagy kündigt den Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt an."

Die Niederlage von 1954 als Indikator des Aufstands


János Kádár bildet eine Gegenregierung und holt die sowjetischen Truppen zu Hilfe - die bereiten der Revolution ein blutiges Ende. Für Grosics hängen die Niederlage sowie der Volksaufstand direkt zusammen, für den Soziologen Miklós Hadas auch:

Die Unruhen nach der Niederlage 1954 waren Indikatoren, Anzeichen der Unzufriedenheit, die bereits damals in der Gesellschaft herrschte. Da Fußball ein überbetontes Thema war, ist den Ereignissen nach der Niederlage große Bedeutung beizumessen, eine Verbindung von beidem halte ich für gerechtfertigt.

Soziologe Miklós Hadas

Puskás, Czibor und Kocsis hatten sich während des Aufstands mit ihrem Klub Honved Budapest auf einer Auslandsreise befunden - und kehrten nicht mehr nach Ungarn zurück.
Alle drei spielten nach einer Sperre in Spanien. Puskás, der „fliegende Major“,  ließ sich einbürgern und nahm, welch Chuzpe, tatsächlich für Spanien an der WM 1962 in Chile teil, Sándor Kocsis stürzte 1979 aus bis heute ungeklärten Gründen aus dem vierten Stockwerk eines Krankenhauses in Barcelona.

Letzte Worte des Trainers: "Wir haben verloren"

Imre Nagy, Regierungschef der 13 Tage, die den Kreml erschütterten, wurde 1958 hingerichtet. Mátyás Rákosi, verantwortlich für den ungarischen Stalinismus, wurde 1962 aus der Partei ausgeschlossen und starb im Exil in Gorki.

György Szepesi, der mehr als 60 Jahre Sportreporter war.
Er war am Sterbebett des Trainers Gusztáv Sebes, 1956 entlassen - einen Sieg muss man nicht erklären, nur die Niederlage. Sebes‘ letzte Worte:
"Wir haben verloren."

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