Wir schauen in den Westen und gucken, was da alles möglich ist. Wenn sie sich zurückziehen – was ist dann der nächste Schritt?
Diskussion um "One Love"-Binde
Auch so kann Protests aussehen: Spieler der deutschen NACKtionalmannschaft vor dem Spiel gegen die Ballfreunde Bergeborbeck. © picture alliance / dpa / Roberto Pfeil
Die unterschätzte Kraft der Zeichen
36:42 Minuten
Welche Rolle kann die Kunst bei Protesten spielen? Was bedeuten Zeichen und können sie etwas bewirken? Kann man für Werte einstehen, ohne sich zu ihnen zu bekennen? Die Journalisten Mina Khani und Jean Peters im Gespräch mit Massimo Maio.
"Wir stehen zu unseren Werten", sagte DFB-Präsident Bernd Neuendorf nach dem Verbot des Weltverbands FIFA, eine eigens für die WM entworfene "One Love"-Binde im Stadion zu tragen. "Zu Werten stehen heißt, etwas zu tun, obwohl es einem schaden kann, dafür einzustehen", entgegnet Jean Peters, Mitbegründer des Peng-Kollektivs.
Die FIFA sei für Korruption bekannt, auch der DFB ist nicht als starker Werteverfechter populär, meint Peters. Die Binde sei ein Minimalziel gewesen, über das sich viele Beteiligte im Vorfeld Gedanken gemacht hätten. "Wenn man darauf schaut, dann ist es ein System, was kaputt ist."
Aussagen wie „Wir wollen die FIFA verklagen" sind bigott, findet Peters. "Ich finde das, ehrlich gesagt, traurig, wie tief die Latte mittlerweile liegt."
Welche Bedeutung hat die Binde?
Vor dem Spiel gegen Japan am 23.11. hielten sich die Spieler für ein Pressefoto eine Hand vor den Mund. Peters findet gut, "dass sie zeigen: Wir wollen etwas tun". Er wisse nicht, wie die Gefühle hoch- und runtergehen, meint Peters. Die Frage sei aber: Wie werden die Spieler hinterher öffentlich reden?
Wie sehr würden Verträge mit Firmen gekündigt, die ihre Arbeiterinnen und Arbeiter knechten? Wie sehr würde Bayern München sagen: "Wir nehmen kein Geld mehr vom Hauptsponsor aus Katar an?"
Die Zeichen der LGBTQ-Community, die sich immer sichtbarer einsetzt und deren Stimme immer klarer und deutlicher wird, hätten hier wie ein Einfallstor gewirkt, findet Peters:
"Wir schauen auf ein Land, das Menschenrechte mit Füßen tritt und können nicht mal eine One-Love-Binde tragen?" Und dadurch fange man an, auch über andere Dinge zu sprechen. "Diese Symbole sind dann wie Türöffner für Diskussionen, die dann erst beginnen sollen."
Es gehe eben auch um Grundsatzfragen, um Grundwerte und die Frage: Was steckt denn dahinter? Wie sehr sind wirtschaftliche Beziehungen miteinander verbunden? Wo sind Firmen bereit, Zeichen zu setzen, die nicht nur symbolisch sind, sondern de facto existieren?
Welche Bedeutung haben Zeichen?
Zeichen und Symbole zementieren oft Autoritäten, sagt Peters. Schon der Arztkittel sei ein Zeichen: "Der Typ weiß mehr." Das gehe bis zum Pass: Der sei eins der repressivsten Zeichen, meint er. Wir können uns Zugang zum Flugzeug beschaffen, zu dem andere keinen Zugang haben.
"Das ist Symbolik, die real wird, die existenziell real wird."
Auch Mina Khani hat gehofft, dass die Binde doch getragen wird, sagt sie. In Deutschland sei das Tragen der Binde vielleicht banal, Kommerz, symbolisch, ein bisschen Lifestyle-mäßig. "In Katar ist die Binde auf jeden Fall ein Zeichen von Widerstand. Wenn man dahin fliegt und das Spiel spielt, ist es okay, aber nicht mit der Attitüde, dass normalisiert wird, was da gerade läuft."
"Die anderen gucken ja auch nach den westlichen Gesellschaften", sagt Khani. Im Iran wird die Mannschaft im Stadion beschimpft, weil sie da ist. Obwohl sie ja geschwiegen haben und die Nationalhymne nicht gesungen haben. Das ist zu wenig, findet sie.
Braucht es einzelne Individuen, die vorangehen?
"Die Debatte läuft ja schon seit Monaten", sagt Mina Khani. Für viele sei es unvorstellbar, dass diese WM gerade in Katar stattfindet, sagt sie, da Katar ja auch ein Verbündeter des iranischen Staates ist. Denn durch die Haltung Katars, etwa zu Alkohol, werde normalisiert, dass es Verbote gibt.
„Langsam reicht es", ist die Attitüde und Haltung der Menschen im Iran: "Wenn die WM in Europa wäre, hätten wir auch mehr Spielraum, auch Sichtbarkeit zu schaffen für die iranischen Protestierenden. Es ist ein kollektiver Kampf, sagt sie. "Das betrifft ja uns alle." Einzelne Personen könnten das aber mittragen.
"Es bräuchte den Mut von den Privilegiertesten", meint Jean Peters. Wer fünf Kinder hat, Hartz IV bezieht und unter Depressionen leidet, könne nicht auch noch protestieren. Das Phänomen habe er aber "schon immer" in sozialen Kämpfen beobachtet, sagt er: Das Aufbegehren von Individuen gegen Repression lohnt sich nicht."
Welchen Anteil kann die Kunst haben?
Das Peng-Kollektiv denkt "Macht als Medium", sagt Jean Peters: "Wo gibt es Macht-Symboliken? Macht-Performances? Wie trete ich auf, wie ist die Architektur? Macht, das abstrakte Etwas, wo Menschen über andere Macht ausüben können, wird das Medium, an dem wir drehen."
So werde Macht erst sichtbar.
Das Peng-Kollektiv etwa klaut Stimmen von Autoritäten wie Ministerien und meldet sich bei Unternehmen in deren Namen. "Und plötzlich öffnen sich alle Türen und wir merken, was alles möglich wäre."
Der DFB könnte etwa die Namen der Arbeiter, die in Katar beim Stadionbau gestorben sind, auf die Trikots drucken, sagt Peters. "Über 6500 Namen, die nicht gehört werden."
Auch im Iran sieht Mina Khani derzeit viel gut gemachte Kunst, etwa Revolutionslieder, die neu gesungen oder geschrieben werden. Da sei sehr viel Kunst auf den Straßen, "der Protest ist sehr performativ". Es sei die Zeit der Kunst, weil die Freiheit der Kunst im Iran systematisch verhindert wurde. "Erst wenn sich die Menschen die Freiheit nehmen, ist Kunst möglich."
Mina Khani ist eine iranische Journalistin, Publizistin und Performerin. Sie schreibt unter anderem für die Tageszeitung taz und den Spiegel.
Jean Peters ist ein deutscher Journalist, Autor und Aktionskünstler. Er ist Mitbegründer des Peng-Kollektivs und schreibt Bücher.
(ros)