Wo Flüchtlinge und Touristen zusammenkommen
Touristen und Migranten haben meist nicht viel gemein - denkt man. Doch Tom Holert und Mark Terkessidis zeigen anhand von vielen Beispielen, dass die gängigen Zuschreibungen von "reichen" Touristen und "armen" Flüchtlingen nicht zutreffen. Beide Gruppen folgen letztlich den "globalen Wanderungsbewegungen des Kapitals", so ihre These.
Das Gespann Tom Holert/Mark Terkessidis ist bekannt für intelligente Provokation. Ihr erstes gemeinsames Buch handelte vom Krieg als modernem Massenspektakel und hat einige Wellen geschlagen, und auch beim zweiten ist Widerspruch vorprogrammiert.
Touristen und Migranten in einen Topf zu werfen, ist natürlich problematisch, zumindest auf den ersten Blick. Zunächst sieht es ja so aus, als hätten die nichts miteinander zu tun: Touristen sind (vergleichsweise) reich und kommen aus den Wirtschaftsmetropolen dieser Welt. Sie können mobil sein und fliehen aus Spaß. Migranten dagegen kommen aus den armen Ländern, die müssen mobil sein und fliehen aus Lebensnot.
Dieses Urteil ist falsch, meinen die Autoren. Falsch, weil es nicht ganz richtig ist, sprich: es ist nur die halbe Wahrheit. Was ist zum Beispiel mit dem Tuchfabrikanten aus China, der nach Florenz umgezogen ist, weil er dort neuerdings eine Filiale betreibt? Und was mit der jungen Frau aus Deutschland, die in der Heimat keine Arbeit findet und träumt von einem Leben in Australien? Jetzt ist sie mit dem Rucksack dorthin unterwegs. Erstmal für ein halbes Jahr, auf Touristenvisum. Sie wird dort erstmal auf einer Farm arbeiten - für freie Kost und Logis.
Touristen sind anscheinend nicht immer reich und Migranten nicht immer arm. Aber wer ist hier eigentlich der Migrant und wer der Tourist?
Das Buch besteht aus Reportagen von verschiedenen Orten der Welt, Lebensgeschichten inklusive. Die Autoren sind kreuz und quer durch Europa und Nordafrika gereist und haben sich mit Touristen, mit Flüchtlingen, mit Einheimischen unterhalten. Sie haben Behörden und Menschenrechtsorganisationen aufgesucht. Sie haben die Presse studiert in aller Herren Länder und politische Dokumente durchforstet. Kurzum: dieses Buch ist die Frucht einer umfangreichen Recherchearbeit sowohl am Schreibtisch als auch vor Ort. Es ist Aufklärung im besten Sinne des Wortes, da kommt einem manches Vorurteil abhanden.
Zum Beispiel, dass Flüchtlinge immer bettelarm sind und aus Überlebensgründen ins reiche Europa drängen. Das ist nicht der Fall: diejenigen Flüchtlinge zumindest, die per Boot von der Nordküste Afrikas starten, sind in der Regel junge, kräftige Männer: Studenten, kleine Händler, die haben zu Hause nicht schlecht gelebt, aber sie wollen eben ein besseres Leben. Sie träumen vom Paradies Europa und riskieren dafür Kopf und Kragen. Die Autoren haben sich unter jungen Männern im marokkanischen Casablanca umgehört: Gort wird die illegale Überfahrt nach Europa inzwischen als eine Art "Extremsport" gehandelt.
Das Buch ist ein feines Lehrstück in Sachen Dialektik. Touristen haben's nicht nur gut und sind die Täter, Migranten haben's nicht nur schlecht und sind die Opfer. In diesem Buch geht es überhaupt nicht um "gut" oder "böse", dieses Buch bewegt sich, um mit Karl Marx zu sprechen, "jenseits aller moralisierenden Kritik". Es geht um die nüchtern-objektive Beschreibung von Prozessen: um gesellschaftliche Entwicklungen, die unter unseren Augen vor sich gehen.
Die Autoren stellen fest, Touristen sind - genau wie Migranten - massenhaft unterwegs. Und zwar nicht nur im Urlaub, sondern immer öfter auch im Arbeitsalltag - als Pendler, auf Montage - um jenes Geld zu verdienen, das sie als Touristen ausgeben können. So manche Ferienanlage (denken wir zum Beispiel an die Betonburgen von Gran Canaria) unterscheidet sich in Sachen Komfort kaum noch von einer Flüchtlingsunterkunft, und in manchen Billighotels (bekannt dafür sind zum Beispiel die französischen Hotelketten IBIS und ETAP) wohnen Touristen, fliegende Händler und Flüchtlinge in trautem Verein unter einem Dach.
Die Weltgesellschaft ist in Bewegung geraten. Immer mehr Menschen sind unterwegs: auf Autobahnen, mit Schiffen, Flugzeugen, Eisenbahnen. "Sie alle folgen den globalen Wanderungsbewegung des Kapitals", stellen die Autoren fest - und halten jede nationale Politik für "halbherzig und scheinheilig", die sich gegen Einwanderer abschotten will, während sie gleichzeitig die freie und globale Markt- sprich: Kapitalwirtschaft predigt. Das Kapital braucht nun einmal flexible Arbeitskräfte: je billiger, umso besser, und wo ein Bedarf besteht, ist immer auch ein Weg - zur Not ein illegaler.
"Der Druck der Migration", notiert die Süddeutsche Zeitung, "wird das Thema dieses Jahrhunderts werden." Dieses Buch liefert Gründe und Hintergründe. Sehr zu empfehlen.
Rezensiert von Susanne Mack
Tom Holert/Mark Terkessidis: Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung - von Migranten und Touristen
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006
256 S., EUR 8,95
Touristen und Migranten in einen Topf zu werfen, ist natürlich problematisch, zumindest auf den ersten Blick. Zunächst sieht es ja so aus, als hätten die nichts miteinander zu tun: Touristen sind (vergleichsweise) reich und kommen aus den Wirtschaftsmetropolen dieser Welt. Sie können mobil sein und fliehen aus Spaß. Migranten dagegen kommen aus den armen Ländern, die müssen mobil sein und fliehen aus Lebensnot.
Dieses Urteil ist falsch, meinen die Autoren. Falsch, weil es nicht ganz richtig ist, sprich: es ist nur die halbe Wahrheit. Was ist zum Beispiel mit dem Tuchfabrikanten aus China, der nach Florenz umgezogen ist, weil er dort neuerdings eine Filiale betreibt? Und was mit der jungen Frau aus Deutschland, die in der Heimat keine Arbeit findet und träumt von einem Leben in Australien? Jetzt ist sie mit dem Rucksack dorthin unterwegs. Erstmal für ein halbes Jahr, auf Touristenvisum. Sie wird dort erstmal auf einer Farm arbeiten - für freie Kost und Logis.
Touristen sind anscheinend nicht immer reich und Migranten nicht immer arm. Aber wer ist hier eigentlich der Migrant und wer der Tourist?
Das Buch besteht aus Reportagen von verschiedenen Orten der Welt, Lebensgeschichten inklusive. Die Autoren sind kreuz und quer durch Europa und Nordafrika gereist und haben sich mit Touristen, mit Flüchtlingen, mit Einheimischen unterhalten. Sie haben Behörden und Menschenrechtsorganisationen aufgesucht. Sie haben die Presse studiert in aller Herren Länder und politische Dokumente durchforstet. Kurzum: dieses Buch ist die Frucht einer umfangreichen Recherchearbeit sowohl am Schreibtisch als auch vor Ort. Es ist Aufklärung im besten Sinne des Wortes, da kommt einem manches Vorurteil abhanden.
Zum Beispiel, dass Flüchtlinge immer bettelarm sind und aus Überlebensgründen ins reiche Europa drängen. Das ist nicht der Fall: diejenigen Flüchtlinge zumindest, die per Boot von der Nordküste Afrikas starten, sind in der Regel junge, kräftige Männer: Studenten, kleine Händler, die haben zu Hause nicht schlecht gelebt, aber sie wollen eben ein besseres Leben. Sie träumen vom Paradies Europa und riskieren dafür Kopf und Kragen. Die Autoren haben sich unter jungen Männern im marokkanischen Casablanca umgehört: Gort wird die illegale Überfahrt nach Europa inzwischen als eine Art "Extremsport" gehandelt.
Das Buch ist ein feines Lehrstück in Sachen Dialektik. Touristen haben's nicht nur gut und sind die Täter, Migranten haben's nicht nur schlecht und sind die Opfer. In diesem Buch geht es überhaupt nicht um "gut" oder "böse", dieses Buch bewegt sich, um mit Karl Marx zu sprechen, "jenseits aller moralisierenden Kritik". Es geht um die nüchtern-objektive Beschreibung von Prozessen: um gesellschaftliche Entwicklungen, die unter unseren Augen vor sich gehen.
Die Autoren stellen fest, Touristen sind - genau wie Migranten - massenhaft unterwegs. Und zwar nicht nur im Urlaub, sondern immer öfter auch im Arbeitsalltag - als Pendler, auf Montage - um jenes Geld zu verdienen, das sie als Touristen ausgeben können. So manche Ferienanlage (denken wir zum Beispiel an die Betonburgen von Gran Canaria) unterscheidet sich in Sachen Komfort kaum noch von einer Flüchtlingsunterkunft, und in manchen Billighotels (bekannt dafür sind zum Beispiel die französischen Hotelketten IBIS und ETAP) wohnen Touristen, fliegende Händler und Flüchtlinge in trautem Verein unter einem Dach.
Die Weltgesellschaft ist in Bewegung geraten. Immer mehr Menschen sind unterwegs: auf Autobahnen, mit Schiffen, Flugzeugen, Eisenbahnen. "Sie alle folgen den globalen Wanderungsbewegung des Kapitals", stellen die Autoren fest - und halten jede nationale Politik für "halbherzig und scheinheilig", die sich gegen Einwanderer abschotten will, während sie gleichzeitig die freie und globale Markt- sprich: Kapitalwirtschaft predigt. Das Kapital braucht nun einmal flexible Arbeitskräfte: je billiger, umso besser, und wo ein Bedarf besteht, ist immer auch ein Weg - zur Not ein illegaler.
"Der Druck der Migration", notiert die Süddeutsche Zeitung, "wird das Thema dieses Jahrhunderts werden." Dieses Buch liefert Gründe und Hintergründe. Sehr zu empfehlen.
Rezensiert von Susanne Mack
Tom Holert/Mark Terkessidis: Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung - von Migranten und Touristen
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006
256 S., EUR 8,95