Wo Geflüchtete in Haftzentren festsitzen

Endstation Libyen

Afrikanische Geflüchtete gehen am 05.04.2017 in einem Flüchtlingslager in Tripolis (Libyen) vom Sport zurück in ihre Unterkunft.
Afrikanische Geflüchtete gehen in einem Flüchtlingslager in der libyschen Hauptstadt Tripolis zurück in ihre Unterkunft. © picture alliance / dpa / Simon Kremer
Von Björn Blaschke |
Letzter Stopp vor der gefährlichen Etappe übers Mittelmeer: Die meisten der Flüchtlinge kommen aus Ländern südlich der Sahara. Sie wählen die Route über Libyen, weil Schlepperbanden dort fast ungehindert arbeiten können. Manche von ihnen werden aber doch aufgegriffen - und landen in Lagern in der Hauptstadt Tripolis.
Der Schließer schiebt den Metallriegel beiseite und zieht die schwere Stahltür auf. Der Geruch nimmt einem den Atem: Ausdünstungen von ungewaschenen Menschen und muffiger Kleidung. Die Luft in dem hohen Raum kann nicht zirkulieren. Die vergitterten Lichtschächte in den nackten Betonwänden sind zu schmal.
Auf dem unverputzten Boden - eng auf eng: Schaumgummimatratzen. Mit billigen Kunstfaserdecken. Der Raum: groß wie eine Turnhalle; Platz für vielleicht 100, 150 Menschen. Insassen. Es ist eine Großraumzelle für Frauen. Unter libyscher Leitung. Die Vereinten Nationen nennen es DC: Detention Center – zu Deutsch: Gefangenen-Zentrum.
Wer hier eingesperrt ist, hat die finale Etappe der großen Reise nicht mehr geschafft; ist aus einem der vielen afrikanischen Länder aufgebrochen, um über Libyen und das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Wer in einem DC, wie diesem, in der libyschen Hauptstadt Tripolis einsitzt, wurde von Libyern im Land aufgegriffen oder aus der See gefischt.
Der Traum von einem besseren Leben: geplatzt. Illegal eingereist; ohne Visum. Letzte Station: DC – Gefangenen-Zentrum. Eine der Brettspielerinnen in der Großraumzelle ist Rejoyce: freundliches, rundes Gesicht, große Augen, den Kopf hat sie bedeckt mit der Kapuze ihres blauen Pullis. Die 22-Jährige war bereits in einem Schlauchboot auf dem Weg nach Italien.
"Plötzlich fiel der Motor aus. Das Boot war leck. Wir haben um Hilfe geschrien. Dann kam ein libysches Rettungsteam und hat uns geholfen. Wir wurden eingesperrt. In einem DC. Mehr als einen Monat lang waren wir da, bevor sie uns in dieses DC brachten."

Oft platzt hier der Traum vom besseren Leben

Die Geschichte der jungen Frau ähnelt der vieler Menschen, die vor dem Elend flüchten. Rejoyce stammt aus Nigeria; dem bevölkerungsreichsten Land Afrikas, das gezeichnet ist von wirtschaftlichem Niedergang, Korruption und im Norden auch von islamistischem Terrorismus.
"Ich habe Nigeria im August vergangenen Jahres verlassen – wegen der Krise dort. Wir haben die Wüste durchquert. In einem LKW. Das war hart. Einige Leute sind vom LKW gefallen. Viele von uns sind jetzt tot. Wir waren 26, als es losging. Wer auf dem Weg runterfiel, blieb zurück. Die Fahrer haben die Tour fortgesetzt, ohne anzuhalten."
Die Menschenschmuggler haben Rejoyce zunächst in den Tschad transportiert und dann weiter nach Libyen. Einheimische Schlepper übernahmen sie hier und brachten sie in eines der vielen Häuser im Süden des riesigen Landes. Die UN nennen diese Unterkünfte "Menschen-Farmen". Rejoyce wurde versklavt:
"Sie haben uns zu einer Tomatenplantage gebracht. Da waren wir einen Monat lang. Da gab es Vergewaltigung und Mord. Dann haben sie uns weitergebracht, wir sind auf ein Boot gekommen - und dann fanden wir uns hier wieder."
Im vergangenen August verließ Rejoyce Nigeria. Heute träumt sie davon, in ihre Heimat zurückzukehren, wünscht, sie hätte sich nie auf den Weg gemacht.
"Ich wollte nicht weg, ich musste. Weil ich hoffte, dass es woanders besser ist. Und ich hatte nicht erwartet, dass der Weg so schlimm ist. Wenn ich das geahnt hätte, wäre ich in Nigeria geblieben."

Ware Mensch: Schlepper verkaufen Flüchtlinge für 500 Dollar

Andere – auch Mitinsassen von Rejoyce - wissen, was auf sie zukommen kann. Frauen lassen sich sogenannte Drei-Monats-Spritzen setzen; ein Verhütungsmittel. Sie wissen, dass ihnen auf dem Weg ans Mittelmeer Vergewaltiger auflauern, sie vielleicht prostituiert werden, sie einen Teil ihrer Reise nach Europa nicht als Sklavin auf einer Tomatenplantage abarbeiten müssen, sondern mit erzwungenem Sex.
Die Internationale Organisation für Migration, die eng mit den Vereinten Nationen zusammenarbeitet, hat erst kürzlich von Sklavenmärkten in Libyen berichtet. Auf denen verkauften Schlepper Flüchtlinge für 200 bis 500 Dollar.
Außerhalb der Gruppenzelle wartet Captain Wajdi. Er befehligt die 70 Schließer in dem Gefangenen-Zentrum, ein stämmiger Mann in Kampfanzug und blauer Polizeijacke, der ständig ernst blickt, führt durch "sein" DC: Wassertanks, eine Großküche, eine Krankenstation, zu der auch Quarantänebereiche gehören - HIV, Hepatitis, Tuberkulose. In den DCs sind Menschen mit den verschiedenen Krankheiten eingesperrt.
Schwere Fälle werden – angeblich – außerhalb versorgt, leichtere Krankheiten in den DCs kuriert. Zu den gefangenen Frauen mit leichterer Krankheit zählen auch die, deren Gesichter wie von einem weißen Schleier überzogen sind: Milbenbefall. Im Volksmund: Krätze.
Afrikanische Geflüchtete knien am 5.04.2017 in einem Flüchtlingslager in Tripolis (Libyen) um eine Schale mit Essen.
Afrikanische Geflüchtete knien in einem Flüchtlingslager in der libyschen Hauptstadt Tripolis um eine Schale mit Essen.© picture alliance / dpa / Simon Kremer
Dann der Bereich für die Männer: Sie machen in diesem DC den größten Teil der insgesamt etwa 700 Gefangenen aus. Auch ihre Großraumzellen: betongrau. In einer: drei Duschen - ohne Licht. Warum das so ist? Captain Wajdi wirkt bedrückt bei seiner Antwort: Aus Angst vor Kurzschlüssen und Bränden wurde keine Stromleitung in den Sanitärbereich gelegt.
Die Insassen sind gerade woanders – auf einem improvisierten Bolzplatz mit Sandboden. Oder in einem kleineren Saal, in dem sie Hanteln drücken können, Tischtennis spielen und Billard. Kritik an den Bedingungen, unter denen die Menschen hier eingesperrt sind? Fehlanzeige! Alle Gefangenen zeigen sich froh und zufrieden. So wie dieser Mann, der sagt, er stamme aus Mali:
"Ja, Gott sei gepriesen, es geht gut hier. Danke schön, wir haben hier viel Zeit. Die Aufseher sind alle gut zu uns. Es gibt regelmäßig zu essen. Gott sei Dank! Merci beaucoup."
Eine halbe Stunde Fahrt durch Tripolis. Das Gefangenen-Zentrum befindet sich ein paar Kilometer entfernt von der Regierungsstelle, die für die DCs zuständig ist. Tripolis, die Hauptstadt Libyens, ein architektonisches Durcheinander: moderne Hochhäuser neben italienischen Kolonialgebäuden, Palmen, breite Alleen.
Die Altstadt: ein Netz enger Gassen. Hier eine Parkanlage, dort das glitzernde Mittelmeer. Es könnte idyllisch sein, wenn sich die etwa 30 Milizen und bewaffneten Gangs in Tripolis nicht immer wieder Kämpfe lieferten. Abwesenheit des Staates.

Drei Regierungen ringen um die Macht

Im Februar 2011 kam es zu Massenprotesten gegen Muammar al-Gaddafi. 42 Jahre lang hatte er das Land mit eiserner Hand regiert und wollte so weitermachen. Deshalb versuchte er, den Volksaufstand niederzuschlagen. Doch der UN-Sicherheitsrat entschied, dass NATO-Jets die libysche Zivilbevölkerung vor den Einheiten al-Gaddafis schützen sollten.
Die Kampfflugzeuge machten kurzen Prozess. Al-Gaddafi und sein System wurden gestürzt, der Diktator getötet. Libyen versank in Chaos. Heute herrscht Bürgerkrieg. Und: Drei Regierungen ringen um die Macht in Libyen. Doch nur eine ist von der Staatengemeinschaft anerkannt. Manche Milizen bekämpfen sie, andere stehen hinter ihr. Rechtlosigkeit.
Verbrecherbanden treiben ihr Unwesen mit Kidnapping, Schmuggel von Drogen und Waffen sowie mit Flüchtlingen.
Saleem Ghaleeb ist der Generalinspekteur der DCs. Sein Sitz, ein schmuckloses Büro in einem schmucklosen Haus. Es gibt drei Regierungen in Libyen, welcher ist er verantwortlich?
"Es stimmt. Wir haben drei Regierungen in Libyen. Aber jetzt arbeiten wir unter der Leitung des Innenministeriums der Nationalen Einheitsregierung, die wird von der Staatengemeinschaft anerkannt."
Das heißt, dass Ghaleeb für die 17 DCs zuständig ist, die sich im Westen Libyens mit der Hauptstadt Tripolis befinden. Die anderen DCs stehen unter der Kontrolle einer Gegenregierung im Osten des Landes. 17 DCs, etwas mehr als die Hälfte der insgesamt 30.

Schlechte Lebensbedingungen in den Lagern

Die Lebensbedingungen in all diesen Lagern haben UN und Menschenrechtsorganisationen wiederholt scharf kritisiert. Wobei sich die DCs voneinander unterscheiden. Der Zustand der Gebäude, die Versorgung und Hygiene. Jedes DC ist anders. Aber: Keines ist gut!
"Ehrlich gesagt, sind die Verhältnisse in wenigen Zentren angemessen, in andern schlecht, da sie keine Sanitäranlagen und keine Toiletten haben. Oder nicht genug. Manche DCs sind überfüllt. Mit 1.000 Leuten, 1.500 oder noch mehr. Statt der 700, die vielleicht hineinpassen. Und manche Gebäude sind baufällig."
Ghaleeb meint, dass noch mehr Menschen in die DCs kommen werden, wenn sich noch mehr auf den Weg nach Europa machen, aber auch mehr auf dem Weg dahin abgefangen werden – in Libyen oder in libyschen Hoheitsgewässern.
"Es sind Hunderttausende - wahrscheinlich sogar noch mehr als eine Million, die im Süden Libyens darauf warten, in den Norden zu kommen und dann weiter nach Europa. Wir haben keine Möglichkeiten, sie aufzunehmen. Bei uns herrscht Krieg, und es gibt viele Gebiete außer jeder Kontrolle."
Schon jetzt sei es schwer, die Menschen in den DCs zu versorgen, so der Generalinspekteur.
Im Hafen von Tripolis liegt ein weiß-graues Schlauchboot, es ist das einfachste seiner Art: bestehend aus einer einzigen Kammer. Das heißt: Ein Loch in der Gummiwand und es ist nur eine Frage der Zeit, bis alle Luft entwichen ist. Möglicherweise hatten die Flüchtlinge also Glück, als Oberst Ashraf al-Badri und seine Männer von der libyschen Marine ihr Boot aufbrachten:
"Nördlich von Tripolis war das. 114 Leute waren an Bord. Auch ein Säugling, drei Tage alt. Sie stammten alle aus verschiedenen afrikanischen Ländern. Aus Nigeria, Mali, dem Senegal."
Flüchtlinge, die von der libyschen Marine festgenommen wurden, warten am 5.10.2015  in einem Dock im Hafen der Hauptstadt Libyens.
Flüchtlinge, die von der libyschen Marine festgenommen wurden, warten in einem Dock im Hafen der Hauptstadt Libyens.© picture-alliance / dpa / EPA

Nachtsichtgeräte und hochseetüchtige Boote sind Mangelware

Das Schlauchboot passt in das traurige Bild der Marinestation. An einer Kaimauer hängt ein Zerstörer - mit Schlagseite. An der Pier gegenüber ein Küstenwachschiff. Der Rost lässt ahnen, dass der Kahn in ein Trockendock müsste. Am Rand des Hafenbeckens: die Brücke eines Kriegsschiffes - aus dem Wasser ragend. Das Schiff: versenkt.
Die Marinestation von Tripolis: ein Schiffsfriedhof! Wenn da nicht noch zwei Schnellboote mit blitz-blanken, PS-starken Außenbordmotoren lägen. Mit ihnen und zwei weiteren Schnellbooten sollen Oberst Ashraf al-Badri und 500 seiner Männer die libyschen Hoheitsgewässer des Mittelmeeres sichern.
"Dieses Boot ist so gebaut, dass es bis zu fünf Meilen aufs Meer hinaus kann. Aber wir fahren damit bis zu 30 oder 35 Meilen raus, um Leute zu bergen. Die Europäer benutzen solche Boote nicht für Aktionen auf hoher See. Da benutzen sie große Schiffe und Aufklärungsflugzeuge."
Der kleine, durchtrainierte Offizier mit Halbglatze wirkt frustriert. Er zählt auf, was der Marine in Tripolis fehlt: Nachtsichtgeräte, schusssichere Westen, schnellere und größere Boote. Al-Badri kennt das Mittelmeer, das Afrika und Europa voneinander trennt. Täglich versuchen Menschen es zu überqueren auf der Suche nach einem bescheidenen Leben in Freiheit und Frieden.
Die etwa 500 Marine-Soldaten, die für den Küstenstreifen rund um Tripolis zuständig sind, schaffen es kaum, die Glückssucher davon abzuhalten. 500 Mann mit vier Gummi-Booten!
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