Wo geht's denn hier zur Mitte?

Von Katja Kullmann · 10.12.2012
Gut ausgebildet, jung und ohne Job: In vielen europäischen Ländern ist die Jugendarbeitslosigkeit eines der großen Probleme. Anlass für die Schriftstellerin und Journalistin Katja Kullmann, über einen Begriff nachzudenken, der bei genaurer Betrachtung wie aus einer anderen Zeit stammt.
Ein Phantom geistert durchs Land. Es sitzt in Talkshows und wird in Leitartikeln beschworen. Sein Name lautet: "Mitte".

"Die Mitte ist die Stütze der Gesellschaft": So klingt ein oft gehörtes Politiker-Gebet. Allerdings weiß niemand, wer, was, wo das eigentlich ist: die "Mitte". Ist es der Uniprofessor? Ja, vermutlich. Die viel zitierte Krankenschwester? Aber sicher! Der Fensterputzer, der nur als Lohn-Aufstocker über die Runden kommt? Hm, schwierig. Und was ist mit der akademisch ausgebildeten, alleinerziehenden, prekär entlohnten, scheinselbstständigen Teilzeit-Grafikerin, die mit Ende 30 noch monatlich einen Scheck von den Eltern bekommt?

Wer nicht "Mitte" ist, zählt zu den "Asozialen": So hat es der Journalist Walter Wüllenweber jüngst in seinem gleichnamigen Sachbuch formuliert. Oben thront die Finanz-Elite, unten hängen die Hartz-IV-Empfänger – beide "ruinieren unser Land", so die These. Das ist das Unheimlichste am Phantom "Mitte": Man erkennt es nur, indem man erklärt, wer nicht dazu gehört.

Die "Mitte" ist ein zutiefst westdeutsches Konstrukt. Und wenn sie heute angerufen oder herbeigeflunkert wird, geht es immer auch um die Sehnsucht nach der alten Bundesrepublik. Eine "nivellierte Mittelstandsgesellschaft" war in der Nachkriegszeit das Ziel.

Es entstand nicht nur ein Wirtschaftswunder-, sondern auch ein Aufsteigerland. Die "Mitte", das war eine gesunde Kleinfamilie in einem aufgeräumten Häuschen. Da gab es Schrankwände und Schweinebraten, ab und an eine Beförderung, ein Sparkonto und ein Auto in der Garage. Arbeit wurde erträglich und berechenbar bezahlt. Arbeitgeber und Arbeitnehmer butterten gleichermaßen in die Vorsorge-Systeme hinein. Die Menschen konnten sich darauf verlassen – und ihren Kindern von Generation zu Generation bessere Ausbildungen finanzieren.

Nun stehen die Nachfahren jener legendären "Mitte" selbst in der Mitte ihres Lebens. Und so wie die letzten DDR-Kinder müssen auch die späten Alt-BRD-Kinder damit klar kommen, dass das Land ihrer Eltern nicht mehr existiert.
Einst stellten sie die erste große Praktikantenschwemme. Heute sind sie selbst in einem Alter, in dem sie Praktikanten beschäftigen – nur dass sie diesen kein Geld mehr bezahlen. Auch Studiengebühren und steigende Grundkosten machen es den Jüngeren schwer und schwerer. Verblüffend duldsam, klaglos, brav haben sie sich das Wort "Prekariat" beibringen lassen, als potenzielle neue Heimat.

Als Gerhard Schröder 1998 die Parole von der "Neuen Mitte" ausgab, erwähnte er ausdrücklich junge Existenzgründer und Freiberufler, die – so sagte er – "für ihre Träume die eigene wirtschaftliche Existenz einsetzen". Bald darauf läutete er eine fürchterliche Deregulierungsdekade ein. Leih- und Zeitarbeit fraßen sich ins Getriebe, die Sozialsysteme wurden privatisiert. Seither sind alle einig, dass es "so" nicht weitergehen kann. Und in dieser Einigkeit bewegt sich: nichts.

Wobei sich eben doch etwas tut – rings herum. Da ist die griechische Mitte, die sich gerade pulverisiert. Die spanische Mitte, die so gut wie abgehängt ist. Die israelische Mitte, die ihre Mieten kaum noch bezahlen kann. Die ägyptische Mitte, die endlich Mitbestimmung fordert. Die amerikanische Mitte, die sich als die "99 Prozent" bezeichnet. Die chinesische Mitte und die Mitte, die in Bangladesh und Indien erstarken wird. All diesen Menschen wird dasselbe erzählt wie uns: Dass der internationale Wettbewerb Schuld sei an ihren Existenzsorgen. Lange werden die Menschen diesem abgenudelten Song nicht mehr zuhören.

Das ist das gute an der "Mitte"-Krise, die sich längst um den Erdball zieht: Eines Tages wird die "Mitte" sich nicht mehr gegen sich selbst ausspielen lassen. Seit Jahren reden wir von der "Globalisierung" von oben. Höchste Zeit für eine Globalisierung, die von ein paar Etagen weiter unten ausgeht.

Katja Kullmann, geboren 1970, studierte Politologin, schreibt Bücher, Essays und Erzählungen, bevorzugt über die wundersame Welt der Arbeit. Zuletzt erschien ihr Sachbuch "Echtleben. Warum es heute so kompliziert ist, eine Haltung zu haben" (Eichborn, 2011), in dem sie sich mit den Erwerbsverhältnissen in der so genannten Kreativwirtschaft auseinandersetzt, außerdem die US-Reportage "Rasende Ruinen. Wie Detroit sich neu erfindet" (Suhrkamp, 2012). Kullmann schreibt für verschiedene Magazine und Zeitungen und lebt in Hamburg.
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Katja Kullmann© Patrick Ohligschläger