Wodka-Schach
Was kann man noch besser machen, wenn man Tschechow inszeniert, an dem sich doch ganze Regie-Generationen versucht haben? Aber so, wie Alvis Hermanis "Platonov" auf die Bühne bringt, mit großartigem Ensemble und ebenso großartigem Bühnenbild, ist Grund zum Staunen gegeben.
Wie voluminös dieser erste große Wurf des noch nicht 20jährigen Anton Pawlowitsch Tschechow tatsächlich ausgefallen war, das dokumentierte zuletzt Leander Haußmann als Regisseur und Intendant am Bochumer Schauspielhaus – er nahm sich gleich zwei Abende und siebeneinhalb Stunden Zeit für "Die Vaterlosen"; so hieß Tschechows Erstling zunächst, der Bruder des Dramatikers schlug den Namen des Haupt-Helden als besseren Titel vor: "Platonov". Eine Menge späterer Tschechow-Motive sind hier schon angelegt, das "opus primum" ist quasi auch schon das "opus magnum". Am Akademietheater der Wiener Burg verordnet der lettische Regisseur Alvis Hermanis Ensemble und Publikum nun immerhin auch noch fünf üppige Stunden mit dem desillusionierten Idealisten und ewigen Don Juan Platonov – aber das ist kaum eine Minute zuviel.
Und wer das Glück hat, schon etwas länger und immer noch gern ins Theater zu gehen, vielleicht sogar schon seit den frühen 70er Jahren, der kommt um eine sehr spezielle Erinnerung nicht herum an diesem Abend – über diesen "Platonov" in der Inszenierung von Alvis Hermanis ist etwa genau so zu staunen wie über Gorkis legendäre "Sommergäste", die Peter Stein vor etwa dreieinhalb Jahrzehnten an der guten alten Berliner "Schaubühne" durch original russische junge Import-Birken wandeln ließ. Natürlich ist diese Erinnerung schwerst verklärt, und ebenso natürlich haben sich inzwischen Generationen von Groß- und Kleinmeisterinnen und -meistern am forcierten Psycho- und Detail-Realismus abgemüht, wie ihn Stein damals erfunden zu haben schien. Was natürlich schon damals nicht stimmte … Zuletzt hatte der mittlerweile verstorbene Jürgen Gosch auch mit den 'Sommergästen' obendrein noch bewiesen, dass es für heutige Zeiten sogar viel besser geht als damals bei und mit Stein … Und trotzdem: In einem Moment wie diesem da gestern in Wien ist das Erstaunen wieder genau so sprachlos wie anno Schaubühne in Berlin. Fast fünf Stunden lang.
Die Bühnenbildnerin Monika Pormale hat großen Anteil daran. Der Detailwahn des russischen Gutshauses, das sie uns zeigt, ist schlicht atemberaubend: Holzdielen unten und oben im leicht schräg zum Publikum hin geöffneten Salon; rechts das Esszimmer, in dem fast immer irgendetwas stattfindet parallel zur Hauptaktion im Salon; dahinter, in die Bühnentiefe führend und hinter richtigen Fenstern und Türen wie zum Esszimmer, die Veranda; dahinter Garten und Wald. Speziell mit Fenstern und Türen, den Übergängen also zwischen den Teilen dieser Welt, wird gerade im Hinblick auf die immer ungeklärten Liebesverhältnisse rund um den etwas herunter gekommenen, aber immer noch irgendwie glanzvollen Dorfschullehrer Michail Platonow, so intensiv und bedeutungsvoll gespielt wie mit nichts sonst; ein Fensterklopfen hin, ein Türenschlagen zurück, selbst zwischen dem alten Dienstmädchen und ihrem vollkommenen randständigen Verehrer – und fertig ist noch eine unglückliche Liebesgeschichte. Von denen gibt’s ja sonst schon genug – um Platonov herum schwirren und schnurren und gurren, ob er's will oder nicht, neben der leidensfähigen Gattin ja noch die Generalswitwe mit Bergwerk und hoch verschuldetem Gut, die Frau von deren Sohn und eine Chemiestudentin, unerreichtes Sehnsuchtsobjekt des eigenen Schwagers. Eigentlich ist sogar das alte Hausmädchen in diesen Platonov verliebt … Alle wollen ihn, irgendwie, und alle will er, irgendwie, nicht; nimmt sie aber doch und zerstört so das komplette Gefüge dieser kleinen Gesellschaft - auf dem Weg in den Untergang ist er der Leitstern.
Diese Geschichten verschiedenster Lieben, aber auch (mindestens) zweier Vater-Sohn-Dramen und einiger kommerzieller Strippenziehereien um Bergwerk und Gut der Generalswitwe durchdringen einander ständig; und Alvis Hermanis erzählt sie (übrigens auch wie damals Stein die Geschichten der "Sommergäste"!) genau so: durcheinander, überlappend, als großes Gesellschaftspalaver, in dem naturgemäß niemand wartet auf das jeweilige Endstichwort der anderen und sich auch niemand ernstlich darum zu kümmern scheint, dass er oder sie gerade auf einer Theaterbühne spielt und also das Publikum eigentlich das Recht hat, jedes Wort zu verstehen. Nichts da – Hermanis schickt der Aufführung sogar ein kleines Motto voraus, ein Bekenntnis vom Band – es könne sein, liebes Publikum, sagt Hermanis, nachdem er sich höflich vorgestellt hat, dass in diesen fünf Stunden eine ganze Menge Text nicht zu verstehen sein werde; das liege aber nicht am Personal, sondern das sei Teil seines Konzepts. Nicht eben selten wird auch noch mit dem Rücken zum Saal gespielt und gesprochen – einer Welt ganz für sich sehen und hören, verborgen hinter einer nur durchsichtigen, aber immer vorhandenen vierten Wand, die Theaterspiel und Welt verbindlich trennt.
Zu verstehen (oder besser: zu hören) ist dann doch eine beträchtliche Menge, und es gehört zur hohen Handwerklichkeit des grandiosen Ensembles, dass die Übergänge zwischen hörbar und unverständlich so überaus genau kenntlich werden. Aber letztlich führt auch dieser Baustein der Hermanis-Methode hin zur Haupt-Provokation dieses Abends – immerhin hatten Generationen von Theatermenschen ziemlich viel Energie darauf verwandt, genau diese vierte Wand zu durchbrechen. Hermanis stellt sie einfach wieder hin – das ist so radikal und rabiat von vorvorvorgestern, dass es ein bisschen wie von morgen wirkt.
Weil sie vor lauter Methodik ziemlich unflexibel ist, stößt die Aufführung natürlich auch an Grenzen – mit dem dritten Akt etwa, der eben nicht im Salon der Generalin, sondern in Platonovs Dorfschule spielt, kommt sie überhaupt nicht zurecht, weil Pormales Bühne den Szenenwechsel nicht leisten kann und Abstraktion hier nie und nirgends möglich ist; und gegen Ende wirkt der Abend ein wenig zu komisch, ja fast albern in der angestrengten Behauptung, all die verzweifelten Emotionen eins-zu-ein übersetzen zu können. Aber alle Einwände verfliegen vor einer Szene, in der zwei Randfiguren im Ensemble um Martin Wuttke, Peter Simonischek und Martin Reinke, Dörte Lyssewski und Johanna Wokalek, Michael König und Fabian Krüger, in der also Hans-Dieter Knebel und Franz Josef Czensits Schach spielen: mit Wodkagläschen als Figuren.
Das ist die mit Abstand zauberhafteste Szene in fünf grandiosen Stunden.
Und wer das Glück hat, schon etwas länger und immer noch gern ins Theater zu gehen, vielleicht sogar schon seit den frühen 70er Jahren, der kommt um eine sehr spezielle Erinnerung nicht herum an diesem Abend – über diesen "Platonov" in der Inszenierung von Alvis Hermanis ist etwa genau so zu staunen wie über Gorkis legendäre "Sommergäste", die Peter Stein vor etwa dreieinhalb Jahrzehnten an der guten alten Berliner "Schaubühne" durch original russische junge Import-Birken wandeln ließ. Natürlich ist diese Erinnerung schwerst verklärt, und ebenso natürlich haben sich inzwischen Generationen von Groß- und Kleinmeisterinnen und -meistern am forcierten Psycho- und Detail-Realismus abgemüht, wie ihn Stein damals erfunden zu haben schien. Was natürlich schon damals nicht stimmte … Zuletzt hatte der mittlerweile verstorbene Jürgen Gosch auch mit den 'Sommergästen' obendrein noch bewiesen, dass es für heutige Zeiten sogar viel besser geht als damals bei und mit Stein … Und trotzdem: In einem Moment wie diesem da gestern in Wien ist das Erstaunen wieder genau so sprachlos wie anno Schaubühne in Berlin. Fast fünf Stunden lang.
Die Bühnenbildnerin Monika Pormale hat großen Anteil daran. Der Detailwahn des russischen Gutshauses, das sie uns zeigt, ist schlicht atemberaubend: Holzdielen unten und oben im leicht schräg zum Publikum hin geöffneten Salon; rechts das Esszimmer, in dem fast immer irgendetwas stattfindet parallel zur Hauptaktion im Salon; dahinter, in die Bühnentiefe führend und hinter richtigen Fenstern und Türen wie zum Esszimmer, die Veranda; dahinter Garten und Wald. Speziell mit Fenstern und Türen, den Übergängen also zwischen den Teilen dieser Welt, wird gerade im Hinblick auf die immer ungeklärten Liebesverhältnisse rund um den etwas herunter gekommenen, aber immer noch irgendwie glanzvollen Dorfschullehrer Michail Platonow, so intensiv und bedeutungsvoll gespielt wie mit nichts sonst; ein Fensterklopfen hin, ein Türenschlagen zurück, selbst zwischen dem alten Dienstmädchen und ihrem vollkommenen randständigen Verehrer – und fertig ist noch eine unglückliche Liebesgeschichte. Von denen gibt’s ja sonst schon genug – um Platonov herum schwirren und schnurren und gurren, ob er's will oder nicht, neben der leidensfähigen Gattin ja noch die Generalswitwe mit Bergwerk und hoch verschuldetem Gut, die Frau von deren Sohn und eine Chemiestudentin, unerreichtes Sehnsuchtsobjekt des eigenen Schwagers. Eigentlich ist sogar das alte Hausmädchen in diesen Platonov verliebt … Alle wollen ihn, irgendwie, und alle will er, irgendwie, nicht; nimmt sie aber doch und zerstört so das komplette Gefüge dieser kleinen Gesellschaft - auf dem Weg in den Untergang ist er der Leitstern.
Diese Geschichten verschiedenster Lieben, aber auch (mindestens) zweier Vater-Sohn-Dramen und einiger kommerzieller Strippenziehereien um Bergwerk und Gut der Generalswitwe durchdringen einander ständig; und Alvis Hermanis erzählt sie (übrigens auch wie damals Stein die Geschichten der "Sommergäste"!) genau so: durcheinander, überlappend, als großes Gesellschaftspalaver, in dem naturgemäß niemand wartet auf das jeweilige Endstichwort der anderen und sich auch niemand ernstlich darum zu kümmern scheint, dass er oder sie gerade auf einer Theaterbühne spielt und also das Publikum eigentlich das Recht hat, jedes Wort zu verstehen. Nichts da – Hermanis schickt der Aufführung sogar ein kleines Motto voraus, ein Bekenntnis vom Band – es könne sein, liebes Publikum, sagt Hermanis, nachdem er sich höflich vorgestellt hat, dass in diesen fünf Stunden eine ganze Menge Text nicht zu verstehen sein werde; das liege aber nicht am Personal, sondern das sei Teil seines Konzepts. Nicht eben selten wird auch noch mit dem Rücken zum Saal gespielt und gesprochen – einer Welt ganz für sich sehen und hören, verborgen hinter einer nur durchsichtigen, aber immer vorhandenen vierten Wand, die Theaterspiel und Welt verbindlich trennt.
Zu verstehen (oder besser: zu hören) ist dann doch eine beträchtliche Menge, und es gehört zur hohen Handwerklichkeit des grandiosen Ensembles, dass die Übergänge zwischen hörbar und unverständlich so überaus genau kenntlich werden. Aber letztlich führt auch dieser Baustein der Hermanis-Methode hin zur Haupt-Provokation dieses Abends – immerhin hatten Generationen von Theatermenschen ziemlich viel Energie darauf verwandt, genau diese vierte Wand zu durchbrechen. Hermanis stellt sie einfach wieder hin – das ist so radikal und rabiat von vorvorvorgestern, dass es ein bisschen wie von morgen wirkt.
Weil sie vor lauter Methodik ziemlich unflexibel ist, stößt die Aufführung natürlich auch an Grenzen – mit dem dritten Akt etwa, der eben nicht im Salon der Generalin, sondern in Platonovs Dorfschule spielt, kommt sie überhaupt nicht zurecht, weil Pormales Bühne den Szenenwechsel nicht leisten kann und Abstraktion hier nie und nirgends möglich ist; und gegen Ende wirkt der Abend ein wenig zu komisch, ja fast albern in der angestrengten Behauptung, all die verzweifelten Emotionen eins-zu-ein übersetzen zu können. Aber alle Einwände verfliegen vor einer Szene, in der zwei Randfiguren im Ensemble um Martin Wuttke, Peter Simonischek und Martin Reinke, Dörte Lyssewski und Johanna Wokalek, Michael König und Fabian Krüger, in der also Hans-Dieter Knebel und Franz Josef Czensits Schach spielen: mit Wodkagläschen als Figuren.
Das ist die mit Abstand zauberhafteste Szene in fünf grandiosen Stunden.